Brügge Zentral

Zwischen Kreuzgang und Obstgarten

Pawel Althamer kommt viel rum. Wenn auch in Gestalt seines aufblasbaren Doppelgängers. Nach Mailand hat es den Fesselballon gerade nach Brügge verschlagen. Kaum hatte der nackte Beobachter seine Position über den mittelalterlichen Zuckerbäckertürmen eingenommen, verwies man ihn pünktlich zur Eröffnung des Festivals „Brügge Zentral“ des Platzes. Eingepfercht unter das Holzdach des ehrwürdigen Sint-Jans-Hospitals begegnet der Koloss jetzt dem Besucher auf ungewöhnlicher Nasenhöhe.

Der Pole ist einer von 44 zentraleuropäischen Künstlern, die von Luc Tuymans zur Teilnahme an dem im Stadtraum weit verzweigten Parcours eingeladen wurden. Brügge, die Kulturhauptstadt Europas 2002, organisiert alle fünf Jahre ein großes Festival. Nicht nur die Schau „Van Eyck bis Dürer" wirft ihre Fühler diesmal Richtung Mittel- und Osteuropa. Für das zeitgenössische Pendant zu den alten Meistern läuft der Belgier, der bereits vor dem Mauerfall in seinen frühen Zwanzigern den Osten bereiste, zur Hochform auf.

„Ein Blick auf Zentraleuropa" nennt er bescheiden die Ausstellung im Rahmen des Festivals. Sein inzwischen achter Einsatz als Kurator, den er selbst – ganz zu Recht – für den besten hält. An fünf quer durch die Stadt verstreuten „Inseln der Bedeutung“, vom Concertgebouw über Arenthuis, Sint-Jan-Hospitaalmuseum und Stadshallen bis zum Grootseminarie, mischt er prominente Künstler wie Gerhard Richter, Neo Rauch oder Isa Genzken mit weniger bekannten Größen aus Polen, Tschechien oder Kroatien. Die Anwesenheit von Andy Warhol oder des legendären Verbrechensfotografen Weegee verdankt sich ihrem osteuropäischen Migrationshintergrund.

Was auf den ersten Blick beliebig erscheinen könnte, erschließt sich anhand der ausgewählten Arbeiten. Es dominieren Schlüsselthemen, die sich auch im Werk des Künstler-Kurators finden: Geschichte, Krieg, Trauma und immer wieder Gewalt. Unter diesen Vorzeichen lässt sich selbst das Werk von Takashi Murakami integrieren, das Tuymans in den Kontext des Atombombenabwurfs stellt.

Darüber hinaus hat er sich von der erstmals 1892 erschienene Novelle „Brügge. Tote Stadt“ von Georges Rodenbach inspirieren lassen. Bei dem belgischen Symbolisten kommt sie wie eine eingefrorene Untote daher, in der trauernde Witwer den Doppelgängerinnen ihrer gerade verstorbenen Frauen begegnen. Die ambivalent morbide Stimmung zieht sich auch durch Tuymans Auswahl wie ein roter Faden. In den denkmalgeschützten Räumen gelingt ihm zudem manch ein fruchtbarer Kontrast.

Die Begegnung der Hipster-Porträts seines Freundes Alex Katz mit der Skulptur der legendären „Toten Klasse“ des polnischen Tausendsassas Tadeusz Kantor etwa geht erstaunlich gut auf. Eine Schrecksekunde lang verschiebt sich die Wirklichkeitserfahrung, wenn die bewegungslos, mit starren Mienen in ihren Bänken sitzenden Schüler auf die schönen Maskengesichter von heute treffen. Einige Holzzwischenwände weiter triumphiert in der Tuchhalle des Belfried das Kabinett des Dr. Svankmajer. Der für seine surreal barocken Kurzfilme berühmte Tscheche Jan Svankmajer ist mit einem ganzen Raum sonderbarer Plastiken vertreten – eine schrille Masturbationsmaschine inklusive.

Im klassizistischen Arenthuis gibt es ein kleines Subfestival der magischen Außenseiter Bruno Schulz, Hans Bellmer und der in England lebenden US-Animationsfilmer Quay Brothers zu bestaunen, die mit ihren verwandten Fantasiewelten aus verstümmelten Puppenteilen und bedrohlichen Märchenszenerien aufs Schönste mit dem Zauber der seit Jahrhunderten künstlich beatmeten UNESCO-Stadt harmonieren.

Für das Finale sollte man sich die Bootsfahrt zum barocken Priesterseminar aufsparen, das für „Brugge Centraal“ ausnahmsweise zugänglich wird. Hier nehmen sogleich die apokalyptischen Exorzismen der polnischen Bildhauerin Alina Szapocznikow gefangen. 1965 hatte sie begonnen, Polyesterabdrücke ihres eigenen Körpers anzufertigen. Nachdem sie den Konzentrationslagern der Nazis entkommen war, studierte sie an der Ecole des Beaux-Arts in Paris und beschäftigte sich vor allem mit Auguste Rodin, dessen Formensprache sie aber bald hinter sich ließ. Mit den verzerrten Abdrücken versuchte sie die flüchtigen Momente des Lebens zu bewahren, die ganze Skala von Freude und Schmerz, Liebe und Tod. Unbehaglich auch ihre zerfließenden Lampenobjekte, die in einen menschlichen Mund münden.

Ähnlich eindrucksvoll die für die Ausstellung entstandene Toninstallation „Die Verkündigung“ des in England lebenden Tschechen Pavel Büchler. Hinter den im Kreuzgang in akkuraten Reihen aufgehängten Glocken lauern die Abgründe des Totalitarismus. Erst wenn man sich unter die gigantischen Ungetüme stellt, vernimmt man das lauter werdende Summen der sakral umfunktionierten Lautsprecher, die aus dem verlassenen Strahov-Stadion in Prag stammen. Hier fanden kommunistische Sportspektakel statt, die Jugendliche mit disziplinierenden Ansagen zu Darstellern einer allmächtigen Ideologie degradierten. Gleich mehrfach an verschiedenen Orten vertreten ist Miroslaw Balka. Im Obstgarten hinter dem Seminar, zwischen lässig dösenden Kühen, hat er eine sechzehn Meter hohe Konstruktion aufgestellt, ein riesiges Vogelnetz, das Maos brutale und selbstherrliche Anti-Spatzenkampagne wieder ins Gedächtnis ruft. 

Luc Tuymans: Blick auf Zentraleuropa, Parcours an verschiedenen Orten in Brügge, bis 23. Januar 2011