Hommage an die Fotografin Anja Niedringhaus
Eigentlich hatte Anja Niedringhaus (1965-2014) mit Mitte 20 ausgesorgt. Als fest angestellte Fotojournalistin bei der European Press Agency hätte sie eine ruhige Kugel im Gesellschaftsressort schieben können. Sie wählte die tägliche Dosis Todesangst, weil sie es nicht fassen konnte, dass es wieder "Krieg mitten in Europa" gab. Gleich am Anfang in Sarajewo wäre sie fast umgekommen. Sie war "entweder zu früh oder zu spät, zu nah dran oder zu weit weg", sagt sie einmal weinend zu einem befreundeten Fotoreporter im Biopic "Die Bilderkriegerin". Man sieht sie unter Schock stehen, sich übergeben angesichts massakrierter Leichen.
Ausgerechnet in einem ruhigen Park macht sie dann doch noch ihr erstes brauchbares Foto. Eine Familie spielt dort mit einem Hund. Plötzlich läuft die kleine Tochter ins Gebüsch. Eine Mine explodiert, und Niedringhaus muss sich entscheiden, ob sie auf das blutverschmierte Kind draufhalten oder lieber abreisen sollte, wie es ihr ihre männlichen Kollegen immer wieder raten. Stattdessen sucht sie den Augenkontakt zu den Eltern, die ihr das Fotografieren erlauben. Das Bild geht um die Welt. Der Blick auf die Details abseits des Kriegsgeschehens wird fortan zu ihrem Markenzeichen.
Der zwischen dokumentarischen Einschüben und spielfilmhafter Handlung oszillierende Film "Die Bilderkriegerin" folgt ihr in den Irak und nach Afghanistan, wo sie "die Seele der Menschen findet, die sie fotografiert", so einer ihrer realen Kollegen im Interview. Was man für verklärte Nostalgie halten könnte, erweist sich als ins Schwarze treffende Charakterisierung von Niedringhaus' Handschrift.
Wenn sie die Linse als embedded journalist auf von US-Soldaten verhaftete Iraker richtet, einen Jungen in Kabul mit Maschinengewehr in der Hand Kettenkarussell fahren lässt und in den Augen unverschleierter Frauen einen Funken Hoffnung einfängt, dann versteht man sogleich, warum sich die "New York Times" oder "Der Spiegel“" um diese Aufnahmen rissen, bis ihr eine Reise in ein Bergdorf, deren Bewohner zum ersten Mal wählten, zum Verhängnis wurde: Niedringhaus starb bei einem Anschlag mir nur 48 Jahren.
"Die Bilderkriegerin", ZDF-Mediathek, bis 21. August
Daniel Richter und der Tanz durch den Kunstzirkus
In manchen Filmen dieser Art erkennt man den Künstler vor lauter Raunen nicht. In Pepe Danquarts Porträt "Daniel Richter" hat vor allem die Titelfigur das Wort – und drumherum ein paar Weggefährten als "Talking Heads", aber eben nicht zu viele. Der Kunstzirkus scheint den Maler nicht allzusehr zu stören, mitunter scheint er den Trubel ein bisschen zu genießen.
Die Kamera begleitet den Künstler auf Vernissagen und Eröffnungspartys in Paris oder New York; Clips aus spektakulären Auktionen sind ebenso Teil des Films. Im September 2020 kommt Richters Öl-und-Lackbild "Das Recht" (2001) im Kölner Auktionshaus Van Ham unter den Hammer. Auf dem Bild knüppeln zwei Kerle ein Pferd nieder, das auf dem Rücken liegt. Der Schätzpreis des Gemäldes liegt bei 250.000 Euro, am Ende des Bieterdramas wird das Bild für über 438.000 Euro verkauft.
Richter nimmt solche Preisspiralen gelassen. "Kunst ist nun mal ein Luxusgut", kommentiert der Künstler, der als Jugendlicher in der Hausbesetzerszene in Hamburg aktiv war, der seine Werke indes nicht als "politisch", sondern besser als "politisiert" auffassen will. Denn: "Spätestens, wenn die Kunst in den Warenkreislauf eingeht, ist es heikel, von ’politischem Anspruch’ zu reden."
Reden aber muss man – über Kunst, wie sie entsteht und rezipiert wird. Am Anfang von "Daniel Richter" denkt der Künstler laut darüber nach, wozu ein Film über ihn gut sein soll. "Was man macht, muss überprüfbar sein", erklärt Richter. Er sei nicht an einem Bild von sich selbst interessiert, sondern wolle dem Publikum zeigen "an was für einer Form von Kunst ich hier arbeite".
