Künstler Anri Sala

"Ich untersuche Musik wie ein Fossil"

Der Künstler Anri Sala nimmt historische Musikstücke mit archäologischer Genauigkeit auseinander. Im Interview spricht er über die Hierarchie von Klang und Bildern und über die Hymnen geschichtlicher Wendepunkte 

Lassen Sie uns ganz von vorne anfangen. Sie stammen aus Albanien, wo Sie sich aufgrund der sozialistischen Kulturpolitik bereits als Jugendlicher final für eine künstlerische Laufbahn entscheiden mussten. Was bewegte Sie damals zu dem Entschluss, Künstler zu werden?

Mit 14 Jahren entschied man, dass man Künstler wird. Man konnte seine Meinung nicht mehr ändern, wenn man im Laufe seiner Ausbildung merkte, dass das doch nicht das Richtige für einen ist. Damals befand sich ein mögliches Ende des Regimes gar nicht im Spektrum des Vorstellbaren, deshalb war das ein riesiges commitment. Ein Freund und wichtiger Mentor legte mir im Vertrauen nahe, dass dieser Weg einem innerhalb jener begrenzten Gesellschaft noch die meisten Freiheiten gewähren würde.

Inwiefern?

Aufgrund der expliziten Beziehung zwischen Kunst und Ideologie wurde stark reglementiert, was man ausstellen durfte und Künstler wurden aufgrund ihrer Art zu malen verfolgt. Die Ausbildung jedoch befand sich außerhalb des Scheinwerferlichts. Man konnte mehr experimentieren, die Atmosphäre war offener.

Wie hat sich Ihre Perspektive auf die Kunst seither verändert?

Sie hat sich natürlich weiterentwickelt. Nach meinem Abschluss an der Akademie in Tirana setzte ich mein Studium in Paris fort. Dort zu leben eröffnete mir neue Erfahrungen, nicht nur hinsichtlich meines Lernens und Sehens als junger Künstler, sondern auch, indem es mir eine natürliche kritische Distanz zu meinem Leben in Tirana verschaffte. Wäre ich in Albanien geblieben, hätte ich dafür länger gebraucht. Später zog ich dann nach Berlin, was mir wiederum eine neue Perspektive auf Paris ermöglicht. In Bewegung zu bleiben hilft einem, ein nötiges détachement von dem Ort zu erreichen, an dem man gerade ist. Letzten Endes resultiert meine Perspektive nicht daraus, wo ich mich gerade befinde, sondern aus den Verlagerungen und Intervallen zwischen verschiedenen Orten und ihrem jeweiligen Kontext.

Ihre Arbeiten haben einen dimensionalen Charakter, sie erzeugen Verbindungslinien und bilden gemeinsame Klangräume. Wie haben Sie diesen Ansatz innerhalb der weitläufigen, sakral anmutenden Hallen des Mudam Luxemburg umgesetzt? 

Es war eine Konversation mit der Direktorin Suzanne Cotter und ihrem Team. Suzanne schlug eine Ausstellung mit jüngeren Arbeiten vor, in denen Musik eine zentrale Rolle spielt. Bei meinem ersten Besuch des Museums suchte ich nach den Verbindungslinien zwischen den einzelnen Räumen an verschiedenen Orten des Museums, die ich eingeladen worden war, zu bespielen. Räumlichkeiten neigen stets dazu, gewisse Dinge zu tun und andere wiederum überhaupt nicht. Weil das Mudam eher kantig ist, wollte ich ihm das Motiv der Kurve gegenüberstellen, das in vielen meiner neueren Arbeiten präsent ist. Sobald ich eine grobes Konzept vom Ablauf der Arbeiten hatte, besuchte ich das Museum mit Olivier Goinard, einem Sounddesigner, mit dem ich schon seit langem zusammenarbeite. Wir diskutierten die Korrelation der unterschiedlichen Musikstücke und Geräusche, wie sie zu einander führen können, ohne sich gegenseitig zu bekämpfen.

Wie würden Sie die Beziehung zwischen Musik und Bild in ihren Werken beschreiben?

