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11 Kunst-Filme, die jetzt lohnen

Unsere Filme der Woche stellen sich den Dämonen großer Künstlerinnen und huldigen einer Ikone der europäischen Filmgeschichte - außerdem lernen wir eine Schachkönigin jenseits von Netflix kennen


Die Königin des Königsspiels 

Die Netflix-Serie "Das Damengambit" hat weltweit einen wahren Schach-Hype ausgelöst - ist aber leider fiktiv, denn ein weibliches Schachwunderkind aus den USA, das reihenweise die Großmeister abzockt, hat es bisher nicht gegeben. Dafür aber eine andere wahre Schachgeschichte, die 2016 von Disney verfilmt wurde und die deutlich weniger Aufmerksamkeit als das "Damengambit" bekommen hat - obwohl das Werk alles andere als eine Underground-Produktion ist.

In "Queen of Katwe" geht es um Phiona Mutesi (geboren 1996), die in einem Slum am Rande der ugandischen Hauptstadt Kampala aufwuchs und durch Zufall einen Schachlehrer kennenlernte. In kürzester Zeit wurde die junge Frau zur besten Spielerin ihres Heimatlandes und nahm an mehreren Schacholympiaden teil. Heute trägt sie den Titel des "Candidate Master" und will nach eigenen Angaben noch mehr - Großmeisterin werden. Der Film "Queen of Katwe" von Regisseurin Mira Nair basiert auf einem Buch des Sportjournalisten Tim Crothers und kommt ganz disneykonform nicht ohne Sozialkitsch und Erbauungssprüche aus. Aber er erzählt auch davon, dass Schach mitnichten ein Spiel der Weißen ist, wie es in der Popkultur und auf den Turnieren der Profis oft wirkt. Und er zeigt eindrücklich, dass die intensive Beschäftigung mit den Figürchen auf dem Brett ein Leben nachhaltig verändern kann.

Wer neben der Disney-Version auch die echte Schachspielerin kennenlernen will, kann zusätzlich den dokumentarischen Kurzfilm "Queen of Katwe - A Short Documentary About Phiona Mutesi" bei Youtube anschauen.

"Queen of Katwe", bei Disney+ 


Natural Born Killers in der Alpenidylle

Philip Grönings Film über ein Zwillingspaar, das 48 gemeinsame Stunden in einer Voralpenlandschaft verbringt ist ein schwieriger Fall ist. Schwierig heißt aber nicht schlecht. "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" spaltete auf der Berlinale 2018 jedenfalls die Gemüter. Wohl auch deshalb, weil Gröning sich nicht um Psychologie oder eine kohärente Erzählung schert.

Es ist Sommer. Eine Wiese, ein Kornfeld, die Alpen im Hintergrund. Windräder drehen sich, an einer gewundenen Landstraße steht eine Tankstelle, bei der man sich Bier holen kann. Robert hilft seiner Zwillingsschwester Elena beim Lernen fürs Abitur, Fach Philosophie. Die beiden reden über Augustinus, Brentano und Heidegger, vor allem diskutieren die beiden über die Beschaffenheit der Zeit. Etwa darüber, dass man die Vergangenheit nicht zurückholen und die Zukunft nicht herbeischnipsen kann. Dass man nur die Gegenwart hat, um Nutzen daraus zu ziehen. 

Roberts und Elenas Beziehung ist symbiotisch, vielleicht inzestuös. Sie albern herum, sie schubsen und ohrfeigen sich. Sie wetten miteinander. Elenas Vater (den man nie sieht) hat ihr ein Auto zum Abi versprochen. Das Auto würde Robert kriegen, wenn Elena es nicht schafft, in den nächsten Stunden "mit irgendeinem zu vögeln". Wenn sie nicht im Gras liegen und philosophieren oder in einem Waldsee schwimmen, stiefeln die Geschwister zur Tankstelle. Ein banaler und zugleich seltsamer Ort. Im Hinterzimmer, an einem Türrahmen, sind Elena und Roberts Körpergrößen über die Jahre angezeichnet worden, dazu sind Kinderfotos angepinnt. Doch die Tanke kann nicht ihr Elternhaus sein. Ein Tankstellenmitarbeiter, wohl Mitte 20, heißt Adolf, der andere, ältere, trägt den Namen Erich. Adolf will keinen Sex mit Elena, Erich auch nicht. Adolf, Erich: die historischen Referenzen sind unüberhörbar.