"Daniel Richter", Stream on Demand
Mit William Klein in den Wirren von 1968
William Klein, der im vergangenen Jahr im Alter von 96 Jahren gestorben ist, war alles zugleich: Street Photographer mit sozialem Anliegen, Modefotograf mit Skepsis gegenüber Konsumkultur und Machtstrukturen, Filmemacher, Künstler. Der 1926 als Sohn immigrierter Ungarn in New York geborene Klein kommt 1947 als GI nach Europa und bleibt. In Paris macht er im Atelier von Fernand Léger eine Lehre, malt, fotografiert und interessiert sich für Film. Das Künstlerische bleibt Bestandteil seiner Bildauffassung, gerade in der Modefotografie lebt er es aus. Er arbeitet aber beispielsweise auch an der Seite von Louis Malle an dessen grandiosem Film "Zazie dans le métro" über ein unangepasstes kleines Mädchen, das Paris aufmischt.
Als "embedded filmmaker" erlebte er 1968 die Studentenunruhen in der französischen Hauptstadt, als ihn die Besetzer der Eliteuniversität Sorbonna baten, die Geschehnisse aus ihrer Sicht festzuhalten. Erst zehn Jahre später fügte Klein sein mit der Handkamera gefilmtes Material unter dem Titel "Mai 68 Im Quartier Latin" zu einem zweiteiligen, schwarz-weißen Bildessay zusammen. Wir sehen aufgebrachte Straßenszenen, von der Aussicht auf Veränderung aufgeputschte Studierende, aber auch quälende Diskussionen und alltägliche Szenen am Rand der Proteste. William Kleins Beobachtungen sind wertvolle Zeugnisse eines prägenden Frühlingsmonats vor 55 Jahren. Aber sie wollen auch immer starke Bilder sein.
"Mai 68 Im Quartier Latin", 2 Folgen, Arte-Mediathek, bis 21. September
Der Fotograf Steve McCurry, die Liebe und der Krieg
Mit seinen Fotografien aus Kriegs- und Krisengebieten eröffnet Steve McCurry der Welt Einblicke in Ereignisse, die sonst leicht hätten untergehen können. Zu grausam, um es sich anzusehen, zu weit weg. In Denis Delestracs Dokumentarfilm "Die Farben von Liebe und Krieg" tritt der notorisch schüchterne McCurry aus der unsichtbare Beobachterrolle heraus und wird selbst zur Hauptfigur. Obwohl er sich zu Beginn des Films eher widerwillig vor die Kamera setzt, statt wie gewohnt die Position dahinter einzunehmen, bietet er intime Einblicke in sein Arbeits- und Privatleben.
Chronologisch erzählt McCurry seine Lebensgeschichte: vom frühen Tod seiner Mutter, einem komplizierten Armbruch, der ihn schon als Kind zum Beobachter hatte werden lassen und seiner ersten Reisen nach Indien, wo ihn afghanische Flüchtlinge erstmals in ein Kriegsgebiet mitnahmen. Bald darauf begann die internationale Karriere als Fotograf. Sein Werdegang scheint, wie McCurry selbst, "alte Schule" zu sein: Er begann in ärmlichen Verhältnissen auf eigene Faust, rutschte mehr oder weniger durch Zufall mitten in das Geschehen in Kriegs- und Krisengebieten, einige Monate später wurden seine Bilder erstmals in der "New York Times" abgedruckt. Es folgten zahlreiche Preise, Ausstellungen, Coverfotos.
Steve McCurrys Fotografien leiten durch dieses filmische Porträt. Dabei erzählt er von den Geschichten hinter seinen ikonischen Bildern aus dem Irak, von 9/11 und aus Afghanistan. Sogar das afghanische Mädchen mit den leuchtend grünen Augen, welches auf McCurrys wohl berühmtesten Bild zu sehen ist, kommt als erwachsene Frau zu Wort.
Auch die Diskussion um den Vorwurf von Fälschungen und Korrekturen in seinen Bildern bleibt nicht unerwähnt. Der Fotograf äußert sich dazu nur knapp: "Ich fotografiere zu meinem Vergnügen und ich hoffe, meine Fotos sagen etwas aus." Dass ihm das gelungen ist, scheint unbestritten. Zum Ende des Films ist dann noch eine ganz andere Seite des scheuen Bilderjägers zu sehen: In einigen Aufnahmen spielt der mittlerweile 73-Jährige mit seiner Tochter im Kleinkindalter. Ein Ruhestand kommt für ihn trotzdem nicht infrage. Weiterhin will er die Katastrophen unserer Zeit ablichten. Im Fokus: Der Klimawandel.
