Bildbetrachtungen

Den Wald betreten

Caspar David Friedrich "Der Abend", um 1820/1821
Foto: gemeinfrei

Caspar David Friedrich "Der Abend", um 1820/1821

 

Kaum ein Moment ist so magisch wie der, in dem wir den Wald betreten und damit in einen Raum vorstoßen, in dem die menschlichen Gesetze plötzlich aufgehoben scheinen. Eine Untersuchung dieser besonderen ästhetischen Erfahrung, entlang von drei Gemälden

Einen Wald zu betreten, das ist ein Schritt, den man als Erwachsener oder Kind nicht tun kann, ohne ein Schaudern zu verspüren, ein Gefühl, das jeder kennt. Dieses Gefühl hat jedoch keinen Namen und wurde bisher kaum beschrieben. Gaston Bachelard widmet ihm in seiner "Poetik des Raumes", erstmals erschienen 1957, eine rätselhafte und anspielungsreiche Seite. Bachelard ordnet den Wald in die Kategorie der "inneren Unermesslichkeit" ein. "Diese 'Unermesslichkeit‘'", schreibt er, "entsteht aus einer ganzen Gruppe von Eindrücken, die nichts mit den Auskünften des Geografen zu tun haben. Man muss nicht lange in den Wäldern gelebt haben, um den stets ein wenig angsterfüllten Eindruck zu kennen, dass man in eine Welt ohne Grenze 'eintaucht'. Wenn man nicht weiß, wohin man geht, weiß man bald auch nicht mehr, wo man sich befindet."

Bachelard präzisiert diesen Grundzug weiter und bringt vorsichtig die Metaphysik ins Spiel: "Man fühlt, dass es hier anderes auszudrücken gibt als das, was sich objektiv der Beschreibung darbietet. Was man ausdrücken müsste, ist verborgene Größe, also eine Tiefe." Man fühle sich, so heißt es weiter, "vor einen 'wesenhaften' Eindruck gestellt, der nach seinem Ausdruck sucht (…). Wie könnte man besser sagen, dass man eine Unermesslichkeit auf der Stelle vor sich hat, wenn man 'den Wald erleben' will: die auf einer Stelle versammelte Unermesslichkeit seiner Tiefe."

Die porösen Ränder des Waldes

Wenn ich den Wald betrete, verliere ich den Horizont, den weiten und freien Blick, und doch empfinde ich eine Unermesslichkeit. Der Waldrand bedingt diesen Eintritt in eine Größenordnung, die nicht die des freien Himmels ist. Er stellt eine Unermesslichkeit des Nahen und nicht des Fernen dar. Aber der Rand ist nicht wirklich eine Grenze. Die Ränder sind porös. Normalerweise gibt es keine Absperrungen oder Checkpoints.

Wenn ich ein Gebäude durch den Haupteingang betrete, weiß ich, dass ich es auch wieder durch diesen Eingang verlassen werde. Wenn ich auf einen bestimmten Weg in ein neues Land einreise, ist es oft die gleiche Route, die ich auf dem Rückweg nehmen werde. Aber der Rand des Waldes ähnelt eher einem Ufer, da ich an einem Punkt eintrete, ohne jemals genau zu wissen, wo ich wieder herauskommen werde.

Versuchen wir, einen Schritt weiter zu gehen und den Wald zu charakterisieren, der mich jenseits des Randes erwartet. Wenn auch die Philosophie sich kaum damit beschäftigt hat, so können uns drei Gemälde dabei helfen, seine Eigenschaften herauszuarbeiten.

Asher Brown Durand "In the Woods", 1855
Foto: Metropolitan Museum of Art, gemeinfrei

Asher Brown Durand "In the Woods", 1855

Asher Brown Durand (1796–1886) gehörte zu einer Strömung der US-amerikanischen romantischen Malerei, die als Hudson River School bezeichnet wird. Diese in New York ansässigen Künstler machten Ausflüge in die Wälder Nordamerikas, in die Adirondack Mountains und manchmal sogar bis nach Kanada. Sie reisten durch weite, unberührte Wälder, die inzwischen größtenteils abgeholzt wurden.

Das Gemälde "In the Woods" (1855) ist mit 1,5 × 1,2 Metern recht groß. Das macht es immersiv und die erste Absicht des Künstlers ist leicht zu verstehen. Durand zeigt uns den Kreislauf des Lebens: Die auf dem Boden liegenden Stämme werden bald zu Humus werden, während Bäume kräftig in die Höhe wachsen und ihr Blätterwerk gegen die Wolken drücken. Der Tod ist unten, die Jugend oben, die Stämme stellen Quellen der Energie dar, die von unten nach oben streben.

Unbändige Vielfalt

Doch das Bild fordert den Betrachter auf andere Weise heraus: Es gibt keinen Weg. Wir sind daran gewöhnt, Straßen zu folgen, die erst angelegt, ausgehoben, gemauert und geteert wurden, bevor Fahrzeuge sie befahren können. In den Wäldern sind es, wie überall im Neolithikum, die natürlichen Übergänge, die den Wegen vorausgehen – nicht die Straße, die dem Übergang vorausgeht. Die Macht des Spaziergängers wird dadurch unglaublich gesteigert. Die Straße dirigiert uns, sie wirkt auf unsere Wege wie die Schiene auf den Zug. Aber beim Weg durch den Wald bleiben wir Schöpfer.

