Wie werden wir Kunst sehen?

"Das Digitale macht nicht satt"

Foto: Simeon Johnke
Foto: Simeon Johnke
Bernhard Maaz, Leiter der Pinakotheken (rechts), und Martin Spantig, Geschäftsführer von Bayern Tourismus, im Gespräch mit Saskia Trebing.

Bernhard Maaz, Leiter der Pinakotheken, und Martin Spantig, Geschäftsführer von Bayern Tourismus, über die Museen der Zukunft

Wer Pinakotheken hört, denkt zuerst an München. Dabei sind die bayerischen Kunstschätze über das ganze Land verteilt. Insgesamt gibt es 20 bayerische Staatsgalerien in den großen, mittelgroßen und kleinen Städten. So ist zum Beispiel die Residenz Ansbach eine Ehrfurcht einflößende Schatzkammer. In der Staatsgalerie im Obergeschoss hängen goldgerahmte Werke des französischen, flämischen und niederländischen Barocks, im Bilderkabinett Porträts bayerischer Hofmaler. Für Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, und Martin Spantig, Geschäftsführer von Bayern Tourismus, sind gerade die ländlichen Museen die Kulturziele der Zukunft. Wir haben die beiden in der Residenz Ansbach zum Gespräch über die Entwicklung der Museen gebeten.  

Herr Maaz, Herr Spantig, nehmen Sie es mir übel, wenn ich bei Kulturzentren in Bayern nicht sofort an Ansbach denke?
Martin Spantig: Da sind Sie sicher nicht allein. Die meisten Menschen denken bei den Pinakotheken nicht als Erstes an Ansbach oder die anderen kleinen schönen Orte in Bayern, in denen es Museen mit hochkarätiger Kunst gibt. Die Leute denken an München, vielleicht noch an Nürnberg, Würzburg oder Bayreuth. Das wollen wir ändern.

Jetzt sitzen wir in der Ansbacher Residenz zwischen Goldstuckdecke und Seidentapete aus dem 18. Jahrhundert. Warum sehen Sie die Zukunft der Museen an ländlichen Standorten wie diesem?
MS: Wir merken, dass es ein verstärktes Bedürfnis nach Authentizität gibt. Die Leute, die sich für Kultur interessieren, wollen das erleben, was gewachsen ist, und Orte so sehen, wie sie in der Vergangenheit funktioniert haben.

Was sehen die Besucher hier, was sie in München nicht finden können?
Bernhard Maaz: Sie sehen hier zum Beispiel ein wunderbares kleines Bild von Hubert Robert und Werke aus dem Rubens-Umfeld. Aber vor allem sehen sie, wie eine Galerie im 18. Jahrhundert funktioniert hat, die Präsentationsform des Barocks wurde mit kleinen Anpassungen beibehalten. Das gibt es in der Alten Pinakothek in München nicht. Dort ist die Präsentation auf das Einzelkunstwerk ausgerichtet, hier geht es um das Zusammenspiel der Bilder und die Verbindung von Kunst und Raum. Das ist ein ganz anderes Kunsterleben.

Das Museum als Gesamtkunstwerk?
BM: Ja, hier sind die Werke in das Raumensemble eines Schlosses eingebunden. Wir haben die Wandspiegel, die Originaltapete, die Lüster und das Barockmobiliar aus dem 18. Jahrhundert. Das ist ein spektakuläres Erlebnis, ich liebe diesen Raum.