"Die Farben von Liebe und Krieg", ARD-Mediathek, bis 22. Oktober
Barbie und die Frage nach der "perfekten Frau"
Sie hat irgendetwas, dass uns einfach nicht loslässt. Barbie – die berühmteste Puppe der Welt ist gerade der Star eines eigenen Kinofilms und hat damit mal wieder enorme Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Wie umstritten die Gestalt mit den längsten Beinen der Welt ist, zeigt auch die Dokumentation "Barbie- Die perfekte Frau?", die jetzt in der Arte-Mediathek zu sehen ist. Während die Feuilletons seit Wochen in pink getaucht sind und den brandneuen Kino-Blockbuster entweder mit Lob oder Kritik überhäufen, lohnt sich ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der kontroversen Plastikfigur.
Den bietet dieser unaufgeregte Film, indem er von Ruth Handler, der US-amerikanischen Erfinderin der Barbie-Puppe und ihrer erfolgreichen Geschäftsidee in den 1950-er Jahren erzählt. Handlers Idee machte das Familienunternehmen Mattel zu einem gigantischen Player auf dem Spielzeugmarkt. Dabei lernen die Zuschauenden unter anderem, dass Barbies echter Name Barbara ist, inspiriert von Handlers Tochter, worauf in der Popkultur immer wieder referiert wird. Beispielsweise bei der Rapperin Shirin David, die bürgerlich Barbara heißt und sich in vielen feministischen Songs so mit der Puppe vergleicht.
Barbie als Feministin – diese für einige unvorstellbare Sichtweise wird in der Dokumentation genauestens ausgebreitet. Dort kommen vor allem (weibliche) Barbie-Fans zu Wort, die mit Argumenten aufwarten, um die Puppe als Vorbild zu manifestieren. Das am häufigsten genannte: Barbie hat schon Karriere in Berufen gemacht, in denen sonst nur Männer unterwegs waren, bevor dies in der Realität möglich war.
Diese These wird sowohl von Mattel selbst als auch von Barbie-Influencerinnen auf Instagram und prominenten Frauen der deutschen Gesellschaft vertreten. So auch von der Meeresbiologin Antje Boetius. Dabei entstehen immer wieder ironische Situationen, etwa wenn Boetius stolz eine Barbiepuppe der berühmten Affenforscherin Jane Goodall präsentiert und sie zur Inspiration erklärt. Goodall hatte jüngst in einem Interview mit der "Zeit" gesagt: "Ich hasse diese Puppe!".
"Die perfekte Frau?" ist ein Film, dem ein etwas differenzierterer Ansatz nicht geschadet hätte (als einzige Kritikerin kommt eine Professorin für Soziale Arbeit zu Wort). Trotzdem hilft er aber gerade durch die vielen begeisterten Stimmen, die Kontroverse um die berühmteste Puppe der Welt zu verstehen. Am Ende liegt es an den Zuschauenden selbst, sich im Barbieversum zurechtzufinden.
"Barbie - Die perfekte Frau?", Arte-Mediathek, bis 14. Oktober
Wie Jungen jegliche Nähe abtrainiert wird
Die Statistiken sprechen für sich: Vier von fünf Männern geben in Umfragen an, dass es ihnen gut geht, dabei sind mehr als drei Viertel der Suizidtoten männlich, deutlich mehr Männer als Frauen sind suchtkrank. Die Gründe dafür sind eigentlich offensichtlich, aber trotzdem ändert sich nur langsam etwas: Viele Männer können kaum Gefühle zeigen, Zärtlichkeit und Nähe untereinander zulassen, um Hilfe bitten – und darunter leiden nicht nur Frauen, sondern auch sie selbst. Schuld daran sind – auch das ist offensichtlich – von Generation zu Generation übertragene Rollenbilder.
