Mitten in einem Trümmerberg liegt ein riesiger Augapfel. Er leuchtet weiß, seine Pupille zieht sich zusammen, dann flackert etwas darin auf – Archivaufnahmen von atomaren Testexplosionen, die sich wie Nachbilder über die Iris legen. Die Szenerie drumherum erinnert zugleich an einen Katastrophenfilm und ein Archiv: gelbe Fässer mit Warnsymbol, demolierte Autos, ein Container, ein Bootswrack.
Der japanische Künstler Yukinori Yanagi, geboren 1959 in Fukuoka, zeigt mit "Icarus" seine erste große Einzelausstellung in Europa – und die hat es in sich. Es geht um Grenzen, Mythen, Nationalstolz, Ameisen, Godzilla, Sonnenlicht, Neonröhren, Container, Krieg, Erinnerung. Auf den rund 5000 Quadratmetern des Pirelli HangarBicocca entfaltet sich ein Werk, das seit über vier Jahrzehnten zwischen politischem Kommentar und bildlicher Poesie balanciert.
Zentrales Element der Schau ist ein begehbarer Containerkomplex. 16 rostige Boxen bilden einen labyrinthischen Tunnel, durch den man sich tastet wie durch ein überdimensioniertes Stromnetz. Lichtreflexe springen von Spiegel zu Spiegel, darauf stehen Zitate aus Yukio Mishimas Gedicht "Icarus" auf Italienisch. Und irgendwann sieht man ihn: den Himmel. Gespiegelt, vor einem, wie ein leuchtendes Quadrat in der Dunkelheit, als wäre er nicht echt.
Bei Yanagi ist die Sonne überall
"Icarus Container" heißt die Installation – benannt nach dem mythischen Himmelsstürmer, der zu nah an die Sonne geriet. Bei Yanagi ist diese überall: Sie zittert in Spiegeln, flackert als Videobild, verdampft Wasser auf einem Stahlkopf oder brennt sich als Cyanotypie in das Gedenken an Hiroshima ein. Licht ist hier kein Symbol für Erkenntnis, sondern ein Mittel der Überführung.
Auch Godzilla ist zurück. Der radioaktive Riesensaurier mit Kinovergangenheit blickt einem gleich zu Beginn der Ausstellung entgegen, mit flackerndem Lid und apokalyptischem Blick. Yanagi hat sein Auge für die Arbeit "Project God-zilla 2025 – The Revenant from El Mare Pacificum" auf eine große Kugel projiziert, die in dem Haufen aus Trümmern ruht. Die Assoziationen reichen von Fukushima bis zu "Mad Max". In regelmäßigen Abständen erscheint in der Pupille die ikonische Hiroshima-Pilzwolke: Godzilla, einst popkulturelles Strahlenwesen, wird hier zum erinnerungspolitischen Monument.
Das Spiel mit ikonischen Bildern zieht sich durch die Ausstellung. In "Article 9" verlegt Yanagi die japanische Verfassung auf den Boden – zumindest einen entscheidenden Teil davon. Rote Neonbuchstaben formen den gleichnamigen Friedensartikel, der seit 1946 das militärische Selbstverständnis Japans regeln soll. Die Zeichen flackern, einige erlöschen. Der Satzbau bleibt brüchig, die Idee ebenfalls. Yanagi verweist auf die Geschichte hinter dem Text: Erst geschrieben auf Englisch vom US-General MacArthur, dann ins Japanische übertragen, später wieder zurück – eine Demokratie in Übersetzung, sozusagen. Yanagi sagt: "In Japan haben die Menschen die Demokratie nicht selbst erkämpft. Sie kam wie ein Geschenk von oben." Auch deshalb ist Artikel 9 bis heute umstritten.
Ameisen kennen keine Nation
Was der Künstler zeigt, ist oft monumental, aber nie wirklich stabil. Seine Werke sind voller Risse, Verschiebungen, Kippmomente. In "The World Flag Ant Farm" bewegen sich tausende Ameisen durch Plexiglasboxen, in denen bunte Sandflaggen liegen. Röhrensysteme verbinden die Nationen. Die Insekten tragen die Körner von Land zu Land, lösen Grenzen auf, verschleppen Farben, stören Formen.
Am Ende bleibt wenig von der ursprünglichen Geometrie – eine Art Globalisierungsexperiment im Zeitraffer. "Ameisen kennen keine Ländergrenzen", sagt Yanagi. Die Krabbeltiere bauen sich ihren Weg durch die Idee der Nation einfach hindurch.
Yanagis Interesse an Grenzen ist biografisch unterfüttert. Er studierte in Tokyo und in Yale, lebte lange zwischen Japan und den USA, gründete Kunstorte auf vergessenen Inseln, darunter die Art Base Momoshima, wo er seit 2010 lebt. In der Zeit zwischen dem Fall der Berliner Mauer, dem Golfkrieg und dem Tod von Kaiser Hirohito entstand sein Interesse an politischen Symbolen, kollektiver Erinnerung und der Frage, was eigentlich bleibt, wenn Ideologien bröckeln.
Ein Denkmal für das Nichtgeschehene
In seinen frühen Arbeiten verbrannte er seine Studienwerke und ließ Ameisen durch die Asche laufen – es ging ihm schon damals ums Auflösen von Ordnungen. Yanagi arbeitet seither mit Insekten, Sand, Spiegeln, Neonlicht – und mit der Idee des Wanderns: geografisch, kulturell, gedanklich.
Inmitten der Ausstellung hängt eine Bombe. "Absolute Dud", so der Titel der Arbeit, ist eine originalgetreue Replik der Hiroshima-Bombe. Sie ist aus Eisen gefertigt und schwebt ein paar Meter über dem Boden. "Dud"ist der militärische Begriff für einen Blindgänger. Yanagi spielt hier mit einem historischen Detail: Ursprünglich sollte die Atombombe auf Kyoto abgeworfen werden – die Stadt wurde in letzter Minute von der Zielliste gestrichen. "Absolute Dud" erinnert an diesen beinahe stattgefundenen Einschlag, ein Denkmal für das Nichtgeschehene, sozusagen. Für eine Leerstelle im Gedächtnis.
Yanagis Ausstellung ist eine Erinnerung daran, wie durchlässig die Bilder der Macht sein können – und wie fragil die Konstrukte, die sie stützen. "Icarus" ist kein Abgesang, sondern eine tastende Kartografie unserer politischen Gegenwart. Sie zeigt, wie Geschichte im Bild weiterlebt, wie sich Grenzen verschieben – und wie aus Auflösung neue Formen entstehen.