Christine Sun Kim in New York

Hören ist nicht gleich hören

In ihrer Kunst verbindet die Berliner Künstlerin Christine Sun Kim Gebärdensprache, Poesie und Humor – und erweitert so unser Verständnis von Kommunikation. Jetzt sind ihre Arbeiten im New Yorker Whitney Museum zu sehen

Wer glaubt, Gehörlose lebten in einer Welt ohne Ton, der sollte sich dringend mit dem Werk der Künstlerin Christine Sun Kim auseinandersetzen. Für die in Berlin lebende Kalifornierin Kim, der das New Yorker Whitney Museum gerade eine Retrospektive widmet, ist Ton alles. Und das, obwohl sie noch nie in ihrem Leben etwas gehört hat – jedenfalls nicht im Sinne unseres üblichen Verständnisses. 

Kims primäre Lebenserfahrung ist das Zurechtkommen in einer Welt, in der das Akustische als soziale Währung hoch im Kurs steht: hören, Töne produzieren, Worte artikulieren. Kim hat gelernt, es nicht als Defizit aufzufassen, dass ihr diese Währung nur begrenzt zur Verfügung steht. Stattdessen hat sie eine künstlerische Sprache entwickelt, die nicht nur die Privilegierung des Tons infrage stellt, sondern Reflexion darüber einfordert, was Ton eigentlich ist und wie gängige Systeme, ihn abzubilden, funktionieren. 

Kims Ausgangspunkt ist die US-amerikanische Gebärdensprache ASL (American Sign Language), die sie in Zeichnungen, Wandgemälde und Skulpturen übersetzt. Der Titel der New Yorker Ausstellung "All Day All Night" bezieht sich auf zwei Zeichnungen, welche die ASL-Armbewegungen für Tag und Nacht mit simplen Halbkreisen abbilden. In der Dehnung und auch der Unebenheit der Striche liegt eine überraschende Poesie und Musikalität. Solche Werke vollziehen einen Rollentausch: Die Betrachtenden sind plötzlich diejenigen mit einem Defizit.

Komplexität mit minimalistischer Schlichtheit 

Man wird in den Reichtum und die Komplexität der Gebärdensprache hineingezogen, in der Ton zu Bewegung wird, in der man Geräusche spürt und Ideen körperlich erfahren kann. Wie etwa in dem ebenso minimalistischen Werk "Pianoiss…issmo", in dem die Notation für einen zarten Ton ein kleinesp ist. Das p fächert sich zu einem Baumdiagramm auf, doch gleich wie viele ps sich aneinanderreihen, man kommt nie bei völliger Stille an – eine berührende Meditation. 

Kims Arbeiten haben die erstaunliche Kraft, Komplexität mit minimalistischer Schlichtheit zu verbinden. Die Wirkung wird noch verstärkt durch die Verspieltheit und den Humor, die sich durch das Werk ziehen und die für Kim zugleich eine Lebenseinstellung sind. Wenn man etwa die als Infografiken aufgearbeiteten Grade des Zorns betrachtet, die Gehörlose durch die Gedankenlosigkeit ihrer Umwelt im Alltag erfahren, identifiziert man sich nicht nur mit Kim, man kann auch über seine eigene mangelnde Sensibilität staunen.