Hirst-Retrospektive in München

Es graust einen nicht besonders

Das eher unbekannte Museum of Urban and Contemporary Art in München zeigt die erste große Damien-Hirst-Retrospektive in Deutschland. Auf Schildern wird vor "verstörenden Inhalten" gewarnt. Das trifft zu - aber anders als gedacht

Um es gleich vorwegzunehmen: Es funktioniert. Unterstellt man nämlich einer Kunstausstellung wie der großen Damien-Hirst-Retrospektive in München, dass sie nicht zuletzt von der Zahl ihrer Besucherinnen und Besucher zehrt, dann läuft das hier in der Triple A-Lage in der Innenstadt ganz gut. 

Erreicht man das im Kunstbetrieb weit unter dem Radar fliegende, 2016 von dem Sammlerpaar Stephanie und Christian Utz gegründete Museum of Urban and Contemporary Art (MUCA) von Deutschlands Haupteinkaufsmeile her, kommt man an Hirsts Skulptur "Legend" (2011) vorbei – einer Pegasus-Statue ohne Reiter, die ganz entfernt eine Vorstudie Gunther von Hagens sein könnte. Die Anatomie des armen, geflügelten Mischwesens ist halbseitig freigelegt. Es graust einen aber nicht besonders. 

Wenige Meter weiter drängen sich die Menschen. Warten auf eine Führung in das dunkle Bunkergebäude, die es nun explizit auf ein Tänzchen mit dem Schauder anlegt – ein einziges, mit nur einem Kunstobjekt: klar, dem Schädel. Der Platinabguss eines menschlichen Kopfes, besetzt mit 8601 Diamanten, "For the Love of God" (2007), wird fast so aufwendig inszeniert wie die britischen Kronjuwelen im Tower of London. Die Zähne sollen "echt" sein. Nachdem man im Eingangsbereich des Bunkers andächtig einen Film zur Geschichte des Diamantschädels ansehen muss, folgt die Besuchergruppe ruhigen Schrittes der Führerin in die "Schatzkammer" ("Wer meinen Anweisungen nicht folgt, muss diesen Ort sofort verlassen."). 

Den Schädel im Porträtmodus fotografieren

Kinder dürfen zuerst hinein. Der Vorhang geht auf. Die Kameras der Smartphones glühen. Und bringen laut Anweisung gute Ergebnisse des Glitzerkopfes in der Dunkelkammer, wenn man im Porträtmodus fotografiert und die Belichtung manuell stark reduziert. Ruhe. Doch die Aura des Kunstwerks vermittelt sich nicht eindeutig. Ein Besucher fragt schließlich: "Ist das der echte Schädel oder eine Kopie?" Um Gottes Willen.

Es geht zurück aus dem Bunker. Hinein in die funktionale, loftige Ausstellungshalle, die auf drei Ebenen mehr als 40 Kunstwerke des britischen Künstlers zeigt. "The Weight of Things" – so der Titel der auf Hochglanz getrimmten Schau – möchte zeigen, dass Damien Hirst mehr zu bieten hat als nur seine beiden global bekannten Signature-Werke, zu denen auch der in Formaldehyd eingelegte, zerstückelte Vitrinen-Tigerhai zählt, der in der Mitte des Erdgeschosses seinen Platz gefunden hat. Traurig sieht er uns an, fast niedlich wirkt er hier nach den vielen Jahren in einer wässrigen Lösung der organisch-chemischen Verbindung. 

Zumindest ist der Hai nicht allein – weitere Beispiele dieser Formaldehyd-Skulpturen begleiten ihn, zum Beispiel Schafe, ganz oder in Teilen. Was dieser Ausstellung gelingt: Sie gibt den Betrachterinnen und Betrachtern einen konzisen Überblick von Hirsts serieller Herangehensweise. Seien es die "Spin Paintings" mit ihren Farbverläufen auf den Drehscheiben, deren Drehlärm der Halle einen Fabriksound unterlegt, seien es die maschinell anmutenden "Spot Paintings" oder auch die "Medicine Cabinets", überdimensionierte Medikamentenregale ("Die Idee war, einen Pillenschrank zu haben, der den Verbrauch einer einzelnen Person über ein ganzes Leben hinweg enthält, aber die Lebensdauert variiert" heißt es begleitend zu "The Rise, The Fall, The Rise" von 2007). Es gibt weitere Beispiele dieser Setzkastenästhetik: Pop art goes conceptualism?

"Schmetterlinge repräsentieren Liebe und die Seele" 

Als schnelle Scherze quittiert man Hirsts Objekte im Hauptraum des Untergeschosses, schmerzfrei. Unmengen an "Bold"-Waschmittelflaschen und –kartons: Warhol-Referenz oder -Abklatsch? Egal, jedenfalls nicht besonders "unverschämt“/„bold". Plastikbälle schwebend über Messerspitzen, also Bernoullis Science-Center-Experiment kombiniert mit Gewaltsymbol als "The Fragility of Love" (2000). 

Die naiv-heiteren, dick aufgetragenen, großformatigen "Spring Blossoms Blooming" (2019) bieten kaum Anlass zum Anhalten, sie könnten auch als Deko dienen. Und zu den Butterfly-Paintings von 2008 ("Butterfly with household gloss on canvas") heißt es schlicht: "Schmetterlinge repräsentieren Liebe und die Seele." 

Darf es noch etwas mehr sein? Gerne. Wieder draußen ist im Hinterhof "das größte Hirst Spot Painting der Welt" an einer Außenwand zu sehen. Es regnet.

Seltsam aus der Zeit gefallen

"ACHTUNG: Die ausgestellten Werke können verstörend wirken“ stand auf einem Schild als Warnung vor einer Fotografie, die eine brutale Abbildung zeigt. Das stimmte dort. Aber sonst? Hirsts Objekte wirken in ihrem überheblichen und arroganten Gestus heute anders verstörend. Seltsam aus der Zeit gefallen. Wo Hirsts exhibitionistische Feier des Kapitalismus früher noch ein bisschen provozierte, stimmt sie einen heute angesichts der Spürbarkeit von dessen Grenzen fast schon nostalgisch. 

"The Weight of Things" überfordert ds Publikum nicht, ist dabei transparent und schonungslos. The real Hirst: Jeder und jede kann sich dann selbst angesichts ikonischer Einzelwerke und Serien ein Bild des Künstlers machen. Manchmal funktionieren die alten Reflexe aber noch. Und so steht einigen am Ausgang auch mit bunten Farben auf die Stirn geschrieben: "A Hund isser scho, der Damien."