Wenn man als Junge Glück hat, wird man nicht in der Familie "schon auf Mann geeicht", wie Herbert Grönemeyer einst sang, aber spätestens in der Schule beginnt die Zurichtung. Genau das zeigt der neue Film des belgischen Regisseurs Lukas Dhont. "Close" erzählt von der Freundschaft der beiden 13-Jährigen Léo und Rémis. Nach dem Wechsel auf eine weiterführende Schule, werden sie von Mitschülerinnen und Mitschülern wegen ihrer auffälligen Nähe zueinander gemobbt – mit tragischen Folgen.
Der in Cannes prämierte, für den Oscar als bester internationaler Film nominierte und überhaupt überall mit Preisen überhäufte Film läuft nach seinem Kinostart jetzt auf Mubi. Obwohl er durchaus illustrierend wirkt in seiner Botschaft, ist das Casting von Lukas Dhont – genauso wie schon in dem grandiosen Vorgängerfilm "Girl" – so umwerfend, dass "Close" unbedingt sehenswert ist.
"Close", bei Mubi
Familienaufstellung bei einem Superstar
Man kann die wohl berühmteste Sängerin des Planeten sein, den eigenen Familiendynamiken entkommt man trotzdem nicht: "Beyoncé war das Kind, das zu 100 Prozent gefördert wurde, Solange ist das Kind, das ignoriert wurde", sagt der Gesangslehrer David Lee, der die Schwestern in Houston, Texas, unterrichtete. Der Dokumentarfilm "Beyoncé und Solange" erzählt die Geschichte von zwei erfolgreichen Frauen, die als Kinder im selben Bett schlafen, die aber nie die gleiche Aufmerksamkeit ihrer Eltern - und später der Welt - erfahren.
Die beiden Knowles-Schwestern wachsen in einem wohlhabenden Haushalt auf, schnell werden jedoch das Gesangstalent und der Wunsch nach Erfolg für die ältere Beyoncé zum Mittelpunkt des Familiensystems. Weggefährten erzählen, wie sie den Aufstieg der Band Destiny's Child erlebten - und wie Solange jahrelang darum kämpfen musste, ebenfalls in ihrer künstlerischen Karriere ernst genommen zu werden. Während Beyoncé zum Inbegriff einer Pop-Ikone wird, entscheidet sich die jüngere Schwester für einen Weg, der mehr auf Konzept und weniger auf kommerzialen Erfolg abzielt. Heute schreibt sie auch Opern und inszeniert Performances auf der Venedig-Biennale.
Die Dokumentation, die gerade auf Arte zu sehen ist, begeht in gewisser Weise genau den Fehler, den sie der Öffentlichkeit vorwirft: Sie fokussiert sich immer wieder auf Beyoncé und erzählt Solanges Geschichte als "die andere Seite". Auch hat keine der beiden Schwestern Interviews zu der Produktion von Regisseur Aaron Thiesen beigesteuert, Trotzdem ist der Film eine sehenswerte Hommage an zwei beeindruckende Personen, die sich nahe stehen, aber ihren eigenen Weg gefunden haben. Und sehr vielen Menschen auf der Welt viel bedeuten.
"Beyoncé and Solange", Arte-Mediathek, bis 20. Oktober
Vielleicht würde Heinrich Heine Techno mögen
Elektronische Musik kann wie ein sehr feiner Teppich sein. Erst, wenn man sich lange und intensiv darauf konzentriert, erkennt man alle Strukturen und Muster. Diese Erkenntnis stammt aus dem Film "Denk ich an Deutschland in der Nacht" von Romuald Karmakar von 2017. Darin stellt der Regisseur fünf Pioniere des Techno vor: Ricardo Villalobos, Sonja Moonear, Ata, Roman Flügel und David Moufang alias Move D. Er folgt ihnen in die Ekstase der Nacht, wenn sie hinter ihren DJ-Pulten eine tanzende Menge kontrollieren, fängt aber auch die stillen Momente ein, wenn sie allein in ihren Studios tüfteln oder in der Natur ihren Ohren einen Spaziergang gönnen. Auch die ganze Technik, die für die Musiker eine zentrale Rolle spielt, wird liebevoll und fast ehrfürchtig visuell in Szene gesetzt.
Karmakar ist ein unaufgeregter, aber soghafter Film über die Hingabe zum Techno gelungen. Den Titel hat er sich von Heinrich Heines "Nachtgedanken" geliehen. Ob der Dichter wohl auch gern tanzen gegangen wäre?
