Fotos aus Beirut

13 Tage libanesische Revolution

Die Künstlerin Caroline Kryzecki hat auf ihrer Reise in den Libanon die Straßenproteste in Beirut erlebt und mit der Kamera festgehalten. Ein fotografischer Erfahrungsbericht

Tag vier in Beirut. In der Nacht kommt es zu Demonstrationen, da die marode und korrupte Regierung des am wirtschaftlichen Abgrund stehenden Landes die Besteuerung von WhatsApp-Nachrichten angekündigt hat. Tränengas, Gummigeschosse, brennende Barrikaden. Zwei syrische Arbeiter sterben in einem Gebäude, das angezündet wurde. Am Morgen liegt Rauch über der Stadt und schwarze Asche auf dem Balkon.

Freitag. Es ist still in den Straßen, eine nervöse Anspannung. Abends kann man sogar die Grillen zirpen hören. Von einer Ausgangssperre ist die Rede, und dass das Internet abgestellt werden soll. Beides tritt nicht ein. Die Demonstrierenden fordern den Rücktritt der gesamten Regierung. Premierminister Hariri fordert in einem 72 Stunden-Ultimatum seine Regierung auf, Lösungen zu präsentieren. Überall Militär.

Das öffentliche Leben steht still

Am nächsten Tag wollten wir Beirut eigentlich verlassen. Inzwischen sind alle wichtigen Straßen im ganzen Land blockiert. Wir kommen nicht mehr aus der Stadt. Ab jetzt haben alle Banken, Schulen, Universitäten, Botschaften, Museen und Galerien geschlossen. Zum Flughafen geht es, wenn überhaupt, nur noch per Moped, den Rollkoffer hinter sich herziehend durch den irren Straßenverkehr.

Wir hoffen, dass sich alles nach Ablauf des Ultimatums beruhigt, und wir dann endlich losfahren können. Wir wollten mit dem Mietwagen quer durch das kleine Land Libanon. Durch die Hisbollah-Gebiete und ins Bekaa-Drogen-Valley, von dem aus das Koks aus der Serie "4 Blocks" direkt nach Berlin geflogen wird. Die Tempel von Baalbek, die Architektur der Mamluken in Tripoli und so weiter.

Der Radius wird kleiner

Samstag. Unser Radius in der Stadt wird kleiner. Wegen der brennenden Barrikaden müssen wir uns schon am Nachmittag auf den Rückweg in unser Viertel machen. Wir sind spät dran und der Uber-Fahrer setzt uns vor einer Brücke ab, die er nicht passieren kann. Auf der Brücke liegen brennende Reifen, schwarzer Rauch steigt auf. Daneben eine Tankstelle. Passanten bedeuten uns, die Überquerung sei kein Problem, auch ein Polizist winkt uns durch. Ich weigere mich, über die Brücke zu gehen. Nun müssen wir über den Seitenstreifen des Highways zurücklaufen.

Immer mehr Menschen gehen auf die Straße. Die Demonstranten sprechen von zwei Millionen landesweit, in den Nachrichten ist die Rede von Hunderttausenden. Maroniten, Orthodoxe, Sunniten, Schiiten, Armenier, Drusen, Seite an Seite, Junge, Alte, Männer, Kinder. Vor allem aber ist es ein Protest der Frauen, die sich in Reihen zwischen männliche Demonstranten und Militär stellen. Es bleibt friedlich, die Stimmung ist euphorisch. Menschen tanzen zu Revolutionsmusik. Sprechchöre mit "Thawra, Thawra!" (Revolution, Revolution!) hallen durch die Straßen. Ein Meer von libanesischen Flaggen. Politische und religiöse Symbole sind verboten. Das gab es hier noch nie.

Hisbollah und Amal kapern die Demo

Montag. Nach der Ansprache von Hariri zum Ende des Ultimatums sind wir bei der Demonstration am Märtyrerplatz. Die Stimmung ist ausgelassen. Plötzlich taucht ein Moped-Korso von Männern mit gelben und grünen Flaggen auf. Eine Gegendemo der schiitischen Amal-Bewegung und der Hisbollah. Unsere libanesische Begleiterin wirkt panisch, wir müssen sofort von hier verschwinden. Amal und Hisbollah werden dann vom Militär aufgehalten. Viele von ihnen werden festgenommen. Es kommt zu Tumulten.