Musik ist ein Auslöser, ein Ausgangspunkt, aber auch ein Weg, Zeit zu kultivieren und gemäß eines Ablaufplans zu entfalten. In unserer Gesellschaft ist die Beziehung zwischen Bild und Musik hierarchisch, wie zwischen einem Herren und seinem Sklaven. Normalerweise folgt die Musik passiv dem Bild – zum Beispiel im Mainstream-Kino: Die Musik wird hinzugefügt, wenn alles schon zu Ende gedacht ist. Sie funktioniert als Code, der die emotionale Reaktion der Zuschauer auf eine Szene steigern soll. Mein Ansatz ist genau umgekehrt: die Musik steht am Anfang, sie ist die Handlung, die man im Bild sieht – what you hear is what you see.

In vielen der hier in Luxemburg gezeigten Arbeiten untersuchen Sie Musikstücke als historische Dokumente. In "The Last Resort” setzen Sie sich mit den falschen Versprechungen der Aufklärung auseinander und nehmen dafür Mozarts Klarinettenkonzert zur Hilfe.

Die Arbeit ist ein skulpturaler Komplex aus 38 von der Decke hängenden Trommeln, die eine äußerst eigene Version des Klarinettenkonzerts spielen. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn man Mozarts Stück zur Flaschenpost machen und es eine von Wind und Wellen getragene Reise antreten lassen würde. Mozart schrieb das Concerto 1791, drei Jahre nachdem die erste Britische Flotte Sydney erreichte und die Kolonisierung Australiens und die Verbannung der Aborigines einläutete. Zum ersten Mal zeigte ich die Arbeit in einem Pavillon in Sydney, der eine wunderschöne Aussicht auf die Bucht bot. Das Klarinettenkonzert zählt zu den Meisterwerken des sogenannten Goldenen Zeitalters, das sich in gewisser Weise bereits seinem Ende zuneigte.

Wie meinen Sie das?

Es war ein Zeitalter der Revolutionen, in den USA ebenso wie in Frankreich. Die Aufklärung war treibende Kraft bemerkenswerter Prinzipien und Errungenschaften der westlichen Zivilisation. Aber als diese Ideale neue Ufer erzeugten sie unsagbare Verwüstungen und Verluste, weil sie blind gegenüber anderen Lebensweisen waren. In “The Last Resort” wird das Concerto auf ähnliche Weise korrumpiert. Olivier, der Musikproduzent Robert Schneider und ich rearrangierten das Stück und ersetzten die von Mozart vermerkten Tempi durch Bewegungen des Winds, die wir dem “Private Diary of James Bell” entnahmen, der einzigen private Aufzeichnung einer Reise von England nach Sydney aus der damaligen Zeit.

Und wie wirken sich die Wetterverhältnisse auf das Stück aus?

Wenn Bell eine angenehme Brise vermerkt, hört man das Konzert in seiner von Mozart intendierten Form. Aber bei ruhiger See oder turbulentem Wind wird das Stück langsamer oder ändert sogar seine Richtung. Die Intention des Künstlers – ein Konzept, das nach einer lagen Periode der Auftragsarbeiten entstand und damals noch recht jung war – wird korrumpiert durch acts of God, wie man in angelsächsischen Versicherungsverträgen sagt. Die Reise überwältigt die inneren Funktionsweisen des Stücks und seinen gesamten Fluss.

In “Take Over” stellen Sie die Marseillaise und die Internationale einander gegenüber, lassen die zeitversetzt auftreten und sich gegenseitig überschneiden. Was interessiert Sie an den beiden Stücken?

Wenn ich mich einem Stück annähere, achte ich nicht nur auf seine musikalischen Qualitäten, sondern untersuche es auch aus einem archäologischen Standpunkt, als sei es ein Fossil, das gewisse soziale und politische Gegebenheiten seiner Zeit begreifbar macht. Aber ich kehre die Beziehung zwischen Fossil und Zeitstrahl gern um und betrachte es nicht als Zeitzeuge, sondern als Voraussage der Zukunft. Die Rezeption der beiden Hymnen hat sich im Verlauf der Geschichte stark verändert.