Bedeutet die Globalisierung der Museumswelt, dass sich die Wahrnehmung von Zentrum und Peripherie auflöst, oder kann man in der Flut von Kunsthäusern nur noch wenige Hauptstandorte überhaupt wahrnehmen?
BM: Wir in Bayern wollen deutlich machen, dass nicht nur München die Kunstschätze hat, sondern dass wir sie teilen. Schon im 19. Jahrhundert wurden Filialgalerien etabliert, weil die Münchner Bestände so reich waren.
MS: Wo der Louvre oder das Guggenheim mit ihren Standorten heute hinwollen, da war Bayern schon immer. Wir beobachten einen Trend, der auch mit Umdenken im Tourismus zu tun hat. In den 90er- und Nullerjahren war Kulturtourismus sehr stark an Städtereisen geknüpft, was die Etablierung von Zentren begünstigt hat. Heute wollen viele, verstärkt durch die Airbnb-Nachfrage, das normale Leben an einem Ort kennenlernen und interessieren sich mehr für den ländlichen Raum. Das Entdecken wird wichtig.
BM: Die Globalisierung hinterfragt Kulturzentren. Wir haben nicht nur Paris, Berlin und London im Auge, sondern merken, welchen Reichtum kleinere Orte bieten. Die Staatsgalerien in Bayern sind ein Gesamterlebnis aus Kunst, Architektur und Geschichte. In Burg­hausen hängt altdeutsche Malerei in einer Burg, in Ottobeuren Barockmalerei in einem Kloster. Wir möchten das überraschende Erlebnis vor Ort betonen. Als Adolph Menzel vor über 100 Jahren gefragt wurde, warum er in Italien nicht weiter als bis Verona gereist sei, sagte er: Ich bin mit Deutschland noch nicht fertig. Wir haben so ein reiches kulturelles Erbe. Wir sind damit noch nicht fertig.
 
Haben Museen auf dem Land eine andere Aufgabe als die in den Metropolen?
BM: Die Aufgabe der ländlichen Museen ist es, den jeweiligen Standort in seiner Spezifik zu erkennen und herauszuarbeiten. Genau das versuchen wir mit den Staatsgalerien in der Fläche.
MS: Diese Spezialisierung ist das, was viele Menschen suchen, wenn sie die Ballungsräume verlassen. Etwas, was es nirgendwo sonst gibt. Immer mehr Menschen wohnen in austauschbaren Städten, 2030 werden es 60 Prozent der Weltbevölkerung sein. Auf Reisen suchen Menschen in der Regel genau das Gegenteil von ihrer alltäglichen Lebenswelt. Viele wollen aufs Land, aber trotzdem Kultur erleben. Und dann sind wir bei Häusern wie Kochel am See oder Burghausen.

Herr Spantig, Sie sprechen allerdings auch von den "Punktesammler-Touristen", die globale Must-sees abklappern und sich dabei fleißig fotografieren. Wie viele Punkte auf der Neid-Selfie-Skala geben Sie den bayerischen Museen?
MS: Die Pinakotheken in München gehören für die Punktesammler im Selfie-Modus zum Pflichtkanon. Die anderen bayerischen Museen haben diese Menschen eher nicht auf dem Radar, und sie würden wahrscheinlich auch nicht hierherkommen. Sie sind nicht unbedingt unser Zielpublikum. Wir suchen Gäste, die Kultur zur Horizonterweiterung nutzen.

Wiedererkennbarkeit hilft, wenn man Publikum locken will. Müssen Museen heute Marke sein?
BM: Weltweit gibt es nur wenige Museen, bei denen das wirklich funktioniert, wie den Louvre oder das Guggenheim. Aber auch wir arbeiten an einer Strategie, den bayerischen Staatsgalerien eine neue Corporate Identity zu geben, die die Zusammengehörigkeit markiert. Jeder kennt die Pinakotheken in München und weiß: Das ist ein Hort des Guten, Wahren und Schönen. Wir wollen kommunizieren, dass wir diesen Reichtum teilen und das schon sehr lange tun. Wir benutzen den Namen Staatsgalerien, weil Pinakotheken ein qualifizierender Begriff für die Häuser in München ist.
MS: Letztendlich funktioniert das System wie bei Amazon: Kunden, die diese Staatsgalerie besucht haben, waren auch in Burghausen, oder Ansbach oder Füssen. Das kann man über das Branding vorantreiben.