Der Demonstrant umarmt den weinenden Soldaten

Zwei Tage später, der siebte Tag der Proteste. Wir versuchen nun erstmals, Beirut zu verlassen, wenn auch nur zu der 20 km nördlich von Beirut liegenden Jeita Tropfsteinhöhle. Wir fahren über einen gespenstisch leeren Highway, dessen Blockade das Militär zuvor geräumt hat. Auf der Gegenspur sehen wir eine lange Kette von Militärfahrzeugen.

Der Besuch der Höhle tut gut, endlich raus aus der Stadt. Aber wir dürfen nicht zu lange bleiben, denn je später der Nachmittag, desto mehr Blockaden gibt es. Als wir uns auf den Rückweg machen und gerade auf den Highway fahren, höre ich eine aufgeregte Sprachnachricht von K, der uns mit aktuellen Sicherheitshinweisen der Deutschen Botschaft versorgt. Das Militär hat den Befehl erhalten, die vor der Stadt liegende Autobahnbrücke zu räumen. Wir sind bereits auf dem Highway und nähern uns dieser Brücke, auf der Hunderte Demonstranten stehen.

Der Highway ist mit Steinen blockiert. Wir fahren ab auf die Sea Side Road, mitten durch Dutzende Militärfahrzeuge, die sich an dieser Stelle sammeln, um gleich die Brücke zu räumen. Mir wird schlecht. Kurze Zeit später wird hier das Video eines weinenden Soldaten entstehen, der von einem Demonstranten umarmt wird. Das Militär räumt die Brücke friedlich, am nächsten Tag wird sie wieder blockiert.

Selfies auf dem Ei

Tag elf der Proteste. Demonstranten machen Selfies auf dem Dach der brutalistischen Bürgerkriegsruine "The Egg", die normalerweise geschlossen ist. Wir gehen in die Ruine des alten Theaters, die nun wieder geöffnet ist. Ich möchte bei Tag dort fotografieren, nachdem wir ein paar Tage zuvor in völliger Dunkelheit nur mit Handylampen hier durchgegangen sind, als auf dem Dach des Gebäudes die Revolution gefeiert wurde. Plötzlich ein lauter Knall, Steine krachen von der baufälligen Decke. Ein Mann rennt panisch Richtung Ausgang. Mit zitternden Knien verlasse auch ich das Gebäude.

16 Tage Beirut. 13 Tage Libanesische Revolution, die größten Proteste nach Ende des libanesischen Bürgerkriegs 1990. Auf dem Rückflug verfolgen wir "CNN". Premierminister Hariri kündigt seinen Rücktritt an. Ich träume noch immer jede Nacht von Beirut. Der Revolutionssong "Nehna el Thawra" der libanesischen Sängerin Julia Boutros hat sich in mein Gehirn gebrannt. Ich kann es kaum erwarten, wieder in den Libanon zu reisen.  

 

Hintergrund zu den Protesten im Libanon:

Die Proteste richten sich vor allem gegen die korrupten Eliten aus Politik und Wirtschaft, die eng miteinander verflochten sind. Sie haben den Staat durch Ausbeutung und Selbstbereicherung an den wirtschaftlichen Abgrund geführt. Politiker der dominierenden Parteien halten Anteile an staatlichen Unternehmen etwa im Energie- und Telekommunikationssektor. Das System der Selbstbereicherung der Staatspitze funktioniert zum Beispiel über Preiserhöhungen für Strom und Steuererhöhungen für Kommunikationsdienste. Zudem gibt es Vetternwirtschaft in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes. Aufträge, Jobs und Studienplätze werden häufig gegen Bestechung, über Beziehungen und entsprechend der konfessionellen Zugehörigkeit vergeben.

Nach der Rücktrittsankündigung von Premierminister Saad Hariri hat sich eine abwartende, gespannte Stimmung über das Land gelegt. Nach dem Abebben der Proteste begann die Rückkehr zur Normalsierung des öffentlichen Lebens. Doch die Gefahr eines wirtschaftlichen Kollapses ist nicht gebannt. Und die Angst vor dem staatlichen Ruin geht einher mit der Furcht vor Straßenterror der schiitischen Hisbollah und der Amal-Gruppen. Am Wochenende gab es erneut Proteste, für diese Woche ist ein Generalstreik angekündigt.