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11 Kunst-Filme, die sich im Oktober lohnen

Silhouette der Frühjahr/Sommer-Kollektion 2009
Foto: © 2019 Reiner Holzemer Film – RTBF – Aminata Productions

Filmstill aus "Margiela", Silhouette der Frühjahr/Sommer-Kollektion 2009

Die Filme im Oktober stellen grundsätzliche Fragen: Ist die Modeindustrie noch zu retten? Und sollte es in Europa Museen geben, die "das Erbe der Menschheit" aufbewahren?


Ist die Mode noch zu retten?

Als "glitzernenden Schaum auf einem Blutbad" beschreibt Bel Jacobs die Mode, wie man sie über lange Zeit wahrgenommen hat. Denn die mit ihr verbundene Industrie ist eine der umweltschädlichsten der Welt. Jacobs, früher Moderedakteurin, heute Aktivistin und Mitglied bei "Extinction Rebellion", bestätigt in der Arte-Dokumentation "Ist die Mode noch zu retten?" unangenehme Vorahnungen bezüglich Greenwashing in der Bekleidungs-Industrie und untersucht zusammen mit weiteren Brancheninsidern das, was von der mondänen Welt der Mode noch übrig ist. Und das ist nicht viel.

Vor zehn Jahren noch saß Harvey Weinstein in der ersten Reihe bei Dior, in einer Kulisse von abertausenden abgemähten Orchideen und Rosen. Es gibt kein passenderes Bild für den exklusiven, verschwenderischen Status, den sich die Mode einverleibt hatte. Heute ist dieses Auftreten mehr als passé, die inszenierte Abgrenzung zur Realität durchbrochen, die Mode nicht mehr unantastbar. Und so stellt sich die Frage im Jahr 2021: Ist Mode als Konzept heute noch zeitgemäß? In all ihren Facetten, den Herstellungsweisen, den Botschaften, die sie vermittelt? Oder hat sie sich einfach selbst abgeschafft?

Niemand braucht neue Kleidung, wenn die Welt untergeht, auch wenn Karl Lagerfeld 2010 die Rückkehr zur Natur noch als "unkultiviert" bezeichnete und zum "cool bleiben" aufforderte. Uncool waren eine viel zu lange Zeit auch soziale und politische Themen, die ganz einfach ignoriert wurden. Erst der Mord an George Floyd diente als Auslöser, rassistische Strukturen in der Branche aufzudecken, sich Themen wie Diversität und Inklusivität tatsächlich zu stellen, wie es Modekritiker Pierre Alexandre M’Pelé erklärt. Die Mode als toxisches Blutbad. Vielleicht musste sie, gepusht durch das Corona-Virus, in eine solche Notlage geraten, die Bel Jacobs als Chance begreift: "Alle konstruierten Gedankenmuster werden in Frage gestellt, dies ist eine Zeit mit einem enormen kreativen Potenzial."

"Ist die Mode noch zu retten?", Arte-Mediathek, bis 23. Oktober

"Ist die Mode noch zu retten?", Filmstill
Foto: Courtesy Arte

"Ist die Mode noch zu retten?", Filmstill


Der letzte Traum von Christo und Jeanne-Claude 

In den 1960ern geplant, im September 2021 umgesetzt: Mit ihrem posthumen Werk, der Verhüllung des Pariser Triumphbogens, sorgen Christo und Jeanne-Claude auch nach ihrem Tod für zwei unvergessliche Wochen in der französischen Hauptstadt. In der Arte-Dokumentation "Die Kunst des Verhüllens" wird deutlich: Ihre Kunst ist für den Moment gemacht. Es sind intime Szenen, die uns mit auf die Reise des besonderen Künstlerpaares nehmen.

