Zeit für eine Neubewertung

Christo kennt keine Grenzen

Christo wird von Teilen des Kunstbetriebs abgetan als "Verpackungskünstler" und Kitschnudel. Dabei hat er - gemeinsam mit Jeanne-Claude - wie kein zweiter Künstler an der Entgrenzung der Gegenwartskunst gearbeitet

Eine D-Mark verlangte der Mann – heute würde ich ihn als Typ "Kreuzberg-Freak" beschreiben –, damit wir auf seine Klappleiter steigen durften. Eine Mark pro Person. Meine Eltern zahlten, denn nur so konnten wir über Tausende Menschenköpfe hinweg auf das riesige graue Stoffpaket schauen, das sich aus Berlins damals leerem Zentrum erhob.

Der verhüllte Reichstag von Christo und seiner Partnerin Jeanne-Claude traf, obwohl das Projekt über 20 Jahre in der Planung war, in jenem Sommer 1995 den Nerv der Zeit. Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazizeit, Kommunismus im Osten und Kapitalismus im Westen – sämtliche Staatsformen des 20. Jahrhunderts kristallisierten sich im Gebäude des Reichstags, und alle waren sie gescheitert.

23. Juni 1995, Berlin: Gewerbekletterer rollen die Verhüllungsplanen für den Berliner Reichstag vom Giebel des Bauwerks ab
Foto: dpa

23. Juni 1995, Berlin: Gewerbekletterer rollen die Verhüllungsplanen für den Berliner Reichstag vom Giebel des Bauwerks ab

Die Raveszene feierte das Ende der Geschichte im Endlosloop der Loveparade. Christos Kunstwerk war die Kinder- (für Ecstasy waren wir noch zu jung), Studienrats-, Taxifahrer- und Leiterverleiher-Version desselben Gefühls. Es machte die Vergangenheit spürbar und fragte zugleich sorgenvoll, in welche Richtung sich das wiedervereinigte Deutschland entwickeln, welchen Zielort dieses formlose Paket ansteuern würde. 

Zugleich verarbeitete der aus dem kommunistischen Bulgarien in den Westen geflohene Künstler seine Lebensgeschichte. Die Verbindung von Ort und Zeitgeschichte, Inhalt und Form, Persönlichem und Politischem speiste Christos Reichstagsverhüllung mit einer Dringlichkeit und einem spezifischen Nachwende-Berlin-Gefühl, das ich von wenigen anderen Werken kenne.

Beharrlichkeit und Konsequenz kennzeichnen sein gesamtes Œuvre: Schon Ende der 50er-Jahre arbeitete Christo mit Stoffen, Schnüren, Metallfässern. Ob er Alltagsgegenstände verpackt oder ganze Landschaften, Stoffbahnen in den Central Park hängt oder sein Publikum über das Wasser des Iseo-Sees laufen lässt – Christo macht die Welt als Kunst erfahrbar. Alles wird anders, alles wird ein bisschen gleich. 

Natürlich haftet seinen Großprojekten auch immer etwas Jahrmarkthaftes an. Christos Ansatz kennt eben keine Grenzen. Nicht die zwischen Natur und Kultur, dir und mir und schon gar nicht die des White Cubes. 99 Prozent der zeitgenössischen Kunst frönen dem Fetisch des Nicht-Verstehens: Die Künstler (Illusion der Individualität), die Sammler (Selbstbild des vitalen Impulsmenschen), die Kuratoren (Legitimation der eigenen Existenz). Christo pfeift auf die feinen Unterschiede und schafft stattdessen Schönheit, Spektakel, gute Laune.

Immer braucht man das nicht. Aber da seine Projekte meist ein Jahrzehnt oder länger in der Planung sind, ist kein Überdruss zu befürchten.