Schließlich bietet sich uns der Waldraum als das Unzählbare und Unbestimmbare dar. In den Städten gibt es viele architektonische oder gestalterische Details zu bemerken, aber alle diese Elemente wurden durch menschliche Arbeit entworfen, hergestellt und zusammengesetzt; das Vielfältige entspringt einem begrenzten Repertoire und einer Logik des Kollektivs.

Der Wald lässt uns eine Vielzahl an unbestimmten und kostenlosen Formen entdecken. Jedes Blatt, jeder Zweig, jeder einzelne Baum ist ein Hohn auf die Einfachheit der Raute, des Rechtecks oder des Zylinders. Hier sind wir mit Formen konfrontiert, die nie erfasst oder benannt wurden und die niemals in identischer Weise wieder auftauchen. Es ist, als ob wir eine Welt betreten, die so vielfältig ist wie unsere Fingerabdrücke.

Ebenfalls romantisch inspiriert ist das Gemälde "Der Abend" von Caspar David Friedrich (1821). Die Romantiker wurden von einer Eingebung in die Wälder getrieben: Sie suchten inmitten der Bäume nach Emotionen, die man zuvor nur in der Kirche erlebt hatte. Es gibt eine diffuse Religiosität des romantischen Waldes.

Das Interessante an diesem Gemälde ist jedoch, wie es die Überlagerung des Randes mit der Dämmerung hervorhebt. Wenn Sie einen Wald betreten, ist selbst am Tag die Helligkeit gedämpft, eine Frische stellt sich ein – selbst mittags bricht hier der Abend an. Jeder Waldrand fasst in sich das Gefühl der herannahenden Nacht zusammen.

Die Offenbarung des Archaischen

In einem seltsamen, monumentalen Werk namens "Philosophie" (1932) hat der Philosoph Karl Jaspers sich in einem Abschnitt dem zugewandt, was er als "Grenzsituationen" bezeichnet. Die Dämmerung ist eine dieser Grenzsituationen, da sie ein Gleichgewicht zwischen den beiden Grundtendenzen unseres Daseins, dem "Gesetz des Tages" und der "Leidenschaft zur Nacht", darstellt. Geometrie, Disziplin, Regelmäßigkeit, Vorhersehbarkeit, Quantifizierung und Transparenz sind legalistische und tageszeitliche Tugenden. Wenn wir die Grenze zur Dämmerung überschreiten, müssen wir sie aufgeben und das Chaos und den Traum, die Ungewissheit und den Rausch akzeptieren.

Auf der anderen Seite, so Jaspers, erwartet uns ein "liebendes und schauderndes Verhältnis zum Tod". Wir kommen aus einer Dunkelheit, an die wir uns nicht bewusst erinnern können – dem Mutterleib –, und wenn wir sterben, dringt kein Licht mehr in unsere Augen und die Welt in unserem Bewusstsein erlischt. Die Grenze zum Wald zu übertreten, in die Nacht einzutauchen, bedeutet, dieser Vernichtung zuzustimmen oder sie zu zähmen – daher ist ein wenig Furcht dabei.

Die beiden Spaziergänger, die in der Mitte von Caspar David Friedrichs Gemälde nebeneinandergehen – Freunde? Verliebte? –, stehen im Herzen der Unbehaglichkeitszone, in einem Zwischenraum, der zugleich süß und schrecklich ist.

Gustave Courbet "Le Ruisseau noir", 1865
Foto: gemeinfrei

Gustave Courbet "Le Ruisseau noir", 1865

Der französische Maler Gustave Courbet, ein Postromantiker und Realist, stellte häufig die Landschaften seiner Heimat Franche-Comté dar, insbesondere das Tal der Loue, in dem sich die Schlucht Puits-Noir befindet, die er mehrmals gemalt hat. Möglicherweise liefert Courbets berühmtestes Gemälde "Der Ursprung der Welt" (1866), das fast zeitgleich mit dem Gemälde "Le Ruisseau noir" aus dem Jahr 1865 entstand, den Schlüssel zur Lektüre.

Courbet stellte dabei in zweierlei Weisen "Vaginallandschaften" dar. Das Halbdunkel, die Feuchtigkeit, das Moos, das dunkle Laub, die Höhlen und ihre schattigen Mündungen eignen sich für unangebrachte Gedankenassoziationen, für Ausschweifungen der sinnlichen Vorstellungskraft. Courbet erotisiert das Unterholz und offenbart uns die intime Weite des Waldes: Er lädt dazu ein, unsere Triebe wiederzubeleben.

Bachelard deutet an, dass wir im Wald das "Ahnenhafte" (l’ancestral) erfahren, wobei er bei der Verwendung dieses Begriffs zu zögern scheint. Der Begriff "archaisch" wäre wohl vorzuziehen. Der Wald führt uns zu den elementarsten Leidenschaften zurück. Man ist dort Beute oder Raubtier. Wir spüren die Liebkosung der Blätter auf dem Gesicht, hören seltsame Geräusche, atmen säuerliche Gerüche ein. Wir knüpfen an den begehrenden Teil unseres Wesens an, der von der Urbanität verdrängt wird. 

Alexandre Lacroix ist Philosoph, Autor und Chefredakteur des französischen Philosophie Magazins. Lacroix unterrichtet Kreatives Schreiben an der Sciences Po in Paris und veröffentlichte zahlreiche Romane und Sachbücher, zuletzt "Apprendre à faire l’amour" (Allary Éditions, 2022)