Für ihre Projekte braucht es nicht nur Zeit, sondern vor allem den Willen, das scheinbar Unmögliche möglich zu machen. Wetterbedingungen, die ihre jahrelang geplanten Arbeiten gefährden, bürokratische Hürden und ein Künstlerpaar, das für Jahrzente auf Augenhöhe zusammenarbeitete: All das zeigt das Archivmaterial der Dokumentation.

Der Film ist klar kein "Christo-Porträt". Er ist eine "Christo und Jeanne-Claude"-Dokumentation, die zeigt, dass sie keinesfalls im Schatten ihres berühmten Mannes stand. Ganz im Gegenteil. Christos Zeichnungen und Collagen bilden die künstlerische Grundlage für die Verhüllungsprojekte, doch betonten beide stets die gemeinsame Arbeit an den Werken. Das Archivmaterial zeigt die Künstlerin selbstbewusst, emanzipiert, zielstrebig, rauchend. Auf die Frage, was sie entgegne, wenn sie jemand "Frau Christo" nenne, antwortet sie: "Ich bin nicht 'Frau Christo'. Ich bin Jeanne-Claude. Eine Künstlerin."

Der Dokumentarfilm begleitet die Eheleute in Momenten des Erfolgs und am Rande des Scheiterns. Meist ist es Jeanne-Claude, die vor der Kamera spricht, ihre Visionen teilt und von ihrem Mann die nötige Rückendeckung bekommt. Als das Canyon-Projekt in Colorado zu platzen droht, entgegnet Jeanne-Claude den kritischen Stimmen: "Wir glauben, dass die meisten Amerikaner aus dieser Gegend im Herzen so jung und waghalsig und neugierig sind, dass sie ein Kunstwerk sehen und erleben wollen, das für Freude und Schönheit sorgt. Einmal im Leben. Nach 14 Tagen ist alles vorbei und recycelt, aber diese herrliche Erinnerung wird im Kopf und in den Herzen bleiben. Sie werden es ihren Enkeln erzählen. 'Ich war da. Ich war dabei'. Die meisten wollen diese wundervolle Erfahrung teilen. Deswegen sind wir hier. Wir sind keine dieser New Yorker Idioten, die ihre Köpfe gegen die Wand schlagen ohne jede Hoffnung. Wir glauben an die Amerikaner“.  

Chronologisch führt der Film vom künstlerischen Werk Christos, der zu Beginn noch bewegliche Gegenstände und weibliche Modelle verhüllte, bis hin zum Kennenlernen und Zusammenarbeiten mit Jeanne-Claude Ende der 50er-Jahre, das auch seine Projekte größer werden ließ: von australischen Küsten-Wrappings über die legendäre Verhüllung des Berliner Reichstags bis zur aktuellen Verkleidung des Arc de Triomphe.

Wirklich private Momente der beiden gibt es selten zu sehen, doch ist es bei einem Künstlerehepaar, das so eng zusammenarbeitet wohl auch die Frage, wo und ob es überhaupt Grenzen zwischen dem künstlerischen Werk und einem Privatleben geben kann. Dennoch zeigen ihr Umgang miteinander und die geteilten Visionen: Diese Beziehung war so einzigartig und spektakulär, wie die Kunst, die sie gemeinsam geschaffen haben. Auch wenn die Verhüllungskunst von Christo und Jeanne-Claude von kritischen Stimmen vielleicht als "kitschig" bezeichnet werden könnte, schaffen es die beiden mit ihren durch die Freiheit der Kunst als Vision Utopisches zu erschaffen und Menschen zu begeistern.

