Michael Diers über Justine Triets Justiz-Drama

Anatomie eines Films

Das Justiz-Drama "Anatomie eines Falls" ist mit der Goldenen Palme in Cannes und einer Golden-Globe-Nominierung unbestritten einer der Filme des Jahres. Reflexionen über Bild, Ton und Schrift von Kunsthistoriker Michael Diers

[ACHTUNG, SPOILER!]

Dass Spielfilme, darunter solche, die sich der Unterhaltung widmen, neben der Präsentation des Plots, dem sie in erster Linie verpflichtet sind, auch über sich selbst, das heißt ihre künstlerische Statur und Faktur in mehr oder weniger versteckten Anspielungen Auskunft geben, zeichnet sie vor durchschnittlichen Streifen des Genres aus. Zu dieser Klasse von Filmen, die ihre technischen, medialen und ästhetischen Voraussetzungen und Möglichkeiten auf zahlreichen Ebenen reflektieren, gehört auch Justine Triets Gerichts- und Ehedrama "Anatomie eines Falls" (Frankreich 2023), das in Cannes als bester Film mit der Goldenen Palme und in Berlin mit dem Europäischen Filmpreis in verschiedenen Sparten ausgezeichnet worden ist.

Erzählt wird die Geschichte rund um den Tod von Samuel Maleski, Literaturdozent in Grenoble, der in den französischen Alpen bei einem Sturz aus dem Fenster seines Hauses ums Leben gekommen ist. Sein Sohn Daniel findet ihn bei der Rückkehr von einem Spaziergang tot im Schnee. Er ruft seine Mutter Sandra herbei, die den Rettungsdienst informiert. Ein Krankenwagen, aber auch die Polizei ist kurz darauf zur Stelle, doch jede Hilfe kommt zu spät. Umgehend taucht bei den Ermittlern die Frage auf, ob es sich um einen Unfall, Selbstmord, Totschlag oder gar um einen Mord handelt. Aufgrund von Indizien, vor allem aber Mutmaßungen, gerät die Ehefrau unter Verdacht, wird schließlich angeklagt und am Ende von einem Schwurgericht freigesprochen.

Dies in groben Zügen die Handlung. Der Film gibt sich aber nicht mit der Schilderung des äußeren Verlaufs des Geschehens zufrieden, sondern bettet die Erzählung dramaturgisch komplex ein, indem er sich im ersten Teil viel Zeit nimmt, die Protagonisten durch ein Interview, wechselseitige Gespräche, juristische Beratungen und polizeiliche Befragungen ausführlich vorzustellen.

Das Personal

Sandra Voyter ist eine erfolgreiche, aus Deutschland stammende Romanautorin, 40 Jahre alt, ihr Sohn Daniel, elf Jahre alt, ist seit einem länger zurückliegenden Verkehrsunfall stark sehbeeinträchtigt, so dass ihm häufig sein Hund Snoop als Begleiter zur Seite springt. Hinzukommt der mit Sandra befreundete Anwalt Vincent, der mit seiner Kanzleikollegin ihre Verteidigung übernommen hat.

Der Ehemann Samuel tritt als Person nur vermittelt in Erscheinung, zunächst auf Fotografien, sodann, gewissermaßen metonymisch, durch die ohrenbetäubend laute Musik, die er in Dauerschleife im oberen Stockwerk des Hauses abspielt, um eine Unterredung seiner Frau zu torpedieren, und bald darauf auch in körperlicher Gestalt, allerdings nur als Leiche, und zuletzt, nochmals indirekt, in zwei Flashbacks. 