Die Tankstelle mit ihrem Mini-Shop – Wasserpistolen im Sortiment, eine echte Waffe in der Geldschublade – ist auch der Ort, an dem sich die Zwillinge sich im surrealen Schnelltempo radikalisieren. Im Verlauf der 174 Filmminuten verwandeln sich Robert und Elena zu "Natural Born Killers". Wie in "Die Frau des Polizisten" (Jurypreis in Venedig 2013) erzählt Gröning von eruptiver Gewalt, ohne das monströse Verhalten der Figuren erklärbar zu machen.

Wenn Elena und Robert realistische Figuren wären, würde man ihnen aber schon, neben der Lektüre von "Sein und Zeit", eine Auseinandersetzung mit Martin Heideggers Nähe zum Nationalsozialismus empfehlen. Und mehr Beschäftigung mit jüngerer deutscher Geschichte. Doch Elena und Robert sind Chiffren, zumindest drehbuchseits. Dank der sensationellen Akteure Julia Zange und Josef Mattes werden sie zu Figuren aus Fleisch und Blut. Die Paradoxien des Films sind zum Verrücktwerden. "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" ist ein konzeptionelles Wagnis.

"Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot", Arte-Mediathek, bis 26. März

© 2017 Philip Gröning
© 2017 Philip Gröning
Josef Mattes und Julia Zange in Philip Grönings "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot".

 

Digitale Reise nach China

Bis Samstag, 27. Februar, findet zum achten Mal das chinesische Filmfestival "拆 Chai" statt, das als Kooperation zwischen der Cinémathèque Leipzig und dem dortigen Konfuzius-Institut organisiert wird. Pandemiebedingt findet in diesem Jahr erstmals das komplette Programm digital statt und kann deutschlandweit gestreamt werden.

Die acht ausgewählten Filme beleuchten das chinesische Leben vor, während und nach der großen Kulturrevolution. Gezeigt werden unter anderem die beiden Dokumentationen "Beethoven in Beijing" und "In Character", als auch die Deutschland Premiere des Dramas "Changfeng Town". Darüber hinaus gibt es ein Kurzfilmprogramm und digitale Fragerunden mit Filmemachern und Filmemacherinnen. 

Alle Filme werden in Originalsprache mit englischen Untertiteln gezeigt. Einzeltickets können für 4,50 pro Film erworben werden, oder alternativ ein Festivalpass mit Zugang zu allen Filmen für 15,00 Euro.

CHAI. Chinesisches Filmfestival Leipzig, auf Viemo, bis 27. Februar

"In Character", Filmstill
Foto: Cnex Studio

"In Character", Filmstill

 

Let's Talk About Sex

"Ich hatte gute Vorbilder in meiner Jugend, was das Thema Sexualität angeht." Dieser Aussage stimmten gerade mal 11 Prozent der Teilnehmenden einer anonymen Telegram-Umfrage zu. Ganze 89 Prozent der Zuschauenden der feministischen Drag-Performance "Fuck me today kill me tomorrow", initiiert von Taiina Grünzing, aka Maria Nikita Moschus, waren beim Thema Aufklärung also auf sich allein gestellt.

Wie kann es sein, dass im 21. Jahrhundert immer noch nicht ausreichend über Sexualität und den respektvollen Umgang damit gesprochen wird? Welche Gefahren birgt dieses Schweigen in sich? In ihrer Performance setzt sich die Künstlerin mit Stereotypen und Tabus der Sexualität auseinander.

"Ich habe diese Rolle so lange gespielt, dass ich ohne sie gar nicht mehr weiß, wer ich bin ", sagt die Protagonistin während der Performance. Denn es herrsche ein stiller Konsens in heteronormativen Beziehungen: Frauen stellen ihre eigenen Bedürfnisse hinter die der Männer an, können ihre Wünsche teilweise nicht einmal formulieren und ertragen Scham und Schuldgefühle in Verbindung mit Sex. Moschus stellt in ihrer Performance fubdamentale Fragen: Können wir uns Sex und Lust ohne Gewalt überhaupt vorstellen? Gibt es Konsens im Patriarchat?

