Was wir vermissen (3)

FOMO

Ohne FOMO hätten wir nie die zufällige Begegnung eines patriotischen Spitzes mit einem Kunstwerk von Jeppe Hein auf dem Stand der 303 Gallery in Miami Beach miterlebt
Foto: Daniel Völzke

Ohne FOMO hätten wir nie die zufällige Begegnung eines patriotischen Zwergspitzes mit einem kitschigen Kunstwerk von Jeppe Hein auf dem Stand der 303 Gallery in Miami Beach miterlebt

Früher war ständig was los. Dann kam Corona und die Kunstwelt verkroch sich in Online Viewing Rooms und Zoom-Konferenzen. Wir vermissen die ständige Angst, etwas zu verpassen

Wisst ihr noch früher, die Eröffnungen am Freitagabend, manchmal danach zu einem Galeriedinner oder zur Aftershow-Party? Am Samstag dann früh raus, weil Flug nach Basel/Paris/London. Immer verkatert, immer verlabert, ständig Kunst gucken, Menschen gucken, Welt kaputtreisen – so sah das Leben in unserer Branche aus.

Sobald wir mal ein bisschen Leerlauf hatten – auf Flughäfen oder in langweiligen Ausstellungen – schauten wir in den Insta-Stories nach, wo die anderen waren und hatten sofort das Gefühl, etwas zu verpassen. Dass es für diesen Zustand das lustige Akronym FOMO (für Fear Of Missing Out) gab, machte ihn etwas erträglicher. Eigentlich wussten wir, dass das alles irgendwie blöd ist, aber weil alle anderen ja genauso blöd waren, fühlten wir uns doch wohl dabei.

Jetzt, da keine Groß-Events wie Messen, Biennalen und Festivals mehr stattfinden, kommt uns unsere vorherige Lebensweise auch etwas seltsam vor. Selbst in die Insta-Stories schauen wir nicht mehr so häufig. Und doch: Ohne FOMO fehlt etwas.

FOMO-Risikogruppe

Erst war es ja noch ganz gemütlich: mit gutem Wissen zu Hause bleiben, weil man ohnehin nichts verpasst. Wie oft hätten wir doch auch früher lieber Netflix geschaut oder gelesen, aber FOMO! Nach längerer Kunstwelt-Abstinenz merken wir allerdings, dass etwas fehlt. Wir erleben gar nichts mehr.

FOMO hat uns damals in die Welt gestoßen, wo es zwischen all der Überforderung durch Sozialstress und Kunst-Overkill, Jetlag und schlechtem Gewissen immer wieder diese Momente gab, an die wir uns erinnern. Das mobile Videokunst-Kino nachts in einem Slum in Kathmandu, die Begeisterung der Bewohnerinnen und Bewohner dabei. Der laue Abend am Kaspischen Meer mit der russischen Kunstkritikerin, die Nietzsche-Gedichte rezitiert. Nachts allein vor van Goghs "Sternennacht" im MoMA. Kunstpavillons im brasilianischen Regenwald. Die Kirschblüte in Kyoto. 

Diese Momente waren verborgen hinter Schichten von Anstrengung, und FOMO war der Antrieb, sich dahin durchzugraben. FOMO ist keine Macht, die es nur im Kunstbetrieb gibt, aber mit einem ausgeprägten Netzwerkgedanken, ihrem Kult des Originals und des Erlebnisses gehören Kuratorinnen und Kritiker, Galeristinnen und Sammler zur FOMO-Risikogruppe. 

Post-Corona-FOMO wird ein besseres FOMO

Nach Corona ist nichts mehr wie vorher, heißt es immer, und tatsächlich gibt es Heilung von FOMO: durch die Erkenntnis, dass dieses Gefühl einen Wettlauf in Gang setzt, den niemand gewinnen kann. FOMO im Kunstbetrieb entsteht allzu häufig durch Social-Media-Stress, Konkurrenzdenken und Ausschluss via Geld und Einfluss. Es führt oft dazu, ungute Verhältnisse zu bestätigen und verbraucht dabei jede Menge CO2.

Der Gründer des Kunstparadieses im brasilianischen Regenwald wurde inzwischen wegen Steuerhinterziehung verhaftet, und auf wessen Einladung waren wir nochmal am Kaspischen Meer im autoritären Aserbaidschan? Wir müssen FOMO in eine Energie verwandeln, die Solidarität und einen echten Bezug zu Menschen, Kunst und Institutionen schafft. Nach der Corona-Vollbremsung ist die richtige Zeit dafür! 

Aber die Kirschblüte in Kyoto, die sollte man wirklich gesehen haben.