Verträgt sich Amazon-Strategie mit dem Guten, Wahren, Schönen?
MS: Branding widerspricht nicht einem Wertanspruch. Im Gegenteil, es vermittelt einen Qualitätsanspruch, den man vorher formuliert hat. Ein Museum wird nicht besser oder schlechter, wenn es eine Brand wird.

Was können Museen in der digitalen Gegenwart sein? Sind sie analoge Gegenorte oder müssen sie vernetzter werden?
BM: Das ist ein riesiges Thema. Ich möchte, dass in unseren Museen fotografiert werden darf. Fotografieren ist Kommunikation und eine Technik des Memorierens, deshalb ist es zulässig. Das wirft natürlich Fragen nach Bild­rechten auf. Ich arbeite daran, dass bei uns auch da fotografiert werden darf, wo es bisher verboten war. Und ich arbeite nachdrücklich daran, dass in unserer Datenbank alle Werke der Sammlung abgebildet werden können. Die Präsenz im Digitalen ist notwendig und gehört zum Bildungsauftrag.

Geht beides: Relevanz in der Virtualität und das Museum als Kontemplationsort?
BM: Das Digitale wird immer nur eine Hinführung zum Original sein, davon bin ich überzeugt. Auf asiatischen Speisekarten sind die Gerichte abgebildet, aber die Bilder machen nicht satt. Sie zeigen nur, wo wir hinwollen. Digitale Bilder verdrängen nicht die Objekte, da bin ich unerschrocken.
MS: Instagram ist perfekt für den Kulturtourismus. Es gibt Anreize, die abgebildeten Orte tatsächlich anzuschauen. Das Museum kann in einer hektischer werdenden Welt durchaus eine entdigitalisierte Oase und trotzdem im Netz präsent sein.

Löst nicht spätestens die digitale Kunst diese Idee von der Aura des Originals auf?
BM: Es hat immer noch eine Relevanz, wo und wie wir Bilder sehen. Auf dem Smartphone sind Bilder austauschbar. Da laden Sie sich erst die Karte für Ihren Weg herunter und dann die Nachrichten. Das sind Bilder unter Bildern. Das ist im Museum anders. Dort sind die Bilder aus der Alltagswelt und Bilderflut herausgenommen. Museen verlangsamen auf beglückende Art. Das gilt auch für zeitgenössische Kunst, die unser modernes Leben reflektiert. Wir kommen um den Begriff des Sinns nicht herum. Bilder, wenn wir uns auf sie einlassen, führen zu Menschen und zu Themen wie Natur, Familie, Begehren und Tod. Diese universelle Qualität spricht zu Menschen, die immer auf Sinnsuche sind. Warum schauen wir Bilder an? Weil sie die Menschheitsfragen beantworten.
MS: Wir beobachten diese Sinnsuche auch im Tourismus. Leute gehen ins Kloster oder suchen anderswo Kontemplation. Dabei werden Museen auch in Zukunft eine große Rolle spielen. Bilder sprechen zu den Menschen. Im Museum viel mehr als zu Hause auf dem Smartphone, weil Museen einen Reflexionsraum bieten.
BM: Außerdem kommen die allermeisten Menschen nicht allein. Den Kommunikationsraum Museum kann man nicht digital ersetzen. Dann wird das Kunstwerk zum Enzym für Gespräche.

Denken Sie beim Kuratieren von Ausstellungen an Fotografierbarkeit?
BM: Wir denken darüber nach, wie die Kunst im Raum funktioniert. Aber wir werfen keine Köder aus. Da steht für uns Inhalt vor Marketingstrategien.