"Denk ich an Deutschland in der Nacht", bei Mubi
Wie Architektur unsere Kommunikation prägt
Manchmal kann Architektur zum Hindernis werden. Trennende Wände, verschachtelte Räume und schalldurchlässige Decken sind regelrechte Kommunikationsbarrieren für hörgeschädigte oder gehörlose Menschen. Während Sichtbarrieren das Kommunizieren in Gebärdensprachen behindern, schlucken manche Räume zu viel Schall, sodass es Hörgeschädigten unmöglich ist, ihre Mitmenschen zu verstehen. Wie sehr die Architektur, in der wir alle uns aufhalten, den Kontakt jeglicher Art zwischen Personen beeinflussen kann, zeigt der Film "Gehörlosengerechtes Bauen" der Reihe "Sehen statt Hören" in der ARD-Mediathek. Dort sind mehrere Videos in Gebärdensprache oder mit entsprechender Übersetzung zu finden, die sich nicht nur, aber auch dem Thema Gehörlosigkeit im Alltag widmen.
In der Dokumentation kommuniziert der Reporter selbst mit Händen und Mimik, für Hörende gibt es ein Voice-Over. Nach und nach werden verschiedene Kriterien vorgestellt, die die Kommunikation in Gebärdensprache oder das Lippenlesen erleichtern. Besonders eindrucksvoll ist dabei der Besuch bei einem Paar, das in einem gehörlosengerechten Haus wohnt. Alles, was für Hörende im Haushalt selbstverständlich mit Signalgeräuschen funktioniert, wird dort durch Lichtzeichen ersetzt.
Dabei erfahren die Zuschauenden Details, über die Hörende mit großer Wahrscheinlichkeit noch nie nachgedacht haben – etwa, dass ein Raum nicht zu vollgestellt sein sollte, damit das Auge beim Lippenlesen nicht zu sehr abgelenkt wird. Oder wie wichtig Sichtbeziehungen sind, um Platz zum Kommunizieren zu haben und visuell auf sich aufmerksam zu machen. Das, was der Architekt Le Corbusier in den 1920er-Jahren mit seinem freien Grundriss schon vorweggenommen hat, wird hier auf eine funktionale und lebensunterstützende Weise umgesetzt.
Zu Wort kommt außerdem ein US-amerikanischer Professor für Architektur, der erstmals Leitlinien für die "Deaf Space Architecture" aufgesetzt hat. Auch eine Schule wird vorgestellt, die nach diesen Leitlinien gebaut worden ist und so Lernraum für hörende, hörgeschädigte und gehörlose Kinder schafft. Dort erfährt man auch, warum abgerundete Ecken wichtig sind und sogar Unfälle verhindern können und wie der Feueralarm trotzdem funktioniert.
Ein spannender Film, der Raum und Architektur einmal ganz anders betrachtet und zeigt, wie schon kleine bauliche Veränderungen ein Leben und die Kommunikation zwischen Menschen erleichtern können.
"Gehörlosengerechtes Bauen | Deaf Space Architektur", BR-Mediathek, bis März 2025
Greta Gerwigs Weg auf den Hollywood-Thron
Spätestens nach dem unvermeidbaren Blockbuster "Barbie" ist die Schauspielerin und Regisseurin Greta Gerwig eine der bekanntesten Figuren Hollywoods. Wie es dazu kam und mit welchen Filmen die Karriere der heute 39-jährigen Kalifornierin begonnen hat, kann man nun auf der Streaming-Plattform Mubi nachvollziehen.
In deren Gerwig-Kollektion gibt es zum Beispiel die Horror-Komödie "Baghead" von 2008 zu sehen, in der die Schauspielerin Teil einer Gruppe junger Amateurregisseure ist, die in einem Haus im Wald einen Film drehen will und in einen Strudel gruseliger Ereignisse gerät. In dem berührenden Drama "Jahrhundertfrauen" (2016) von Mike Mills spielt Greta Gerwig die junge Fotografin Abbie, die eine komplizierte Beziehung zu einem Teenager aufbaut und ihren Platz in einem ungewöhnlichen Familiensystem finden muss. Und natürlich darf auch die Indie-Komödie "Frances Ha" nicht fehlen, die Gerwig 2012 einem größeren Publikum bekannt machte und die auch die erste Zusammenarbeit mit ihrem heutigen Partner Noah Baumbach war.
Im Film stolpert die Schauspielerin als mittelerfolgreiche Tänzerin durch ein chaotisches, aber auch schrecklich attraktives New Yorker Künstlerinnenleben. Frances ist eine Königin der Katastrophen, aber auch eine der Lebenslust und hat immer einen verlässlichen Freundeskreis um sich herum, für den man töten könnte. Ihr selbstvergessener Tanz durch die Straßen Manhattans ist eine Klassiker-Szene der jüngeren Filmgeschichte.