Den zweiten Filmteil bildet der Prozesshergang mit der Anhörung von Zeugen und Sachverständigen sowie einer einem Kreuzverhör ähnlichen Befragung der Beschuldigten durch den Staatsanwalt. Insgesamt lebt der Film von den zahlreichen privaten und öffentlichen Einlassungen, Aussprachen oder Auseinandersetzungen. Sprechhandlungen bilden wesentliche Teile des Films, in dem nur selten eine stumme Szene begegnet. Eine Fülle von auf Englisch und Französisch geführten Sprechakten charakterisiert die Narration und bildet den großen dramaturgischen und dramatischen Reichtum des Films, der sich fast wie ein mit Bildern unterlegtes Hörstück ansehen lässt, wobei diese Einschätzung nicht als Kritik, sondern als Kompliment gelten soll.

Die Orte

Andererseits haben wir es mit einer Art Kammerspiel in kleiner Besetzung zu tun, das in der Hauptsache in zwei Räumen vonstattengeht, einerseits im häuslichen Wohnzimmer der Familie, das die Küche einschließt (salon cuisine), und andererseits im Gerichtssaal des Justizpalastes, von dessen Stufen aus die Rundfunk- und Fernsehjournalisten Bericht erstatten.

Dem Ort der Handlung (und der angeblichen Mordtat) wird der Ort der Verhandlung konfrontiert, die vor Gericht und Publikum das Private(ste) ins Öffentliche wendet. Der Vergleich mit dem Theater stellt sich auch dadurch ein, dass der Gerichtssaal samt Podium wie eine Bühne funktioniert – mit Auftritten der Justizvertreter, darunter neben der Vorsitzenden die Geschworenen und Anwälte, sowie der Zeugen, Sachverständigen und der Angeklagten. Den Zuschauern im Saal korrespondiert das Publikum im Kino. Die eine wie die andere Gruppe ist am Verlauf und Ausgang des Prozesses stark interessiert und repräsentiert sich als Instanz gleichsam wechselseitig.

Wenn man möchte, ließe sich der monumentale historische Wandteppich, der oberhalb des Podiums, auf dem die Richterin thront, hängt, mit der Kinoleinwand vergleichen. Während dort als statisches Bild im (Film-)Bild eine allegorische Darstellung mit einer das Schwert zückenden heroischen Flugfigur zu sehen ist, spielt sich dazu parallel das bewegte Filmgeschehen ab. Ob es sich beim Vergleich der beiden "Leinwände" um eine kunst- und medienhistorische Reminiszenz handelt, bleibe dahingestellt. Da Justine Triets Film seine Details allerdings mit großem Bedacht wählt (und der Behang für die Raumausstattung eigens beschafft wurde), ist die Annahme, der Teppich repräsentiere die protofilmische Historie, nicht ganz abwegig. 

Bilder im Film

Bilder an Wänden finden sich im Übrigen auch in den ausführlich vorgestellten Wohnräumen des Chalets in den Savoyer Bergen. Die Kamera nimmt gelegentlich, gleich zu Beginn und nochmals zwischendrin, Porträtfotografien der Protagonisten in ihren Blick, darunter bevorzugt Bilder der Hauptfiguren Sandra und Samuel. Sandra wird in diesen Szenen als Kind, Jugendliche und junge Mutter im Wechsel mit Fotos ihres Mannes oder des Paares gezeigt und dadurch beider glückliche (Vorgeschichte im Schnelldurchlauf präsentiert. Die Fotografien, welche die neugierig beobachtende Kamera streift, gleicht der Zuschauer mit den aktuellen Gesichtern ab, die der Film beisteuert. Auf diese Weise macht der Film, wiederum beiläufig, auf die Differenz der beiden Bildgattungen aufmerksam. 

