Großausstellung "Ruhr Ding"

Anders denken

Die Großausstellung "Ruhr Ding" versammelt Kunst zum Thema Klima – und ist damit im Ruhrgebiet genau richtig. Nun dürfen einige der Ausstellungsorte endlich öffnen

800.000 Jahre. So lange würde ein Laubwald von der Größe des Geländes der Zeche Consolidation brauchen, mittels Fotosynthese die Menge an CO2 zu kompensieren, die dort durch den Steinkohlebergbau freigesetzt wurde. Berechnet hat diesen irren Wert das Kunstkollektiv Club Real. Die Zeche Consolidation steht in Gelsenkirchen und wird seit einigen Jahren nicht mehr für die Förderung, sondern gewerblich und kulturell genutzt. Nun wird dort eine Gruppe unterschiedlicher Spezies einziehen, von Regenwürmern bis Brennnesseln – beziehungsweise deren menschliche Vertretung. In der "Organismendemokratie Gelsenkirchen" von Club Real (in Kooperation mit dem Theater Consol) haben sie alle eine Stimme. Ihr Ziel ist es, gemeinsam eine fairere Zukunft für das Ökosystem zu gestalten.

Das Projekt ist Teil des Ausstellungsformats "Ruhr Ding" von Urbane Künste Ruhr unter der künstlerischen Leitung von Britta Peters. Nach der ersten Ausgabe mit dem Titel "Territorien" im Jahr 2019 geht nun das Thema "Klima" an den Start, das in der von der Kohle geprägten Region quasi vor der Haustür liegt – insbesondere im Norden, wo der Bergbau erst vor Kurzem gestoppt wurde. Dort, rund um die Emscher, befinden sich entsprechend die diesjährigen Schauplätze der Kunst, die sich jedoch nicht nur mit regionalen Fragen beschäftigt, sondern auch an globale Diskurse andockt.

Das Thema stand schon lange fest, als im vergangenen Jahr Corona die Planungen über den Haufen warf. "Wir waren letztes Jahr im März, als der Shutdown kam, praktisch auf der Zielgeraden", berichtet Britta Peters. Es sei nur noch darum gegangen, alles final vorzubereiten, dann mussten sie verschieben. Einiges blieb, anderes wurde weiterentwickelt, wieder anderes kam neu hinzu. Zum Beispiel die Arbeit von Natalie Bookchin, die erst durch die Erfahrungen mit der Pandemie und den damit verbundenen veränderten Wahrnehmungen entstand. Wahrnehmungen von Distanzen, denn wen kümmern schon noch all die Kilometer, die zwischen Bookchins Heimatstadt New York und dem Ruhrgebiet liegen, wenn wir uns nur noch durch das Internet bewegen? Wahrnehmungen aber auch von Geräuschen aus der Nachbarwohnung und nicht zuletzt den eigenen Geräuschen, die auf einmal in den Fokus geraten, wenn man auf sich selbst zurückgeworfen ist.

Die Künstlerin sammelte Smartphone-Videos, die von diesen auditiven Erlebnissen erzählen. Zu hören und zu sehen sein werden diese im Penthouse eines brutalistischen Hochhausturms in Herne, kleine filmische Episoden, die sich dort zu einer großen Klanginstallation formieren, untermalt von den Ausblicken aus den Fensterfronten über die Ruhrgebietslandschaft samt Autobahn hinweg.

Auch bei den anderen rund 20 Skulpturen, Installationen, Performances und Interventionen, die seit dieser Woche zumindest teilweise wieder zugänglich sind, sind die Orte mehr als nur Statisten. Es bestimme den langen Vorbereitungsprozess der Ausstellung, sie zu finden, so Peters. Kunst werde auf diese Weise zu einem "Wahrnehmungsverstärker für die Besonderheiten der Region", denn: "Die Kunst oder die Installationen, die für bestimmte Orte entstehen, nutzen diese anders, als man das im Alltagsgebrauch erwarten würde, und stärken damit die Sensibilität für die Beschaffenheit genau dieser Orte, für die Beschaffenheit einer bestimmten Architektur, für die Beschaffenheit einer bestimmten Landschaft oder auch die Beschaffenheit einer sozialen Nutzung, die sich vielleicht durch die Kunst ändert."

