Regisseur David Lynch wird 75

Ein Erzähler, dem man nicht trauen darf

Der Regisseur David Lynch 2017 bei einem Filmfestival in Rom
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Der Regisseur David Lynch 2017 bei einem Filmfestival in Rom

Vor ihm hat es eine dermaßen brüchige Erzähllogik im Mainstream-Kino nicht gegeben: David Lynch ist ein hemmungsloser Fabulierer, der Meisterwerke der Phantastik geschaffen hat. Jetzt wird der Filmemacher 75 Jahre alt

Manche Filme ähneln einem störenden Knubbel unter der Haut, den man sein Leben lang nicht loswird, von dem man zeitweilig sogar befürchtet, er könnte sich als bösartiger Tumor erweisen. So ein Film ist "Eraserhead", an dem David Lynch zwischen 1972 und 1976 herumtüftelte. Ein Kultfilm, wie später "Blue Velvet" oder "Mulholland Drive". In seinem Spielfilmdebüt erzählt Lynch von einem Arbeiter namens Henry Spencer, der in einer alptraumhaften Industrielandschaft lebt, erstaunlich plötzlich Vater wird und sein missgebildetes Kind mit einer Schere tötet. Der Kindsmord geht Henry natürlich nicht aus dem Kopf, der Kopf aber fällt dem bedrückten Protagonisten während eines Varietébesuchs von den Schultern und wird in einer Fabrik zu Radiergummispitzen für Bleistifte – Eraserheads – verarbeitet.

In einem frühen, von der University of California 1979 produzierten Videointerview fasst ein studentischer Reporter "Eraserhead" als "Traum von dunklen und beunruhigenden Dingen" zusammen und fragt Lynch, ob er das "ein wenig erläutern" könne, worauf der Filmemacher unverbindlich lächelt und mit "Nein" antwortet. Bis heute verweigert Lynch jede Beteiligung an den Versuchen, sein Werk zu entschlüsseln, das nicht nur aus Kinofilmen und drei Staffeln der Fernsehserie "Twin Peaks" besteht, sondern auch musikalische Kompositionen, Möbeldesign, Gemälde, Zeichnungen und Installationen umfasst. 2007 präsentierte die Fondation Cartier in Paris eine 800 Arbeiten umfassende Soloschau des Künstlers, 2010 wurde ihm der Kaiserring der Stadt Goslar verliehen.

Der Ursprung

David Lynch wurde am 20. Januar 1946 im US-Bundesstaat Montana geboren. Sein Vater war als Agrarwissenschaftler für das US-Landwirtschaftsministerium tätig, was nicht nur dazu führte, dass die Familie häufig den Wohnsitz wechselte, sondern den Jungen früh mit der Natur in Kontakt brachte. Durch die Arbeit seines Vaters sei er "mit Insekten, Krankheiten und Wachstum in einer organischen Welt in Berührung" gekommen, erzählte Lynch. Der Schritt von der Zivilisation in die Natur ist auch in seinen Filmen meistens kurz, exemplarisch zeigt das die Herzattacke von Beaumont senior am Anfang von "Blue Velvet", ein Ereignis, von dem Lynch in wenigen Schnitten von einem wild umherspritzenden Gartenschlauch zu im Gras krabbelnden Käfern übergeht.

Nach dem High-School-Abschluss studierte Lynch ab 1964 an der Kunstakademie in Boston, brach nach einem Jahr ab, probierte sich an der Salzburger Sommerakademie von Oskar Kokoschka aus, reiste nach Paris und Athen – aber in Europa hielt er es nicht lange aus. Einige Gelegenheitsjobs an der US-Ostküste später begann Lynch 1965 ein Kunststudium in Philadelphia, malte, zeichnete und drehte erste Kurzfilme.

Weil es ihn überhaupt nach bewegten Bildern drängt, wechselt er 1970 ans American Film Institute (AFI) nach Los Angeles und studiert am dortigen Center for Advanced Filmstudies bis 1979. "Eraserhead", zuerst vom AFI gefördert, dann von Lynch mit finanzieller Unterstützung von Familie und Freunden fertiggestellt, stößt bei Mel Brooks’ neuer Produktionsfirma auf Begeisterung. Brooksfilms produziert Lynchs "Der Elefantenmensch" nach der wahren Geschichte des körperlich deformierten Londoners Joseph Merrick (1862-1890); das 1981 für acht Oscars nominierte Drama macht Lynch zum Shooting-Star in Hollywood. Erst 2019 kriegt er übrigens einen Ehren-Oscar, seinen trotz diverser Nominierungen einzigen Academy Award.