Durch Mimik und Gestik detailgenaue Porträts der Akteure zu schaffen, steht auch allgemein im besonderen Focus des Films. Das Mienenspiel begleitet als physiognomischer Kommentar die Worte der handelnden Personen. Die zahlreichen Nah- und Großaufnahmen steuern Bilder intimer Nähe bei und verschaffen den Zuschauern Einblick in die jeweilige Gemütslage von Heldin und Helden. Diese Nahbetrachtung ist im Fall der Figur Sandras nicht zuletzt insofern zentral, als sie dazu beiträgt, ihre Glaubwürdigkeit einschätzen zu können. Ist sie tatsächlich unschuldig oder verstellt sie sich? Sandra Hüllers virtuoses Rollenspiel lässt die Frage am Ende unbeantwortet, das Gericht plädiert für "nicht schuldig" und das Kinopublikum entscheidet in Anbetracht der ihm vorgeführten Nachweise, darunter auch der leicht zwiespältige Eindruck, den die Hauptfigur hinterlässt, für sich, ob es sich dem amtlichen Urteil anschließt.

Diese Ambivalenz und Offenheit des Ausgangs unterscheidet Triets Film von landläufigen Justizdramen, die, um das Publikum vermeintlich durch ein offenes Ende der Geschichte nicht zu überfordern, bevorzugt auf definitive Schiedssprüche drängen. Justine Triet setzt eher auf verbleibende Zweifel und behandelt dadurch den Zuschauer als Souverän.

Inhalt in Form gebracht 

Aber Triets "Anatomie" verliert sich nicht im juristischen oder kriminalistischen Kleinklein, denn der Regisseurin ist ein anderer Fall ebenso wichtig, und zwar der Fall des Films als Medium der Erzählung. Wie gesagt, nicht nur das, was erzählt, sondern zugleich auch wie und mit welchen Mitteln eine Geschichte vorgetragen wird, steht im Mittelpunkt ihres Interesses. Der rote Faden der Erzählung wird auf diese Weise mit einem auf den ersten Blick oft kaum sichtbaren grauen Theoriefaden verwoben. Ohne explizit zu werden, zeigt der Film durch Parallelen und Konfrontationen, Vergleiche und Kontraste, wie Inhalt in Form gebracht und Form wiederum zum Inhalt werden kann und erst deren Zusammenspiel die künstlerische Qualität garantiert. 

Im Mittelpunkt der Reflexion der medialen Komponenten, die den Film bestimmen, steht zunächst am Rande, später ausdrücklich die Tonaufzeichnung. Gleich zu Beginn des Films, der mit der aus dem Off gesprochenen Frage Sandras "Was wollen Sie wissen?" eröffnet wird, schaltet die zu Besuch gekommene junge Literaturwissenschaftlerin, die ein Interview mit der Schriftstellerin führen möchte, ihr Aufnahmegerät ein. Da jedoch der unsichtbar bleibende, auf dem Dachboden arbeitende Hausherr ohrenbetäubende Musik vom Band abspielt, muss die Unterredung abgebrochen werden.

Ein Jahr später dient die Tonaufzeichnung besagter Szene vor Gericht im Rahmen der Befragung der in den Zeugenstand gerufenen Doktorandin als Beleg für die Aussagen Sandras über die Rolle von Literatur und Wirklichkeit und autofiktionalem Erzählen. Liegen den Romanen der Schriftstellerin, so eine der in Kurzform erörterten Fragen, wahre Begebenheiten zugrunde? Können letztere als notwendige Voraussetzung der erzählten Geschichten gelten? Der Staatsanwalt wird im Verlauf des Prozesses aus einem Roman Sandras zitieren, um zu zeigen, dass die Autorin sich im Gewand einer literarischen Figur durchaus bereits Gedanken über einen Mord gemacht hat. Könnte dies nicht ein Hinweis, so provozierend der rhetorisch gewandte Vertreter der Anklage, der wie ein Mephistopheles daherkommt, auf eine reale Tötungsabsicht sein? 

Die Lücke zwischen Bild- und Tonaufzeichnungen

Der Filmzuschauer kennt das vor Gericht als Tondokument in Ausschnitten vorgeführte, unfreiwillig mit Steeldrum-Klängen unterlegte Gespräch, weil er ihm zu Beginn des Films als Augen- und Ohrenzeuge beigewohnt hat. Bei der Vorführung im Gerichtssaal fällt die visuelle Dimension aus, man muss sich, wenn man möchte, qua Imagination selbst ein Bild von der Lage machen oder sich an die Szene erinnern.

