Was wir vermissen (2)

Um den heißen Brei herumreden

Besucher*innen der Art Basel in Miami Beach
Foto: Daniel Völzke

"Hat mir wirklich gut gefallen, richtig gut, ja": Eröffnungsgäste – wie hier auf der Art Basel / Miami Beach – tischen aus Höflichkeit ausstellenden Künstler und Künstlerinnen manchmal nicht die ganze Wahrheit auf

Coronabedingt wird es nicht so schnell wieder Festivals, Kunstmessen und große Eröffnungen geben. Ein Glossar von Dingen, die wir vermissen. Teil 2: Künstler und Künstlerinnen auf ihren Eröffnungen ein bisschen anflunkern

Mein geschätzter Professor erzählte einmal im Vertrauen von der Notsituation, in die er regelmäßig geriet, wenn er auf Eröffnungen ging: Er steht vor einem Kunstwerk, und die Künstlerin oder der Künstler winkt erwartungsfroh herüber und eilt herbei, um ein paar Worte zu den Arbeiten zu hören.

Ausgeschlossen, in einer solchen Situation mit der Wahrheit zu kommen. Es gehört sich einfach nicht, jemandem auf seiner eigenen Vernissage zu sagen, dass einen die ausgestellten Kunstwerke an vieles erinnerten, was man schon gesehen habe, nur dass die deutlich erkennbaren Vorbilder damals neu und gesellschaftlich relevant waren. Oder, dass man den Werken ein großes Bemühen ansehen könne, einer gerade angesagten ästhetischen Richtung anzugehören, mit der man allerdings noch nie etwas anfangen konnte und insgeheim hoffe, sie sei bald wieder vorbei, Anzeichen dafür gebe es zum Glück seit vorletztem Jahr.

Andererseits wäre es einem Mann von seinem intellektuellen Format und Rang auch nicht eingefallen, nur wegen irgendeiner Kunstausstellung seine aufklärerische, wahrheitsliebende Haltung zur Welt aufzugeben und irgendetwas zu sagen, das er nicht so meinte. Also grausam sein oder lügen? Ein Dilemma.

"Eine sehr interessante Stelle"

Er entschied sich für eine Teillösung. Mit einer vagen Kreisbewegung der Hand zeigte er auf irgendeinen Punkt auf dem Bild, vor dem er gerade stand, und sagte: "Das ist eine sehr interessante Stelle." Davon waren die Urheber der Werke überrascht, geschmeichelt und selbst zum Nachdenken aufgefordert. Und wenn sie nicht ihrerseits komplett taktlos waren, deuteten sie sein kurzes Nicken richtig und ließen wieder von ihm ab.

Ich habe diesen Trick früher nur ein oder zwei Mal in äußersten Notfällen angewandt, inzwischen bin ich ganz davon abgekommen, mich von meiner eigenen Meinung so in die Bredouille bringen zu lassen. Es gibt schließlich immer etwas zu sagen, das freundlich auf die gezeigte Kunst Bezug nimmt, oder wenigstens auf den Raum, in dem sie platziert wurde.

Genau wie man für das kleine gesellschaftliche Ereignis, das eine Vernissage ja ist, zuvor vielleicht auf sein Aussehen achtet, kann man auch das eigene Urteil auch ein bisschen schöner, strahlender und meinetwegen auch oberflächlicher zurechtoptimieren. Das Beste ist: Es kann vorkommen, dass man auf der Suche nach Qualitäten tatsächlich welche entdeckt, ganz bestimmt sogar. Und das ist es ja, warum wir uns Kunst in Gesellschaft anschauen wollen, und nicht in einer leeren Galerie in unseren bequemsten Schuhen, allein mit unserem alten kritischen Geist: Sie kann uns besser machen, als wir sind.