Maria Nikita Moschus "Fuck me Today kill me tomorrow", in Zusammenarbeit mit Werkstattmacher e.V. und Lofft - Das Theater

Maria Nikita Moschus in "Fuck me today kill me tomorrow"
Foto: Luisa Keintzel

Maria Nikita Moschus in "Fuck me today kill me tomorrow"

 

Die belarussische Kulturszene kämpft gegen den Diktator

Heimliche Konzerte eines freien Chors, Protestgemälde und Straßen-Performances: Die Proteste gegen den amtierenden Diktator Alexander Lukaschenko in Belarus werden auch von der dortigen Kulturszene getragen und befeuert. Die Dokumentation "Mit Kunst gegen Lukaschenko" besucht einige der Akteurinnen und Akteure der Demokratiebewegung und fragt sie nach ihren Zielen und Wünschen.

Der Film verdeutlicht auch, dass das brutale Vorgehen der Regierung gegen die Demonstrierenden und Oppositionspolitikerinnen Wirkung zeit. Viele trauen sich nicht mehr auf die Straße oder wollen es nicht riskieren, Mitstreiter durch Verhaftungen zu verlieren. Aus den gezeigten Interviews spricht jedoch auch das tiefe Bedürfnis in der Kulturszene nach einem echten Wandel, der über die Absetzung des derzeitigen Herrschers hinausgeht. "Lukaschenko kann jederzeit sterben", sagt ein junger Aktivist. "Das Wichtigste ist, dass die Leute sich ändern."  

"Mit Kunst gegen Lukaschenko", ZDF-Mediathek, bis 20. Februar 2022

Oppositionsproteste in Minsk im Herbst 2020
Foto: dpa

Oppositionsproteste in Minsk im Herbst 2020


Noch mehr Videokunst aus der Stoschek Collection 

Schon seit einigen Monaten zeigt die Sammlerin Julia Stoschek einen Großteil ihres Bestandes an Werken online - ein Wochenend-füllendes Angebot an Klassikern und Neuentdeckungen der Videokunst. Nun kommen noch einmal zahlreiche Arbeiten von jungen Künstlerinnen und Künstlern hinzu, die in Kooperation mit der Londoner Kunstplattform Daata entstanden sind. Die meisten der Filme und Audioarbeiten sind so kurz, das man sie als Kunsthäppchen in den digitalen Alltag integrieren kann. Tracey Emin liest Gedichte vor, David Blandy lässt einen verpixelten Avatar mit schlechter Körperhaltung durch die Hintergründe von Caspar-David-Friedrich-Gemälden schlurfen.

Ein Großteil der Arbeiten handelt von der Eroberung digitaler Räume durch die Kunst und nutzt die Strategie der visuellen Überforderung, wie sie uns auch in den sozialen Medien begegnet. Zu empfehlen sind unter anderem die surreal animierten Slapstick-Kammerstücke von Takeshi Murata. Und wer mal eine Bilderpause braucht, kann nur die Tonspur einer Performance von Lina Lapelytè, der Gewinnerin des Goldenen Löwen bei der Venedig-Biennale 2019, hören. 

"JSC x Daata", Julia Stoschek Collection Mediathek

Rindon Johnson "I First you (11/11)", Filmstill, 2018
Foto: Courtesy Rindon Johnson und Daata

Rindon Johnson "I First you (11/11)", Filmstill, 2018

 

Die Dämonen der Amy Winehouse

Jimi Hendrix, Jim Morrison, Kurt Cobain und Jean-Michel Basquiat: sie alle vereint ihr früher Tod mit nur 27 Jahren. 2011 erlangte der "Club 27" erneut traurige Bekanntheit, als ihm die britische Sängerin Amy Winehouse in Folge einer schweren Alkoholvergiftung, beitreten musste.