Bild- und Tonaufzeichnungen spielen innerfilmisch im Verlauf insgesamt eine wichtige Rolle. Der Anwalt zeichnet seine Gespräche mit Sandra per Videokamera auf, ebenso verfährt der Untersuchungsrichter bei der Befragung Daniels. Auch Sandras Ehemann zeichnet seit Monaten, so erfährt man, die Gespräche in seiner Umgebung auf, um sie in Transkription einem eigenen Romanprojekt zugrunde legen zu können. So kommt es, dass er auch den äußerst heftigen, in Handgreiflichkeiten ausartenden Streit mit Sandra am Tag vor dem Fenstersturz insgeheim mitgeschnitten hat.

Auch diese Aufzeichnung kommt vor Gericht zur Sprache, wiederum insbesondere um die Angeklagte zu belasten. Eine Gerichtsdienerin wird gebeten, das entsprechende Dokument vorzuführen. Da die Unterhaltung der Eheleute auf Englisch geführt wurde, wird dem Gericht und seinem Publikum im Saal auf mehreren Monitoren zum Mitlesen die französische Übersetzung als Transkription dargeboten. Aber die Regisseurin begnügt sich nicht mit der Wiedergabe als Ton- und Textdokument. Der Film fügt dem Audiomitschnitt vielmehr nach einer kurzen Weile durch einen plötzlichen Sprung ins Bild die visuelle Ebene in Form einer Rückblende hinzu und illustriert damit das Geschehen. Das mediale Defizit der Tonaufzeichnung wird durch die beigefügten Bilder kompensiert und damit dem Film gegeben, was des Films zu sein scheint.

Was genau steuern Bilder bei?

Die Differenz von akustischer und audiovisueller Version wird – ausschließlich für das Kinopublikum – deutlich gemacht. Dem Höhepunkt des ehelichen Streits, der zunächst wie in der antiken Tragödie in Form einer Stichomythie vorgeführt wird und schließlich in einer körperlichen Auseinandersetzung endet, wohnt der Zuschauer allerdings wie am Anfang wieder nur als Hörspiel bei – es kracht, Gläser fallen zu Boden oder werden gegen die Wand geschleudert und Bilderrahmen gehen zu Bruch. Erneut wird an die visuelle Vorstellungskraft appelliert.

Die Rückblende – im Drehbuch "vision" genannt – ist zwar ein klassisches Element des Erzählkinos, aber in diesem Fall wird sie zu einem völlig anderen Zweck eingesetzt, indem sie dem Publikum in Form eines Verfremdungseffekts, der die Zuschauer von der Hör- zur Sichtebene und von dort wieder zurückführt, die Frage stellt, wie vieler Bilder es eigentlich bedarf, um eine geschilderte (Gesprächs-)Situation der Sache nach klarzulegen? Sind Bilder überhaupt vonnöten, wenn die Audiospur bereits hinreichend aussagekräftig ist? Was genau steuern die Bilder darüber hinaus zur Klärung bei? 

Über die vordergründige filmische Erzählung hinausdenken

Triets Film antwortet auf diese Fragen mit einer zentralen, die juristische Wende und den Handlungsumschwung im Sinne der Peripetie einleitenden Szene. Daniel wird auf seinen Wunsch hin noch einmal in einer zusätzlich anberaumten Gerichtssitzung als Zeuge gehört, nachdem er sich am Wochenende zuvor ausführliche Gedanken über die in Rede stehenden Vorfälle und seine eigene Rolle in diesem Kontext gemacht hat. Der unterdessen Zwölfjährige möchte ein Erlebnis nachtragen, das er im Zusammenhang der Entlastung seiner Mutter für relevant hält.

