Gursky porträtiert Apple-Designer Ive

Ein Mann bricht aus

Noch ist er Teil einer selbstgestalteten Megastruktur, aber der Blick geht schon ins Freie: Der Fotograf Andreas Gursky hat den scheidenden Apple-Designer Jony Ive in einem überraschend ehrlichen Bild porträtiert 

Ein Mann steht am Fenster und schaut ins Offene. Aber eigentlich ist es kein Fenster, sondern eine Glasfront, ein Screen zur Welt, die auch nicht wirklich offen ist, sondern offenbar eine Art geschlossener Garten, ein hortus conclusus: Da ist etwas Grün, Tische und Stühle, aber die gekrümmte Fassade spiegelt schon die gekrümmte Fassade von gegenüber. Der Mann stemmt sich regelrecht gegen diese Trennwand aus Glas, als wolle er sie aufstemmen, zerbrechen, um zu entkommen. 

Kann sein, dass wir das Porträt des deutschen Fotografen Andreas Gursky von Jonathan "Jony" Ive nur in dieser Weise betrachten, weil wir wissen, dass der stilprägende Chefdesigner Apple verlassen wird, den Tech-Konzern, den er wie kein Zweiter geprägt hat und damit auch den Zeitgeist der letzten beiden Dekaden. Der Brite und einstige Vertraute von Apple-Mitbegründer Steve Jobs ist seit 30 Jahren maßgeblich an der Gestaltung einiger der erfolgreichsten Produkte des Hauses beteiligt, er hat 5000 Patente eingereicht. Vor der Ankündigung seines Abgangs hat er sich im März im neuen Hauptquartier des Billion-Dollar-Konzerns – Apple Park im kalifornischen Silicon Valley – von Gursky fotografieren lassen. 

Der deutsche Fotograf ist genau der Richtige für diese Auftragsarbeit der Londoner National Portrait Gallery, die jetzt auch dort zu sehen ist: Andreas Gursky blickt mit seiner Arbeit häufig auf das "stählerne Gehäuse" der kapitalistischen Welt – riesige Lagerhallen, Vergnügungsstätten für Massenveranstaltungen, Solarparks, Metropolen – und die Rolle des Individuums darin.

Totalitärer Zug der Moderne

Der Mensch nämlich verliert sich bei Gursky schnell in diesen großen Strukturen und wird zum Ornament. Es beeindruckt, wie der Fotograf immer wieder neue Bilder für den totalitären Zug der Moderne findet. Ob im sozialen Wohnungsbau, in der großspurigen Malerei von Jackson Pollock, in Fabriken, Sportinszenierungen – Gursky hat mit der Fotografie ein Medium gefunden, Muster zu erkennen. Porträts macht der Künstler deshalb selten, doch bei Jony Ive verdichtet sich sein Lebensthema regelrecht. 

Wie aseptisch und durchdacht der Raum in dem Bild ist! Jonathan Ive trägt weiße Kleidung, puristisch wie sein Design. Der Norman-Foster-Bau mit den Scheiben einer deutschen Firma ist reines Licht und Transparenz. Und doch wirkt es wie ein Aquarium, wie das Innere eines begehrenswerten Gadgets, eine künstlich erschaffene Megastruktur, in der niemand sein ganzes Leben verbringen will.

Seit Beginn verfolgt Apple die Politik der geschlossenen Systeme: Betriebssysteme und Hardware kommen aus einer Hand und jedes Apple-Produkt unterstützt zunächst einmal andere Apple-Produkte. Schnittstellen zu anderen Standards hingegen sind rar. Das verschafft dem Apple-Erlebnis einerseits Geborgenheit, lässt es aber auch klaustrophobisch wirken. Wie eine Geiselnahme. Dass Jony Ive hier irgendwann weg will, obwohl er das alles mitgestaltet hat – wer kann es ihm verdenken? Am Armgelenk tickt die Apple-Watch die Lebenszeit weg.