Das können dann sogar Orte sein, die man nur schwimmend erreicht. So bespielt Gastkurator Vlado Velkov gemeinsam mit einer ganzen Reihe von Künstlerinnen und Künstlern – darunter Mariechen Danz, Kerstin Brätsch und Raul Walch – nicht nur das Ufer des Silbersees II in Haltern am See, sondern auch das Gewässer selbst.

Der starke Ortsbezug macht den Reiz aus, ist aber durchaus auch eine Herausforderung. Die postindustriellen Landschaften des Ruhrgebiets sind in sich bereits so spannungsreich, dass es die Kunst nicht immer leicht hat, gegen die Wirkung der Orte anzukommen. Wie das am Ende klappt, lässt sich bis Ende Juni herausfinden, so denn die Corona-Inzidenzen mitspielen. Besucherinnen und Besuchern sei empfohlen, etwas Zeit mitzubringen, allein schon wegen der Distanzen zwischen den Kunstwerken – und für alles, was ihnen unterwegs begegnet.

urbanekuensteruhr.de

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Collecting art on the topic of climate change, this exhibition is made for the Ruhr region

The photosynthetic process of a deciduous forest the size of Zeche Consolidation would take 800,000 years to compensate for the amount of CO2 released at that coal mining site. This extraordinary number was calculated by the art collective Club Real. For some years now, Zeche Consolidation in Gelsenkirchen has been a site for business and cultural activities rather than mining. Now it will be occupied by a group of diverse species ranging from earthworms to stinging nettles—or rather, their human representatives. They all have a vote in Club Real’s "Organisms Democracy Gelsenkirchen" (in cooperation with Theater Consol). Their goal is to design a fair future for the ecosystem together.

The project is part of artistic director Britta Peters’s "Ruhr Ding" exhibition of Ruhr urban arts. Following the first edition in 2019, which focused on territories, the current edition deals with the climate, a highly relevant topic in a region shaped by coal mining—particularly in the northern part of the region, where mining was only recently halted. This year, art will be showcased at venues along the Emscher river, comprising works that both consider regional questions and tie into a global conversation.

The edition theme had long been decided when Covid wreaked havoc with the collective’s plans. "Last March we were almost at the finish line when the shutdown was announced," Peters describes. They were ready to make the finishing touches when everything had to be postponed. Some elements remained and others were developed further, while new aspects were added—such as work by Natalie Bookchin which resulted from her experiences of the pandemic and the altered perceptions it engendered. Perceptions of distance, for instance, for what does it matter if countless kilometers separate Bookchin’s hometown of New York and the Ruhr area, if the only travel we undertake is online? But also perceptions of the sounds from the apartment next door, and not least the sounds one makes oneself, sounds that suddenly come into focus when one is left on one’s own. The artist gathered smartphone videos relating these auditory experiences. They can be heard and seen on the top floor of a Brutalist high-rise in Herne, where the small cinematic episodes merge to form a large-scale sound installation, enhanced by the views from the large windows over the Ruhr landscape and highway.

The locations play a central role in the other twenty-odd sculptures, installations, performances, and interventions on exhibit. Peters observes that finding them defined the long process of preparation for the edition. In this way, art becomes a way of "enhancing awareness of the region’s unique qualities." Peters goes on to observe: "Site-specific art and installations use their locations differently than one would expect in daily practice and in doing so they heighten our sensitivity towards the qualities of a specific place, its specific architecture, the specific qualities of a given landscape or social use. And art might change these qualities."

Locations even include places that can only be reached by swimmers. Along with a number of artists including Mariechen Danz, Kerstin Brätsch, and Raul Walch, guest curator Vlado Velkov works not only on the banks of Silbersee II in Haltern am See, but also in the water itself.

The edition’s charm stems from this strong connection to place, but that proves quite a challenge too. The Ruhr region’s postindustrial landscapes are already so exciting in and of themselves that it is not always simple for art to make its presence felt in the charged place where it is shown. One will see how well it does this May and June. Visitors are advised to take their time, both to travel between the far-flung locations—and with what they will encounter on the way.