Man unterstellt dem digital überfütterten Menschen gern, dass seine Aufmerksamkeitsspanne kürzer wird – was heißt das fürs Museum?
MS: Ich glaube, das kann man nicht verallgemeinern. Die Zahl der Punktesammler-Touristen, die durch Museen durchrennen, wächst. Aber eben auch die Gruppe derer, die wirklich in einen Ort eintauchen wollen.
BM: Ich würde den Begriff des Publikums noch weiter differenzieren. Wir haben Kindergartenkinder, für die die Anfahrt schon eine Reise ist, Pubertierende, die geradezu ins Museum gezwungen werden, Rentner mit ihren Enkeln. Vielleicht war das Publikum noch nie so diversifiziert wie heute. Wir müssen Angebote für alle Bedürfnisse haben. Und sich in einem Museum etwas herauszusuchen, was einen anspricht, ist immer noch leichter, als den gewünschten Gebrauchtwagen im Internet zu finden.

Die Gesellschaft wird älter, trotzdem reden alle darüber, wie man junge Leute in die Museen bekommt. Geht das beides?
BM: Ja, das geht mit ein und demselben Museum. Es ist nicht so sehr eine Frage des Alters als des Bildungs- und Erfahrungshintergrundes. Die Vermittlungsstrategien sind elementar, und die wollen wir künftig auch in die Häuser auf dem Land bringen. Mir ist es wichtig, dass wir Räume der Begegnung haben, in denen Vermittlung stattfindet. In der Pinakothek der Moderne haben wir dafür auf einen Ausstellungsraum verzichtet. Unsere Generation von Museumsdirektoren hat im Blick, dass wir unsere Publika – im Plural – ansprechen.

Trotzdem wird das Museum immer noch als elitärer Ort wahrgenommen.
BM: Von innen wollen wir die Öffnung und wir leben sie auch. Mit Website, mit Online-Sammlung, mit einem Sonntagsangebot von einem Euro Eintritt. Das gibt es in Deutschland sonst nirgends. Wir arbeiten gegen diese Wahrnehmung mit allem, was wir haben.

Muss das Museum in Zeiten politischer Unruhe auch auf dem Land ein Diskursort sein?
BM: Das kann und sollte es zumindest sein. Kunst war immer politisch und Museen sind Teil von politischen Systemen. Kunst ist gut, wenn sie politische Implikationen hat, ohne notwendigerweise ein Manifest zu sein. Sonst überwiegt die Agitation das Menschheitliche und Ästhetische.
MS: Museen zeigen das, was Künstler geschaffen haben. Insofern sind sie nicht so sehr der Ursprung von politischem Diskurs, sondern Orte, die Diskurse abbilden und einordnen können.
BM: Die Aufgabe von Kunst heute ist, wertekritisch zu sein, das ist noch etwas anderes als politisch.

Müssen sich Museen nicht trotzdem auch mit ihrer eigenen politischen Rolle beschäftigen? Wenn wir beispielsweise an die aktuellen Debatten um Raubkunst denken …
BM: Die Komplexität von Museen hat in den letzten 20 Jahren enorm zugenommen. Deshalb ist die Öffnung hin zu solch wertekritischen Themen wie Provenienz und Ausstellungsgeschichte unerlässlich. In unserer Datenbank können Sie bei jedem Bild schauen, seit wann es bei uns ist. Wir wollen diese Informationen bereitstellen, damit die Fragen, wenn sie sich stellen, eine Antwort finden. Wenn Sie sich den Fall Gurlitt anschauen, ist es bemerkenswert, wie viel Aufmerksamkeit diese Themen in diesem Jahrzehnt bekommen. Wir werden an die Doppelnatur des Bildes erinnert. Das Bild ist Geist, und das Bild ist Geld. Wir werden auch in der fortschreitenden Digitalisierung nicht vom Objekt wegkommen.

Apropos Geld: Kann ein milliardenschweres Prestigemuseum wie der Louvre Abu Dhabi funktionieren?
MS: Es kann so funktionieren, wie das Guggenheim Bilbao funktioniert hat. Es gibt dort um das Museum herum noch viel anderes zu entdecken. Niemand wird deswegen nach Abu Dhabi fliegen, aber wer da ist, geht hin. Durch den Namen Louvre hat Abu Dhabi
Tradition gekauft. Das, was Bayern eben schon hat.