Christo und Jeanne-Claude - Die Kunst des Verhüllens, Arte-Mediathek, bis 13. Dezember

Der verhüllte Triumphbogen in Paris
Foto: dpa

Der verhüllte Triumphbogen in Paris nach Plänen von Christo und Jeanne-Claude


Durch die Nacht mit Kreativen in Berlin und Paris 

Die Berliner Nacht beginnt "bei der Frau mit den Polka-Dots". In der neuesten Folge der Arte Serie "Durch die Nacht ..." mit Regisseur Milo Rau und dem scheidenden Intendanten der Berliner Festspiele Thomas Oberender treffen sich die beiden Protagonisten in der großen Yayoi-Kusama-Retrospektive im Gropius Bau (Raus Urteil: "Find' ich geil"). Zur Feier der wiederbelebten Kulturszene in Europa lässt Arte gleich zwei Kreativ-Pärchen auf die Metropolen los. Neben Oberender und Rau in Berlin, sind auch der Intendant des Odéon-Theaters Stéphane Braunschweig und die Schauspielerin Ariane Ascaride gleichzeitig in Paris unterwegs. Kommuniziert wird städteübergreifend über Smartphone.

Die Kamera begleitet die Kulturschaffenden unter anderem zu einer literarischen Liebeserklärung an die durch die Pandemie lahmgelegte Stadt Paris, ins Berliner Humboldt Forum, in die "Floating University" und die Deutsche Oper in ihrer Open-Air-Location auf dem Parkdeck und schließlich ins Jüdische Museum von Paris. In der vollgepackten Doppelnacht wird deutlich, dass alle Beteiligten nach der Rückkehr der Kultur lechzen, dass die Pandemie aber auch Wunden gerissen und alte Gewissheiten ins Wanken gebracht hat. 

"Durch die Nacht mit … Spezial Paris-Berlin", Arte-Mediathek, bis 13. Dezember

Thomas Oberender (links) und Milo Rau vor dem Gropius Bau in Berlin
Foto: ZDF / © avanti media Film- und Fernsehproduktion

Thomas Oberender (links) und Milo Rau vor dem Gropius Bau in Berlin


Auch Frauen bauen 

Wie viele Architektinnen können Sie spontan nennen? Oder noch ein bisschen schwerer: Wie viele Architektinnen außer Zaha Hadid können Sie spontan nennen? Obwohl Frauen inzwischen in den meisten künstlerischen Bereichen selbstverständlicher sichtbar sind, ist die Architektur noch immer zum großen Teil eine Männerdomäne. Der inflationär gebrauchte Begriff "Stararchitekt" scheint in der weiblichen Form (vielleicht mit Ausnahme der 2016 verstorbenen Zaha Hadid) überhaupt nicht zu existieren, wenn überhaupt, waren Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem für die Innenarchitektur zuständig. Der Dokumentarfilm "Frauen bauen" von Johanna Behre stellt Architektinnen vor, die seit Jahrzehnten innovative Entwürfe und Gebäude schaffen, aber oft unter dem Radar des Mainstreams arbeiten. 

So kommt unter anderem Regine Leibinger zu Wort, die mit ihrem Büro bis 2024 das höchste Gebäude Berlins baut. Helga Blocksdorf verwirklichte in Weimar einen Bau, der mit Birkenrinde verkleidet ist, während Anapuma Kundoo sich ganz der Wiederbelebung traditioneller indischer Handwerkskunst verschrieben hat. So bei ihrem "Wall-House", das sie für die Architektur-Biennale in Venedig 2012 maßstabgetreu nachbauen ließ.

Die Architektinnen reden über Innovationen in ihrer Disziplin, aber auch über Hürden auf dem Weg in den Beruf, gesellschaftliche Verantwortung und die Nachwirkungen des Geniekults.

"Frauen bauen", 3-Sat-Mediathek, bis September 2022

Die Architektin und Lehrbeauftragte an der TU Wien, Sabina Riß, vor dem Gebäudekomplex NEO Living in München
Foto: © ZDF/Susanne Erler

Die Architektin und Lehrbeauftragte an der TU Wien, Sabina Riß, vor dem Gebäudekomplex NEO Living in München 

 

Chantal Akermans letztes Meisterwerk 

Die belgische Künstlerin Chantal Akerman ist auch sechs Jahre nach ihrem Tod eine prägende Figur der Kunstszene und eine Inspiration für viele junge Künstlerinnen und Künstler. Ihr Werk dreht sich um ihre Identität als Frau, Filmemacherin und Tochter von polnischen Holocaust-Überlebenden, es war bestimmt vom Wechsel zwischen engen Räumen und weiten Landschaften und dem Interesse für Ursachen der Migration.