Wie denn?

Die Marseillaise war zu Beginn mit der französischen Revolution verbunden, verbreite sich dann aber schnell über französische Grenzen hinaus als Symbol für den Sturz repressiver Systeme. Und dann wurde sie zur Nationalhymne einer Kolonialmacht – deshalb hat sie heute beispielsweise für eine Person aus Nordafrika ganz andere Konnotationen. Mit der Internationalen ist es ähnlich – für mich bedeutet sie etwas anderes als für eine Person aus einem von der Sowjetunion kolonisierten Land wie Litauen oder Estland. Bis zum heutigen Tag oszillieren die beiden Hymnen, ihre Bedeutungen werden immer wieder appropriiert.

Auf der einen Seite hat Kontext einen großen Einfluss auf die individuelle Hörerfahrung, aber auf der anderen Seite ist Musik eine universelle Sprache. Es gibt Stücke, die eine Botschaft in sich tragen und gewisse zeitpolitische Entwicklungen übersetzen – beispielsweise die atonale Musik, mit der Sie sich in “The Present Moment” auseinandersetzen. 

In der Arbeit dekonsturiere ich Schönbergs "Verklärte Nacht”, ein Stück, das er zur Wende des 19. Jahrhunderts schrieb. Es ist sein vielleicht berühmtestes tonales Stück, bekannt ist er vor allem als Vater der Atonalität. Sein bahnbrechendes Prinzip zum Ausbruch aus dem Käfig der Tonalität – dass ein Komponist einen Ton nicht erneut verwenden sollte, bevor er alle anderen elf benutzt hat  – eröffnete neue musikalische Landschaften abseits des westlichen Musikkanons.

Wie benutzen Sie solche Einflüsse?

In “The Present Moment” spielt “Verklärte Nacht” auf einer Seite des Raums, und jedes Mal, wenn ein neuer Ton auftaucht, wandert er aus der Komposition verbannt durch den Raum und wird auf der anderen Seite wie in einer Sackgasse eingekesselt und so lange wiederholt, bis er von einem neuen Ton erlöst wird. Die “Verklärte Nacht” bewegt sich so von einer totalen zu einer atonalen Komposition.

Inwiefern spiegelt dieser Übergang historische Entwicklungen wider?

In zwei dazugehörigen Videos sieht man, wie die beiden Versionen von sechs Musikern gespielt werden. Der Übergang von tonal zu atonal erzeugt spezielle, repetitive Gesten. In ihnen klingt Arbeitsteilung der Industrialisierung mit ihren monotonen, fortwährenden Bewegungen nach – jene Gesten erwuchsen in genau jener Periode, die der Ablauf von “The Present Moment” umfasst. 

Der Aspekt der Geste ist ein schöner Schlusspunkt. Im Mudam zeigen Sie auch eine Serie an Zeichnungen, in denen sie die Spielanweisungen verschiedener Komponisten untersuchen.

Ja, und auch, wie sie sich im Laufe der Zeit verändern. Ich habe Beethoven, Schönberg, Erik Satie und John Adams betrachtet. Beethoven schrieb seine Anweisungen in Italienisch, der damaligen Weltsprache der Musik, Schönberg ein Deutsch, Satie in Französisch und Adams in Englisch. Andere Aspekte entwickeln sich ebenfalls: Beethoven führt das Ungefähre ein und nutzt als erster Musiker den Ausdruck “quasi”, Schönberg legt seinen Fokus auf die Stimmung, Satie ist ein Pionier der Haltung – “plus lent, si vous voulez bien” – und John Adams nutzt Prozentwerte – "40 % swing”. 100 Jahre zuvor wäre so etwas noch nicht möglich gewesen, weil wir eine weniger kalkulierte Beziehung zur Zeit hatten. Trotzdem bleibt Raum für Interpretation – wer kann schon genau sagen, wie 40 Prozent Swing klingen?