Auch an dieser Stelle arbeitet der Film mit einem Flashback, allerdings erneut in einer Sonderform. Während Daniel von einer Autofahrt mit seinem Vater und dem damals geführten Gespräch berichtet, wandelt sich die mündliche Erzählung an einer Stelle unversehens wieder in eine filmische Berichterstattung. Der Junge trägt in wörtlicher Rede die Sätze seines Vaters vor, die dieser ihm als Ratschlag auf seinen weiteren Lebensweg mitgegeben hat. Zu den Worten, die der Sohn aus der Erinnerung referiert, bewegt der Erwachsene synchron die Lippen, wir hören aber nicht dessen, sondern Daniels Stimme.

Die Figuren von Vater und Sohn verschmelzen auf sinnfällige Weise miteinander, wodurch Daniels Aussage entscheidend bekräftigt wird. In diesem Fall, so unterstreicht die Szene, tut Kindermund tatsächlich Wahrheit kund. Dass sie in die Form einer Erzählung verpackt ist, belegt das Interesse des Films, verschiedene narrative Gattungen und Elemente, darunter Literatur und Film, Ton und Bild miteinander zu vergleichen – mit dem Ziel, filmisches Erzählen als eigenständiges Modell bewusst zu machen. Durch diesen reflexiven – oder auch: doppelten – Boden befördert der Film das Vergnügen, über die vordergründige filmische Erzählung hinauszudenken und ästhetische Strategien wahrzunehmen, die implizit expliziert werden.

Nachstellungen, Nachahmungen

Neben den in erster Linie die Narration betreffenden Elementen, verweist der Film auch auf anderen Ebenen auf das eigene Medium. Zum Beispiel durch zahlreiche "Nachstellungen". Die Polizei stellt mittels Dummy als einer Form von Double den Fenstersturz Samuels in mehrfacher Wiederholung nach, um sich Klarheit über die Todesursache zu verschaffen. Daniel erfährt von dem bereits einige Monate zurückliegenden Suizidversuch seines Vaters und stellt die Szene mit seinem Hund nach, indem er ihm eine Überdosis Aspirin-Tabletten ins Futter mischt.

Auch die Sachverständige Bogaert ahmt vor Gericht virtuos die Balkonsituation nach, die angeblich zum Sturz Samuels durch einen Schlag und Stoß Sandras geführt hat. Sie beugt ihren Oberkörper in Form einer Pantomime sehr weit nach hinten, um zu demonstrieren, wie heikel es um das Gleichgewicht der Angreiferin gestanden hätte und plausibilisiert dadurch, dass die Angeklagte als Täterin nicht in Frage kommt. Die Regie nutzt, nebenbei bemerkt, in dieser Szene durch die gegebene Kameraperspektive die hölzerne Barriere, vor welche jeweils die Zeugen treten, geschickt zur Stellvertretung der Balkonbrüstung.

Ferner dienen mehrere "Nachbildungen" (Rekonstruktionen), darunter von den Sachverständigen angefertigte Zeichnungen und ein ausgefeilt gestaltetes plastisches Modell des Chalets inklusive einer 3D-Animation der Sturzszene als Beweismittel der Anklage. Auch Vincent, Sandras Anwalt, hatte zuvor bereits den Tatort und das zugehörige Geschehen zur wechselseitigen Veranschaulichung auf einigen Blättern mit dem Stift skizziert. 

Tastsinn neben hören und sehen

Aber auch der Verzicht auf den Einsatz klassischer Mittel des Films ist bezeichnend. So gibt es mit Ausnahme einer allerletzten Szene im Übergang zum Abspann keinen Soundtrack beziehungsweise extradiegetische Musik. Der misogyne "P.I.M.P."-Song des US-amerikanischen Rappers 50 Cent tönt gleich zu Beginn des Films in einer Instrumentalversion lautstark durchs Haus; die Quelle dieses Sandras Unterhaltung mit der Doktorandin störenden "Lärms" bilden Samuels Laptop und die angeschlossenen Subwoofer-Lautsprecher.

