Im Interview: Stephanie Steinkopf, Gewinnerin des Vattenfall Fotopreises 2012

Zwischen Biografie- und Oderbruch

Frau Steinkopf, was kann man in Bildern zeigen, was man nicht schreiben kann?
Mit der Kamera ist man immer näher dran an den Menschen, die Fotografie geht direkt ins Mark. Sie transportiert keine nackten Zahlen wie häufig der Journalismus, es geht um Emotionen und um viel Nähe. Wenn man ein Portrait mit einer Kamera macht, hat man das Gefühl, man schaut dem Menschen direkt in die Augen.

Sie waren vier Jahre in einer ostdeutschen Kleinregion und haben die Situation in Bildern eingefangen. „Manhatten - Straße der Jugend“ lautet ihre Fotoarbeit, mit der sie nun mit dem Vattenfall-Fotopreis ausgezeichnet wurden. Wie leben die Menschen dort im Oderbruch, 23 Jahre nach dem Mauerfall?
In dieser Region hat sich, ähnlich wie in anderen dörflichen Kleinstädten und Dörfern Ostdeutschlands, nahezu alles verändert. Damals gab es in der Region eine florierende Agrarwirtschaft und nahezu Vollbeschäftigung. Heute sind die meisten Bewohner seit über 15 Jahren arbeitslos. Die Häuser sind marode und heruntergewirtschaftet. Eine funktionierende Infrastruktur fehlt. Ich möchte aber betonen, dass soziale Armut nichts ostspezifisches ist. Sie zeigt sich nur in vielen Regionen dort in besonderem Maße. So sind im Oderbruch heute ganze Regionen abgeschieden. Der Inselcharakter dieser Region im Oderbruch ist markant.

Für was steht „Manhattan“?
„Manhattan“ nennen die Bewohner die zwei Plattenbauten am Rande des Dorfes. Sie ragen wie eine Skyline empor. Fast jeder Dorfbewohner wohnte zeitweise dort.

Das Manhatten New Yorks steht für den Aufstieg, für Wirtschaftlichkeit und Prosperität. In Brandenburg ist es Abbild eines Niedergangs. Inwiefern drücken sich Wünsche und Ängste in solch einer Betitelung seitens der Bewohner aus?
Die Bewohner sind dort vom Umbruch enttäuscht worden, sie haben beinah alles verloren. Zu DDR-Zeiten war das „Manhattan“ ein besonders beliebtes Wohngebiet, die Wohnungen wurden sogar verlost, weil sie so begehrt waren. Davon ist nichts mehr übrig geblieben. Heute steht ein Block in Manhattan ganz leer, im anderen Plattenbau sind von 40 Wohnungen noch 12 bewohnt. Wer kann, zieht von hier weg.

Auch Sie sind weggezogen, sie stammen selbst aus der Region. Wie schwer war es für Sie, zurückzukehren?
Zu Beginn war das natürlich schwierig, es ist mein Heimatdorf. Ich kenne die Region noch von früher, ich bin 1998 weggezogen. Dort hat sich seitdem alles verändert, es leben weniger junge Leute dort. Das alles zu sehen und zu verarbeiten, kostet Kraft. Viele unterschätzen so etwas.

War ihre Arbeit auch eine Art der Aufarbeitung für Sie, in ihrer Biografie?

Auch das, ich habe bei meinen Eltern während dieser Zeit gewohnt, das ist alles sehr nah. So konnte ich anfänglich maximal auch nur bis zu drei Stunden am Stück arbeiten, alles andere war mir einfach zu viel. In dieser Zeit habe ich aber lernen können dazu zu stehen, woher ich komme und wer ich bin.

Wie schwer was es für Sie, einen Zugang zu den Bewohnern zu finden?
Ich wollte die Bewohner natürlich erst einmal kennen lernen, obwohl ich aus der Region stamme. Wir mussten Grenzen testen und Vertrauen gewinnen. Eine fotografische Arbeit ist oft Beziehungsarbeit. Bei meiner Arbeit ist es deshalb wichtig, dass die Leute merken, dass ich mich für sie interessiere und sie nicht entlarven möchte. Darum sollten solche Bilder auch immer respektvoll sein, das merken die Bewohner auch, die Fotos sind sehr emotional und ehrlich, viele von ihnen sind selbst berührt. Natürlich gibt es Leute, denen diese Art der Kommunikation und Offenheit zu dicht ist. Das muss man dann aber auch akzeptieren.

Seit sie den Vattenfall-Fotopreis erhalten haben, interessieren sich die Medien für Sie und plötzlich auch für die Bewohner in der Region. Wie reagieren die Bewohner darauf, dass sie eine solche Aufmerksamkeit bekommen?
Im Großen und Ganzen nehmen es die Menschen dort gut auf. Anfänglich waren einige durchaus skeptisch, auch ich hatte Bedenken. Mittlerweile freuen sich aber viele, dass sie mal eine andere Art der Aufmerksamkeit erfahren. Mich freut es dann auch, wenn Bürger plötzlich auf mich zukommen und sagen: „Toll, ich fahre auch in die Ausstellung, vielleicht kommt auch mein Sohn mit“. Mit einem solchen Thema muss man immer sehr sensibel sein. Darum appelliere ich auch an Journalisten, behutsam mit einer solchen Thematik umzugehen.