Mit ihrem Tod am 23. Juli 2011 ging ein exzessives, tragisches Leben zu Ende. "The Diva and her demons" titelte 2007 der "Rolling Sone" auf dem Cover. Mit dem Erfolg ihrer Soul-Alben wurde sie von Paparazzi regelrecht gejagt, jeder Absturz wurde publik, die Öffentlichkeit weidete sich an ihren Kämpfen und Beziehungen.

Der Regisseur Asif Kapadia hat Amy Winehouse nie persönlich kennengelernt, sie nie auf einem Konzert erlebt. Dennoch veröffentlichte er 2015 eine einfühlsame biografische Dokumentation der Künstlerin, die den Fokus auf ihr musikalisches Können legt. Dabei verwendete er Konzertmitschnitte, Interviews und private Notizbücher und sichtete unveröffentlichte Aufnahmen aus der Presse und dem Familienbestand. "AmyThe Girl behind the name", lautet der passend gewählte Titel, denn das Publikum kann sehen, was diese Frau jenseits der Schlagzeilen und Skandale war.

"AmyThe Girl behind the name", auf Mubi

Die Musikerin Amy Winehouse
Foto: ©Mubi

Die Musikerin Amy Winehouse


Ein Jahr nach Hanau 

Am vergangenen Samstag hat sich der rechtsextremistische Terroranschlag von Hanau zum ersten Mal gejährt. Dass die Namen der Opfer - Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov - nicht vergessen sind, liegt am unermüdlichen Engagement von Angehörigen, Freunden und Anti-Rassismus-Initiativen. Doch auch ein Jahr nachdem ein polizeibekannter Rechtsextremer neun junge Menschen mit Migrationsgeschichte und danach seine Mutter und sich selbst tötete, sind viele Fragen offen. Und viele Betroffene fragen sich, ob sich überhaupt etwas verändert hat.

Diesem Thema gehen gleich mehrere Dokumentationen nach, die derzeit in den Mediatheken verfügbar sind. Der Film "Hanau - eine Nacht und ihre Folgen" rekonstruiert die Taten und zeigt auf, wie die Angehörigen noch immer auf Antworten zu Ungereimtheiten warten - beispielsweise, warum der Notruf in Hanau in der Tatnacht nicht erreichbar war und wieso der Notausgang der Bar versperrt war, die zum Tatort wurde. Die Dokumentation "Und jetzt - Was Hanau verändert hat" zeigt unter anderem, wie der Anschlag auch die Kunst- und Kulturszene aufgewühlt hat und welche Initiativen gegen Rassismus seitdem entstanden sind - oder nun endlich die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen.

"Hanau - eine Nacht und ihre Folgen", ARD-Mediathek, bis 25. Februar 2022

"Und jetzt- Was Hanau verändert hat", ARD-Mediathek, bis 18. Februar 2022 

Ein Wandgemälde unter der Friedensbrücke in Frankfurt am Main erinnert an die Opfer des rechtsextremen Terroranschlags von Hanau
Foto: dpa

Ein Wandgemälde unter der Friedensbrücke in Frankfurt am Main erinnert an die Opfer des rechtsextremen Terroranschlags von Hanau


Die machtvolle, dunkle Aura der Nico

Nico-Fans loben ihre Schönheit, ihre Musik, ihre Stimme, ihre Düsternis. Die 1938 in Köln in die Kölsch-Dynastie hinein geborene, zum Modeln nach Berlin aufgebrochene und dann in New York als Nico unsterblich gewordene Christa Päffgen lässt sich immer wieder bestens in jeder Ära neu verkulten, jetzt also für die "Generation Vice", mit vielen Injektions-Shots. Der biografische Spielfilm "Nico, 1988" zeigt sie in ihren letzten beiden Lebensjahren auf Tour und im Scheitern in der Beziehung zu ihrem Sohn Ari. Die Schönheit ist weg, was bleibt, ist die machtvolle dunkle Aura und die Musik. Auf der Bühne stellt sie die wechselseitige Beziehung her, die sie selbst mit den ihr nächsten Menschen nicht hingekriegt hat.