Weitere Musikstücke steuert Daniels Klavierspiel an verschiedenen Stellen des Films bei. Er probt zwei klassische Präludien, zum einen das "Asturias" aus der Suite española op. 47 von Isaac Albéniz, zum anderen das Prélude in E minor (op. 28 No. 4) von Frédéric Chopin. Daniels leicht holperndes Klavierspiel resultiert nicht zuletzt, so die Suggestion, aus seiner Kurzsichtigkeit, die auch dadurch verdeutlicht wird, dass die Noten auf seinem Tablet-Screen in riesiger Vergrößerung erscheinen. Zugleich macht die Szene über das zögerliche Tastenspiel auf die besondere Rolle aufmerksam, die dem Tastsinn im Film neben dem Hören und Sehen eingeräumt wird.

Daniels Sehbeeinträchtigung wird unter anderem durch die in der Wohnung zu seiner leichteren Orientierung an bestimmten räumlichen Wendepunkten angebrachten Klebestreifen markiert. Dass Daniel als kurzsichtiges Kind am Ende die erlösende Lösung des Falls (er-)findet, steht nicht auf einem anderen, sondern auf demselben Blatt einer (selbst-)kritischen Medienreflexion des Films. Man könnte von einer poetischen Wende sprechen, denn Daniel legt durch seine Schilderung die Bemerkungen seines Vaters im Sinn einer metaphorischen Interpretation für sich und das Gericht aus.

Ihm bleibt im übertragenen Sinn auch insofern das letzte Wort, als die Schlussmusik sein Chopin-Klavierspiel aufgreift, jetzt in einer professionell gespielten Variante. Indem der Film auf eine klassische Musikbegleitung ("Untermalung") verzichtet, wird das Konzept der Regie unterstrichen, der Darstellung eine Art dokumentarischen Charakter zu verleihen. 

Statt Happy End völlige Erschöpfung

Der dramatische Plot des Films, der historisch auch Anleihen bei einigen Vorgängern macht, darunter Otto Premingers "Anatomie eines Mordes" (USA 1959), zieht beim ersten Sehen fast alle Aufmerksamkeit auf sich. Da er zudem zweisprachig konzipiert ist, muss der Zuschauer sich gehörig nicht nur auf den Verlauf der Handlung konzentrieren, sondern auch auf den Sprachwechsel von Englisch zu Französisch und vice-versa – und gegebenenfalls auch auf die Untertitel in der jeweiligen Landessprache.

Aber es bleibt nicht lange verborgen, dass es der Regisseurin um mehr als die Lösung eines "Whodunit"-Problems geht. Im Sinn einer gezielten Verunsicherung wird die Frage nach der faktischen oder moralischen Schuld oder Unschuld nicht klipp und klar beantwortet, sondern in der Schwebe belassen, so dass am Schluss kein Happy End, sondern die völlige Erschöpfung der Protagonisten steht.

Der Film hat das Geschehen – ausgenommen allerdings die alles entscheidende Szene des Balkonsturzes – in Bild und Ton vor Augen und Ohren gestellt und die erreichbaren und aus seiner Sicht relevant erscheinenden Hintergründe und Argumente der Geschichte dargelegt. An die Seite des Gerichtsurteils tritt komplementär die Beurteilung der Ereignisse durch die Zuschauer, die die Rolle von Geschworenen einnehmen.

Parallel zum Verlauf der dramatischen Handlung legt der Film durch seine Struktur und Form klar, dass ihm daran gelegen ist, das Publikum auf das ästhetische und künstlerische Konzept aufmerksam zu machen, verbunden mit dem Angebot, die Praxen filmischen Erzählens und Darstellens en passant zu dechiffrieren.