Besteht nicht auch die Gefahr, dass man nach einer solchen Phase der gesteigerten Aufmerksamkeit in ein noch tieferes Loch fällt? An der Situation vor Ort wird sich vermutlich auch in Zukunft nichts ändern.
Vermutlich nicht, aber die Bewohner erwarten das auch nicht. Grundsätzlich befürworten die Bewohner eher, dass nun endlich mal etwas benannt wird, was für die Region generell ein Problem ist.

Frustriert sie das, dass sich in der Region trotz ihrer langjährigen Arbeit wenig ändern wird?
Nein, das frustriert mich nicht. Ich habe nicht den Anspruch, dass ich durch meine Arbeit die Gesellschaft verändern kann. Vielmehr möchte ich ein Problem ins Bewusstsein rufen. Es ist dann eher so, dass ich mich vor Frustrationen schütze, indem ich nichts erwarte. Natürlich erhoffe ich mir, dass entsprechende Impulse aufgrund meiner Arbeit von anderen ausgehen. Ich appelliere da an die Politik, in die Infrastruktur vor Ort zu investieren.

Ein Onkel ihres Vaters war selbst über Jahre hinweg Bürgermeister in der Region, des Dorfes Letschin. Wie haben Ihre Eltern und Verwandten darauf reagiert, als Sie plötzlich mit der Kamera auftauchten und Missstände in der unmittelbaren Umgebung aufzeigen wollten?
Ein Teil meiner Verwandtschaft war und ist zwiegespalten. Der Onkel meines Vaters war bis heute nicht in einer meiner Ausstellungen, das ist natürlich ein Konflikt, mit einer solchen Situation konfrontiert zu sein, denke ich. Auch meine Eltern haben erst mit der Ausstellung und dem Erfolg meiner Arbeit meine Arbeit schätzen gelernt. Am Anfang konnten sie die Reichweite meines Projekts noch gar nicht einschätzen, sie waren erst einmal froh, dass ich meine Schule und meine Arbeit mache. Ihnen war auch nicht bewusst, welche Arbeit dahinter steckt und dass diese Arbeit auch wirklich Arbeit bedeutet.

Sie sind erst sehr spät zur Fotografie gekommen. Sie hatten Musikethnologie, Lateinamerikanistik und Neuere Geschichte studiert, zugleich haben sie in der Kulturellen Bildung mit Jugendlichen gearbeitet. Auch andere Fotografen, wie Lewis Hine, der sich in den USA  Anfang des 20. Jahrhunderts mit ähnlichen gesellschaftlichen Missständen beschäftigt hat, waren Sozialforscher. Inwiefern kommt ihnen dieses Wissen in ihrer Arbeit als Fotografin zu Gute?
Ich glaube nicht, dass man ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert haben muss, um eine gute Fotografin zu sein. Auch bin ich als Fotografin nicht dafür da, um den Menschen zu helfen, ich fotografiere ihr Leben, ihre Situation, ihre Geschichte. Zugleich sind Lebenserfahrungen überaus wichtig, die ich auch in den Bildern ausdrücke. Wenn man viel gesehen und viel erlebt hat, hat man einen anderen Backround, einen anderen Zugang und Blick.

Sie leben heute in Berlin. Auch in Berlin gibt es Zonen der Abgeschiedenheit. Welche Unterschiede machen Sie zwischen Berlin und Brandenburg fest?
Der Inselcharakter in Regionen Brandenburgs ist ein ganz anderer als in Berlin. In den dörflichen Strukturen im Oderbruch gibt es kaum soziale Treffs, kaum Zugang zu Freizeitangeboten, abends geht dort kaum einer mehr auf die Straße. Auch der Zugang zu außerschulischen Bildungseinrichtungen ist begrenzt. Doch auch in Berlin gibt es abgehängte Schichten. Hier können sich Isolationen sogar verstärken, wenn man beispielsweise merkt, es geht einem schlecht und draußen tobt das wilde Leben. In Berlin kann sich jeder nur immer irgendwie beschäftigen; man kann sich in einer Masse von Leuten bewegen, die einen zumindest nicht kennt. Das geht im Oderbruch nicht.

Frau Steinkopf, welche Projekte planen Sie in der Zukunft?
Ich würde gerne zum Thema Intersexualität arbeiten. Mein Schwerpunkt wird dabei Deutschland bleiben, hier lebe ich, hier beobachte ich soziale und gesellschaftliche Missstände, die es wert sind, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Insgesamt möchte ich weiter inhaltlich arbeiten und Projekte mit Tiefe realisieren. Mir ist die sozialkritische Fotografie wichtig. Mir geht es unter anderem um Leute, die aus dem sozialen Netz fallen oder die so gut wie unsichtbar sind.