Greta-Gerwig: Superstar, auf Mubi
Durch die Nacht mit Matthias Lilienthal und Anne Imhof
Das Format "Durch die Nacht mit ..." ist ein Klassiker des Senders Arte, bei dem sich zwei irgendwie kulturschaffende Personen für einen Abend zusammentun und gemeinsam mit Chauffeur eine Stadt erkunden. Für eine Episode, die 2020 erstmals ausgestrahlt wurde und nun wieder in der Mediathek zu finden ist, hat sich der Theatermacher Matthias Lilienthal die Künstlerin Anne Imhof nach München eingeladen. Diese gewann 2017 den Goldenen Löwen bei der Venedig-Biennale und bewegt sich mit ihren Ensemble-Performances ziemlich nah am Theater
Die beiden Protagonisten sind sich offensichtlich sympathisch, aber auch ein wenig schüchtern. Sie schauen sich unter anderem eine Digitalorakel-Installation von Regisseurin Susanne Kennedy in den Kammerspielen an (leider spinnt der dazugehörige Roboter), lassen sich im leeren Olympiastadion von der Frei-Otto-Architektur überspannen und nagen später Hähnchenteile an einem Gourmet-Imbiss ab.
Lilienthal-Imhof war die erste "Durch-die-Nacht"-Folge in Corona-Zeiten und daher entsprechend abstandsgeprägt. Im Auto ist eine klinische Plexiglasscheibe zwischen den beiden installiert, zu den Gästen der Folge (der Geigerin Anne-Sophie Mutter und dem Regisseur Faraz Shariat) wird gebührende Distanz eingehalten. Nähe zwischen den Hauptfiguren ist also pandemiebedingt schon physisch nicht möglich.
Es ist interessant, wie diese Begegnung nur drei Jahre später überaus historisch wirkt. Die Selbstverständlichkeit, mit der Kontakt vermieden wird, hat schon an sich etwas Performatives. Und so ist diese Ausgabe von "Durch die Nacht ..." nicht mehr nur eine Interaktion zwischen zwei interessanten Kunstschaffenden, sondern auch eine Erinnerung daran, wie schnell wir die Corona-Ausnahmesituation der vergangenen Jahre wieder verdrängt haben.
"Durch die Nacht mit Matthias Lilienthal und Anne Imhof", Arte-Mediathek, bis 5. September
Pierre Huyghe und das Eiland in den Wäldern
Bei Pierre Huyghe führt der erste Gedanke zu einem weißen Windhund mit rosa Bein. Dabei nutzte der 1962 in Paris geborene Künstler, der auf der Documenta 13 die Hündin Human zum Lieblingstier der Kunstwelt machte, am Anfang seiner Karriere vor allem das Medium Film und sezierte statt Tieren ikonische Kinofilme – etwa in der Performance "Singing in the Rain" (1996) oder für "Blanche-Neige Lucie" (1997). Heute ist es vor allem die Auseinandersetzung mit der Natur, die sein Werk bestimmt. Er arbeitet mit und im Außenraum, greift in Naturerfahrungen ein und schafft unwirkliche Situationen - wie für seinen Beitrag für die Skulptur Projekte Münster 2017, wo er eine alte Eislaufhalle in eine Kraterlandschaft verwandelte.
"Ich spreche keine explizieten Themen an oder erkläre irgendwas, ich gebe keine Antworten in meiner Kunst", erklärt er in einem Film auf dem Online-Kanal des dänischen Louisiana Museums. Für seine neuste Arbeit "Variants" auf der kleinen Insel Kistefos in Norwegen nutzt er neben anderen Programmen die KI-Software Dall-E und Videosimulation.
"Ich habe zwei Arbeitsfelder: Zum einen das Digitale, ein Netzwerk, das Mutationen bereits existierender Elemente auf die in der Umgebung der Insel existierenden Elemente projiziert. Und daneben das Physische: Geräte, die die Naturphänomene messen, den Wasserstand, den Wind, die Sonne, die Bewegungen der Tiere." In dem Video gewährt der Künstler einen Einblick in seine Arbeit, in der er Erfahrungsräume inner- und außerhalb des "Natürlichen" kreiert.
"Pierre Huyghe: I'm not interested in Binarity", Louisiana Online-Channel