Nico wird großartig dargestellt von Trine Dyrholm, die auch die Songs selbt eingesungen hat: manipulativ, ignorant, mit aufgesetztem britischen Akzent. Als sie am Ende mit einem pinken Klapprad auf ein Tor in der Sonne zusteuert, weiß man, es ist vorbei. Nico starb nicht an einer Überdosis, sondern auf Ibiza nach einem Fahrradunfall. Fans, die diese Daten alle ohnehin parat haben, werden sich an den versteckten Verweisen des Films erfreuen. Wunderschön im Abspann: Trine Dyrholm singt – Nico-style – "Big in Japan" von Alphaville, in der die in der Synthie-Version immer überhörte Textzeile "I’m waiting for the man tonight" plötzlich zum knappen Gruß an "Waiting for the Man" von Velvet Underground wird.

"Nico, 1988", Arte-Mediathek, bis 20. März



Ein Denkmal für "die Eisnerin"

Diese Frau hätte man gerne kennengelernt: Die Filmhistorikerin Lotte Eisner, 1896 in Berlin geboren, 1983 in Paris verstorben, war eine prägende Figur der Kinogeschichte. Von den Gebrüdern Lumière, Pudowkin und Eisenstein über Kurosawa und Kubrick bis zu den Regisseuren der Nouvelle Vague und des Neuen Deutschen Films erlebte und kannte "die Eisnerin", wie ihr Freund Bertold Brecht sie nannte, mehrere Generationen großer Film-Persönlichkeiten.

Timon Koulmasis’ dichtes Filmporträt bei Arte zeichnet Eisners Lebensstationen nach. Sie war eine der ersten Filmkritikerinnen in der Weimarer Republik (deren filmisches Erbe sie in ihrem epochalen Buch "Die dämonische Leinwand" würdigte), musste als Jüdin 1933 nach Frankreich emigrieren, kam während der Nazi-Besatzung in ein südfranzösisches Internierungslager, flüchtete von dort und wurde nach dem Krieg Chefkonservatorin und -kuratorin der Cinémathèque Française (bis 1975).

Eisners Energie und Witz teilt sich noch in kurzen Interview-Ausschnitten mit. So erzählt sie, wie sie irgendwann in den frühen 1930ern Besuch von Leni Riefenstahl bekam: "Sie druckste erst herum", berichtet Lotte Eisner, dann habe Riefenstahl ihr dringend geraten einmal einen "wundervollen Mann" zu treffen: Adolf Hitler. Sie hätte die Einladung zum Tee mit diesem „schrecklichen Kerl“ nicht ausschlagen sollen, grinst Eisner in die Kamera, "ich hätte ein Fläschchen Gift mitgenommen". Neben Dokumentarmaterial montiert Koulmasis Filmausschnitte ein und lässt vor allem Gesichter des Kinos von Louise Brooks bis Hanns Zischler in einen Dialog mit Eisners Lebensgeschichte treten.

Nach bleiernen deutschen Kinojahren bis in die 1960er war es Lotte Eisner, die für junge Filmemacher wie Werner Herzog, Volker Schlöndorff oder Wim Wenders (die als Talking Heads in der Dokumentation vorkommen) eine Brücke zum Weimarer Kino schlug. "Was bleibt," so Wenders im Porträt, "ist die felsenfeste Überzeugung der Eisnerin, dass das Kino eine gewaltige Kraft in sich hat, die (…) mehr als jede andere Kunst erzählt hat, was mit den Menschen des 20. Jahrhunderts geschehen ist."

"Ein Leben für den Film - Lotte Eisner", Arte-Mediathek, bis 25. März

"Ein Leben für den Film - Lotte Eisner"
Foto: Arte

"Ein Leben für den Film - Lotte Eisner"


Das Geheimnis der Billie Eilish

Die erst 19-jährige Billie Eilish ist nicht nur einer der derzeit größten Musikstars der Welt, sie steht auch für eine neue Promi-Kultur. Eilish ist ein Antistar, der wenig mit dem einst blankpolierten Image von Britney Spears oder den kalkulierten Tabubrüchen von Madonna zu tun hat, dabei aber trotzdem jederzeit um die eigene Wirkung weiß. Eine seit Freitag verfügbare neue Dokumentation beim Streaminganbieter Apple TV+ zeichnet den fantastischen Aufstieg der US-Sängerin nach.