Akerman hat über 40 Kurz- und Langfilme umgesetzt, darunter "Jeanne Dielman" und "Eine Couch in New York" mit Juliette Binoche. Nach Abbruch des Studiums an der belgischen Filmhochschule ging Akerman nach Paris und studierte Theaterwissenschaften. In New York machte sie Bekanntschaft mit den Experimentalfilmern Michael Snow und Jonas Mekas.

Erst mit über 40 Jahren fand die Belgierin zur Videoinstallation. Kathy Halbreich, Anfang der 90er-Jahre Direktorin des Walker Art Center in Minneapolis, hatte Akerman damals dazu ermutigt und damit später zur Documenta 11 und in die Galerie Marian Goodman geführt. 2012 ehrte sie das Het Museum van Hedendaagse Kunst Antwerpen (MuHKA) in Antwerpen mit einer großen Retrospektive.

Akermans letzter Film "No Home Movie" (2015), der derzeit auf der Streaming-Plattform Mubi verfügbar ist, ist in gewisser Weise eine Rückkehr zum Beginn ihrer Arbeit. Ihr erster Kurzfilm spielte in der Küche ihrer Eltern, und auch ihr letztes Werk vor ihrem Tod führt sie in ihr Elternhaus zurück. Der düster doppeldeutig betitelte "No Home Movie" ist ein Porträt von Akermans Mutter, das sich teilweise in einer Brüsseler Küche, aber teilweise auch über einen Skype-Bildschirm entfaltet. Der eindringliche Film ist eine liebevolle Hommage an eine Unverwüstliche, aber auch ein Dokument von Heimatlosigkeit.

Chantal Akerman "No Home Movie", bei Mubi

Chantal Akerman "No Home Movie" (Filmstill), 2015
Foto: Courtesy Mubi

Chantal Akerman "No Home Movie" (Filmstill), 2015


Margiela - ein Modephantom spricht

"Ich bin vermutlich zu ernst für diese Welt", sagt die Stimme des legendären belgischen Modeschöpfers Martin Margiela im Porträt "Mythos der Mode" von 2020. Reiner Holzemer, der schon mit seinem Film von Dries van Noten zu überzeugen wusste, ist es gelungen, das sagenumwobene Phantom, das die Presse stets konsequent mied und Interviews oder Fotos verweigerte, vor die Kamera zu locken. Seinen Körper bekommt man bis auf die Hände zwar immer noch nicht zu Gesicht, aber dafür einen aus dem Off über seine Branche hochgradig kritisch reflektierenden Erzähler, einen veritablen Nonkonformisten, der es immer wieder schaffte, die wechselnden Anforderungen mit unerwarteten Ideen zu unterlaufen.

Modekritikerinnen, Wegbegleiter und Kollegen bereichern diese mit der Musik der belgischen Indie-Band dEUS unterlegte filmische Retrospektive um weitere Stimmen. Das Innenleben der über Jahrzehnte gesammelten Archivschachteln dient als roter Faden, bis zum Verkauf des Unternehmens Maison Martin Margiela an die Diesel-Gruppe, der zwar für eine Kapitalspritze sorgte, aber auch mit den einziehenden "Branding-Managern" den Verlust der Kontrolle über die kreativen Prozesse nach sich zog.

Die erwünschte Vermarktung im Internet und der steigende Zeitdruck des Modekalenders verdarben Margiela endgültig die Lust an der für ihn überlebenswichtigen "Überraschungsenergie". Er genieße heute seine Zurückgezogenheit, male und versuche sich an Skulpturen. Ob er in der Modewelt alles gesagt habe, fragt ihn Holzemer zum Schluss. Das lakonische, aber entschiedene "No" lässt auf ein Comeback des gar nicht so distanzierten Unsichtbaren hoffen.