Meisterwerke und Meditation

Das vom italienischen Tycoon Dino De Laurentiis produzierte Science-Fiction-Spektakel "Dune" (1984) wird ein 52-Millionen-Dollar-Flop, aber mit der vergleichsweise kleinen Produktion "Blue Velvet" (1986) kann Lynch seinen Ruf als Arthouse-Regisseur festigen. Im Kino folgen "Wild at Heart" (1990), "Lost Highway" (1997), "Mulholland Drive" (2001) und, Lynchs bisher letzter Kinofilm, "Inland Empire" (2006), der komplett mit einer digitalen Handkamera gedreht und teilweise improvisierend ohne Drehbuch gefilmt wurde.

Nach "Inland Empire" machte der Regisseur vor allem Schlagzeilen mit seinem öffentlichen Einsatz für die umstrittene, von Maharishi Mahesh Yogi gegründete "Transzendentale Meditation". Lynch selber gründete 2005 eine Stiftung, die Schülern und Studenten das Erlernen dieser Meditationstechnik und des "Yogischen Fliegens" ermöglichen soll. In Berlin, hieß es seit 2006, wolle er eine "Universität für ein unbesiegbares Deutschland" errichten, auf dem Teufelsberg. Seit die Baugenehmigung für das Projekt ausblieb, hört man von Lynchs wirren Plänen allerdings nichts mehr.

Vielleicht konzentriert er sich künftig doch lieber auf Malerei, Drehbücher und Filme. Kino kann er. Abgesehen vom "Elefantenmenschen" (historisches Setting) und "Dune", der ins Fantasy-Genre gehört, sind alle Lynch-Spielfilme von einem sehr spezifischen Widerspruch zwischen gegenwärtig-realistischem Ambiente und delirierender Story geprägt. In den 1980ern hat sich in Hollywood die Erzählstrategie des "Mindgame-Movies" herauskristallisiert, die Seltsamkeiten der Story am Ende auf ein getrübtes Subjekt zurückführt, der/die sich die Geschichte mehr oder weniger eingebildet hat. Mit dem Zusammenbruch der wahnhaften Hauptfigur (oder einer Dorfgesellschaft wie in M. Night Shyamalans "The Village") wird schließlich die (fiktive) Ordnung wiederhergestellt. Nicht so bei Lynch, der seinem Publikum keinen finalen Twist, keine Rückkehr ins "Normale" gestattet.

Unaufgelöste Erzähl-Dissonanzen

Für die Verwandlung Freds (Bill Pullman) in Pete (Balthazar Getty) in einer Gefängniszelle in "Lost Highway" wird keine Erklärung serviert. Ein anderes krasses Beispiel für unaufgelöste Erzähl-Dissonanz ist der Rollenwechsel Naomi Watts’ von der reüssierenden Hollywoodschauspielerin Betty zur von Depressionen und Wahnvorstellungen geplagten Diane. Vor Lynch hatte es derartige Brüche in der Erzähllogik im Mainstream-Kino kaum gegeben.

Der erstmals bei Edgar Allan Poe auftauchende "unzuverlässige Erzähler" wird, anders als in der Literatur und in Mindgame-Filmen, bei ihm aus der Handlung ausgeschlossen. Der Erzähler, dem man nicht trauen darf, steht in seinem surrealen Werk außerhalb der Story und ist niemand anderes als David Lynch selbst – seine kategorische Verweigerung von Erklärungen darf also nicht verwundern. "Nein" heißt eigentlich "Ja" – zum hemmungslosen Fabulieren.

Nach "Twin Peaks: The Return", so raunt die Branche, wird Lynch 2021 mit den Dreharbeiten zu einem neuen Serie anfangen, die noch den Arbeitstitel "Wisteria" trägt. Es wäre seine erste Zusammenarbeit mit dem Streaming-Anbieter Netflix. Zuvor aber feiert David Lynch am 20. Januar seinen 75. Geburtstag. Wir gratulieren!