"Billie Eilish: The World’s a Little Blurry" ("Die Welt ist ein wenig verschwommen") heißt der satte 144 Minuten lange Film, und er zeigt vor allem Bilder aus dem Jahr 2019. Im Zentrum steht die Arbeit am Album "When We All Fall Asleep, Where Do We Go?" und wie nach dessen Veröffentlichung, angetrieben vom Über-Hit "Bad Guy", aus dem großen Talent Eilish endgültig ein weltweiter Superstar wird.

Fans dürften vielleicht schon um den organischen Entstehungsprozess der Lieder im heimischen Kinderzimmer in einem Allerweltshaus in Los Angeles wissen. In der Dokumentation ist nun aber ausführlich zu sehen, wie die Tracks in ständigem Ping Pong mit dem vier Jahre älteren und ebenfalls eindrucksvoll talentierten Bruder Finneas O’Connell (Eilish heißt mit vollem Namen Billie Eilish Pirate Baird O’Connell) an den meisten Instrumenten und am Computer entstehen. Beide werfen sich Text-Fragmente zu, reden über begleitende Musik-Effekte und freuen sich glaubwürdig, wenn es Eilish gelingt, ihre oft säuselnde, aber nie ungenau platzierte Stimme perfekt in den Dienst ihrer Ideen zu stellen.

Der Film schneidet immer wieder jüngere Konzertaufnahmen gegen Bilder, auf denen Eilish schon als Kind mit dem Rest der Familie auftrat oder mit 13 Jahren auf der Musikwebseite Soundcloud den ersten Hit "Ocean Eyes" einstellte. Im Großen und Ganzen erzählt Regisseur R.J. Cutler aber in chronologischer Folge vom neuen Album, beispielsweise davon, wie auf das Songwriting der beiden ebenfalls im heimischen Kinderzimmer das erste Vorspielen der Ergebnisse vor einigen Plattenmanagern folgt - die Begeisterung über den Rohdiamanten, den sie vor sich haben, steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Die hübscheste Episode ist, wie ehrfürchtig das erste Treffen von Eilish mit ihrem Teenager-Idol Justin Bieber zur Zusammenarbeit an einem "Bad Guy"-Remix ausfällt, obwohl zu diesem Zeitpunkt ihr gigantisches Potenzial schon längst in der Branche die Runde gemacht hatte.

Eilish und ihre Familie haben einen sehr offenen Zugang gewährt und auch Episoden nicht gestoppt, die andere Stars aus Angst ums makellose Image zurückhalten würden. Die Kamera schwenkt beispielsweise nicht weg, als sie bei einer anstrengend getakteten Europa-Tour eine Tic-Episode ihres Tourette-Syndroms durchmacht und ihr Kopf länger hin und her zuckend zu sehen ist.

Auch ein nüchternes Bekenntnis zu einem eher dunklen Gemüt hat wenig mit dem Frohsinnspop zu tun: "Die Leute sagen immer, dass alles so düster sei und dass ich fröhliche Musik schreiben soll», sagt Eilish an einer Stelle. "Aber ich fühle mich nie fröhlich. Warum sollte ich über Dinge schreiben, von denen ich nichts verstehe? Ich fühle die dunklen Dinge."

Ergründen solche losen Fragmente in Summe das Geheimnis des Erfolgs einer Frau, deren selbstgeschriebene Musik mit 18 Jahren fünf Grammys gewann, die inzwischen auf satte 8,5 Milliarden Youtube-Klicks kommt und die zwei Jahre in Folge die weltweit meistgestreamte Sängerin beim Musikdienst Spotify war? Nicht vollständig, nein. Dafür wird der Film trotz all der Nähe auch "Blurry": man wird ein Gefühl des Kuratiertseins und der vielleicht nur behaupteten Eigenständigkeit nicht los. Ohne hungrige Plattenfirmen, ohne Teilnahme an Kommerzritualen wie Awardshows und ohne klare Positionierung geht es eben doch nicht - und sei es mit einem Image als Anti-Star der Stunde. (dpa)

"Billie Elish: The World's A Little Blurry", Apple+