"Martin Margiela - Mythos der Mode", ZDF-Mediathek, bis 22. Oktober

Szene aus dem Film "Martin Margiela - Mythos der Mode"
© 2019 Reiner Holzemer Film – RTBF – Aminata Productions

Szene aus dem Film "Martin Margiela - Mythos der Mode"


Poesie statt Western-Klischees

Mit "Meek’s Cutoff" (2010) bewegte sich die US-Regisseurin Kelly Reichardt auf den Spuren des Oregon Trail. In ihrem jüngsten Film "First Cow" widmet sie sich noch einmal Western-Mythen, in diesem Fall geht es vor allem um eine Männerfreundschaft, der – zu Zeiten von John Wayne undenkbar – Reichardt unterschwellig homoerotische Züge verleiht. Otis "Cookie" Figowitz (John Magaro) und King-Lu (Orion Lee) finden im Fort Tilliken, irgendwo in den Wäldern von Oregon, zusammen und gründen eine florierende Bäckerei.

Was die Abnehmer ihres "Ölgebäcks" nicht wissen: Regelmäßig wird nachts und klammheimlich die einzige Kuh der Gegend gemolken, die dem Grundbesitzer Chief Factor (Toby Jones) gehört. Zwar begeistern Cookies Backkünste auch Factor, doch die Melk-Aktionen des Freundespaars –die gutmütige Kuh lässt sie gewähren – könnten jederzeit auffliegen. Reichardts wunderbarer Film wirkt an der Oberfläche dokumentarisch und ist dennoch voller Poesie und Drama.

"First Cow", auf Mubi


I Am Divine - Geschichte einer Verwandlung

Als Glen Milstead den Regisseur John Waters trifft, ändert sich sein Leben radikal. Waters macht den 17-jährigen Jungen zur Drag-Queen "Divine", die Anfang der 70er-Jahre mit Filmen wie "Pink Flamingos" international bekannt wird. Die Dokumentation von 2013 zeigt, wie Person und Bühnenfigur mit der Zeit immer mehr verschmelzen - und wie die flamboyante furchtlose Divine dem schüchternen gemobbten Jungen aus einer konservativen Familie Superkräfte verleiht. "Body Posivity" und fluide Geschlechterkonzepte sind keine Erfindung der Gegenwart. Es schadet nicht, sich mit Filmen wie diesem ab und zu daran zu erinnern.

Die Dokumentation zeigt neben den saftigen Anekdoten jedoch auch die dunkleren Seiten der Geschichte. Divines frühen Tod 1988 natürlich, und den Druck, als Performancekünstlerin ständig ein Spektakel sein zu müssen.  

"I Am Divine", Arte Mediathek, bis 30. Januar 2020

"I Am Divine", verfügbar in der Arte Mediathek
Foto: Arte

"I Am Divine", verfügbar in der Arte Mediathek


Durch Graz mit dem Steirischen Herbst 

Das Festival Steirischer Herbst in Graz fragt sich in diesem Jahr, wie viel Pop und Zugänglichkeit man der Kunst zumuten kann, ohne ihr die Komplexität zu nehmen (lesen Sie unsere Rezension hier). Doch auch wer es in diesem Jahr nicht in die Steiermark schafft, kann sich ein wenig Grazer Entdeckergeist in Videoform nach Hause holen. In der Rubrik "Lagebericht" lässt das Festival Kulturschaffende als Reporterinnen und Reporter auf die Stadt los, um ihre eigenen Beobachtungen und Begegnungen zu dokumentieren.

In einer Folge besucht beispielsweise die Autorin und Satirikerin Stefanie Sargnagel das Volksfest Aufsteirern, das für sie eine Quelle von Glück und Brauchtum und eine hervorragende Entschuldigung ist, sich bereits morgens zu betrinken. In den weiteren Episoden wirbeln unter anderem der Künster Lars "Jesus" Cuzner und die Moderatorin Pia Hierzegger durch Graz. 

"Lagebericht", Steirischer Herbst online

 

Daniel Josefsohn und die Suche nach dem ganz Großen

Wenn man einmal angefangen hat zu skaten, sieht man Städte nicht mehr wie vorher. Man sieht Möglichkeiten. Für Skater sind Absperrungen kein Grund. Durch das Skateboard kann man etwas Gebautes plötzlich fühlen. Und es ist etwas ganz anderes, ob man sich das theoretisch genau vorstellen kann, oder ob man sich wirklich von Betonrampen in die Luft schießt.

Daniel Josefsohn hat mal auf Sylt eine ziemlich hohe Hecke überklettert, um vor der riesigen ehemaligen Villa von Hermann Göring eine israelische Flagge zu hissen. Das Bild von 2007 heißt "More Jewish Settlements on the Sylt Strip" und ist eine seiner besten Arbeiten, obwohl gar keine Menschen darauf zu sehen sind und Josefsohn bekannt dafür war, wie er Menschen fotografierte, vielleicht, weil er sich mit ihnen noch besser verkanten und an ihnen entlangschrammen konnte als an Architektur.

Der Film "DJ Punk" über den 2016 verstorbenen Fotografen Josefsohn ist zurückhaltend und zutreffend. Im Ausdruck der Weggefährten, die darüber sprechen, was es bedeutete, mit ihm professionell oder privat oder beides zu tun zu haben, spiegelt sich noch das radikal Begeisterte, das Anstrengende, Nervtötende, tausendprozent Liebenswerte. Den Chefredakteur des "Zeit-Magazins", Christoph Amend, nagelte er in höchster Zeitnot fest, sich jetzt erst mal hinzusetzen um neue, wichtige, große Projekte zu besprechen. Julia Hummers Schauspielkarriere begann als Assistentin von Daniel Josefsohn, sie ist auf vielen seiner besten Fotos zu sehen. Und ihre etwas verspult wirkenden Erinnerungen daran hinterlassen am Ende den präzisesten und schönsten Eindruck davon, was es bedeutete, mit Josefsohn Fotos zu machen. Sie verstand das bestimmt so gut, weil sie Skaterin war.

Fotograf wurde er, nachdem er sich beim Skaten an beiden Beinen verletzt hatte, innerhalb kürzester Zeit ein intensives Drogenproblem bekam, das er in einer Bank mit einer Gaspistole lösen wollte und sich nach der Haft eine Nikon F301 zulegte. Beim Stadtmagazin "Prinz" in Hamburg teilte er sich Aufnahmen aus dem Nachtleben mit einem anderen Fotografen. Wolfgang Tillmans erinnert sich in Lutz Pehnerts Film sehr freundlich an die ansteckende energetische Neugier seines anarchischen Kollegen.

Einerseits werden die Anekdoten von Weggefährten – der Schauspieler Alexander Scheer, die Kuratorin Nadine Barth, der Comedian Oliver Polak zählen dazu – im Verlauf von "DJ Punk" immer lustiger, andererseits wird in der filmischen Montage sein Werk immer besser als Gesamtes begreifbar, obwohl es nie besonders stringent wirkte: Werbung, Mode, Editorial und freien Arbeiten,  so verschieden voneinander wie die MTV-Werbung von 1994 (auch die Frau, durch die als "Miststück" die Plakatkampagne ikonisch wurde, spricht über ihn) und der Foto-Stunt vor der Göringvilla. Daniel Josefsohn lehnte es außerdem ab, sich auf so etwas wie einen Stil festzulegen.

Im Jahr 2012 fiel er nachts plötzlich aus dem Bett. Sein Schlaganfall änderte alles, aber Josefsohn fotografierte weiter. Mit seiner Lebensgefährtin Karin Müller verfasste er für das "Zeit-Magazin" kurze Texte zu neuen und älteren Fotografien. Auf einem Bild ist ein Brautstrauß vor schwarzem Nachthimmel im Flug zu sehen. Er beschreibt, dass Fotografie genau das sei: zu wissen, dass man den jetzt fangen will. Sich entschlossen reinzustürzen, ist auch Stil.

Fast jeder seiner Weggefährten sagt in diesem Filmproträt, etwas von ihm gelernt zu haben. Christoph Amend erzählt, wie anstrengend die fordernde Art von Daniel Josefsohn sein konnte, aber er habe von ihm mitgenommen, sicherheitshalber mit viel Nachdruck immer das Größte zu verlangen. Denn klein werden die Dinge ganz von selbst.

DJ Punk - Der Fotograf Daniel Josefsohn, Arte-Mediathek, bis 6. Oktober

"DJ Punk - Der Fotograf Daniel Josefsohn", Filmstill
Foto: Arte

"DJ Punk - Der Fotograf Daniel Josefsohn", Filmstill

 

Das Ende der Museen, wie wir sie kennen?

Seit Mitte September sind im Berliner Humboldt Forum die ersten Ausstellungen der ethnologischen Museen zu sehen. Doch die Freude ist eher verhalten. Denn nach jahrelangen Diskussionen und Protesten von postkolonialen Initiativen werden die Sammlungen von Artefakten aus aller Welt nicht mehr unbedingt als Schatzkammern der Menschheit, sondern vielmehr als Beuteareale für Raubkunst gesehen. Was die Auseinandersetzung mit ihrem kolonialen Erbe für europäische Museen bedeutet, untersucht der Dokumentarfilm "Alles nur geklaut?" von Janine Renner. Brauchen wir überhaupt noch Universalmuseen, wenn sich inzwischen die Sichtweise durchsetzt, dass diese nicht nur Kulturerbe bewahren, sondern auch einen europäischen Überlegenheitsanspruch untermauern sollten und eng mit den Verbrechen des Kolonialismus verbunden sind?

In dem Film wird ziemlich schonungslos dargelegt, was aus einer konsequenten Weiterverfolgung der ersten zögerlichen Restitutionsversprechen der westlichen Nationen, darunter auch Deutschland bei den Benin-Bronzen, folgen könnte. Müsste als nächstes die Nofretete zurück nach Ägypten? Der Berliner Pergamonaltar in die heutige Türkei? Für die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, eine der führenden Stimmen der Rückgabedebatte, wäre dies keine Horrovorstellung, sondern vielmehr ein Anzeichen für eine neue Zeit der Verständigung und der Anerkennung von Unrecht. Viele Museumsleute argumentieren jedoch mit der Rechtslage zum Zeitpunkt der Ankäufe von Objekten und plädieren für den Erhalt von Museumsbeständen. Unter anderem kommen im Film auch Hermann Parzinger, Direktor der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, und Julien Volper vom Königlichen Museum für Zentralafrika im belgischen Tervuren zu Wort. 

Der Film legt dar, wie komplex die Diskussion ist, in der juristische und ethische Argumente immer wieder gegeneinander ausgespielt werden. Auch Protagonistinnen und Protagonisten der Herkunftsgesellschaften legen ihre Sichtweise zur Restitutionsdebatte dar. Denn das Wissen, das in Europa durch die abertausenden Artefakte zugänglich ist, fehlt in den Ländern, aus denen die Kunst eigentlich stammt. 

"Alles nur geklaut?", 3-Sat-Mediathek, bis 4. September 2022

Das Königliche Museum für Zentralafrika (KMZA) im belgischen Tervuren
Foto: ZDF/kobalt production

Das Königliche Museum für Zentralafrika (KMZA) im belgischen Tervuren