Schipper und Lau über ihren Film "Victoria"

"Die Filmgötter müssen besoffen gewesen sein"

Kaum zu glauben: Regisseur Sebastian Schipper hat es mit seinem Team geschafft, den Spielfilm "Victoria" in einer einzigen Einstellung zu drehen. Während der Marathon des Kameramanns Sturla Brandth Grøvlen in einer einzigen Berliner Aprilnacht 2014 bereits mit einem Berlinale-Bären versilbert wurde, stehen die Deutschen Filmpreise (Verleihung: 19. Juni) noch aus. "Victoria" ist dort in sieben Kategorien nominiert. Frederick Lau winkt eine Goldene Lola als "bester männlicher Darsteller". Ein Gespräch mit Sebastian Schipper und Frederick Lau über ihr Wahnsinnsprojekt, über verlorene Jugend in Berlin und Dieter Kosslicks schlimmen Verdacht.

Sebastian Schipper, wenn man einen Film in einer einzigen Einstellung drehen will, muss man sich sicher in dem beschränken, was man zeigen will. Aber gibt es noch andere Gründe dafür, von einem Banküberfall zu erzählen – und ihn dann gar nicht zu zeigen?
Sebastian Schipper: Erstens geht es im Kino darum, das Wesentliche zu zeigen. Zum Beispiel kann man bei einer Hinrichtung die Kamera draufhalten. Ich würde jemanden filmen, der das sieht, vielleicht sogar einen Hund. Wir wissen ja, was passiert. In „Victoria“ haben wir das Wesentliche, das Herz, den Wahnsinn des Überfalls drin. Den Akt kennen wir aus 5000 anderen Filmen: wie ein Tresorraum gestürmt wird, dass da stapelweise Goldbarren rumliegen – eigentlich von Praktikanten golden angepinselte Pappteile. Aber was löst denn der Aufwand und das Explizite beim Zuschauer aus? Geht es nicht eher um das Erlebnis des Überfalls? Der zweite Grund liegt in der Titelfigur: Victoria ist die Fahrerin. Nur Amateur-Fahrer gehen beim Banküberfall mit rein, (brüllt) Mann, du bist der Fahrer, warte hier gefälligst!

Sie sprechen vom Wahnsinn. "Victoria" ist ja als solches eine Guerilla-Aktion, ein Anschlag des Regisseurs auf die konventionelle Filmherstellung.
Schipper: Ein Urgedanke des Projekts war, dass ich mir vorgestellt habe: Wäre ich beim lahmarschigsten Banküberfall aller Zeiten der Fahrer, würde ich mir trotzdem vor Aufregung in die Hose machen. Und dann sitzt du als Zuschauer im Kino und guckst dir halb gelangweilt, halb amüsiert irgendwelche Überfälle und Ballereien an. Mein Film sollte anders sein, er sollte was von diesem Irrsinn einfangen. Film wird handwerklich immer perfekter. Wir greifen auf eine Maschinerie zurück, die Fehler ausmerzt, aber damit vielleicht auch den Wahnsinn.

Frederick Lau, wie stark war für Sie als Schauspieler die Umstellung? Sie haben bisher nicht Theater gespielt, sind also an die Einteilung in relativ kurze Takes gewöhnt und kennen die langen Drehpausen dazwischen.
Frederick Lau: Man war ja praktisch nie aus der Szene raus. Es gab nur einen Moment, der einer Pause gleichkam. Die Kamera war bei Victoria im Café, die drei Jungs und ich saßen im Auto. Das war wie auf der Auswechselbank, wenn man jeden Moment mit dem Ruf des Trainers rechnet. Keiner sagte ein Wort. Nur diese Grundnervosität, die Du brauchst, um in der Rolle zu bleiben.

Wie war es hinterher, nach über zwei Stunden Aktion?
Lau: Du bist komplett erleichtert, aber freuen kannst du dich auch noch nicht. Weil man keine Ahnung hat, was wirklich passiert ist. War das gut oder schlecht? Für manche Momente konnte ich sagen: Das hat für mich funktioniert, weil es gelebt war.

Schipper: Das Unglaubliche an den Leistungen der Schauspieler und auch vom Kameramann Sturla Brandth Grøvlen ist es, das Vorher und Nachher auszublenden, sich in den Moment hineintunen zu können. Diese Präsenz kann nur entstehen, wenn es keine Eitelkeiten gibt, wenn alle solidarisch und respektvoll miteinander umgehen. Das hat sich fortgesetzt, im Team drumherum, in der Peripherie. Die Victoria-Darstellerin Laia Costa hat mir gesagt, sie habe nie ein so zusammengeschweißtes Team erlebt, eine so flache Hierarchie. Klar: eine steile Hierarchie schwächt die Motivation. Ich warte auf meinen nächsten Befehl und ess’ ein Käsebrötchen.

Inwieweit lässt sich der Echtzeitfilm "Victoria" mit Theater vergleichen?
Schipper: "Victoria" ist die Antithese von Theater. Beim Theater gibt’s keine Kamera. Auf der Bühne kannst du darstellen, in einen großen Resonanzraum hineinspielen, da ist die Geste, der Gedanke durchaus gefragt. Die Kamera hasst das! Sie sagt: Du lügst! Erzähl’ mir keinen Scheiß! Wie ein Gangster. Die Kamera ist eine Waffe. Warum grinsen und hampeln denn die Leute, wenn sie fotografiert werden? Weil sie eingeschüchtert sind. (Schipper brüllt Lau an. Lau grinst nur) Entspann dich doch, Mann! Ich hab’ dir gesagt, du sollst nicht gestresst sein. Hab ichs gesagt?! (Lau lacht) Vor der Kamera kannst du dich nicht schützen, musst dich ihr aber vollkommen öffnen. Sonst kann die Situation keiner nachempfinden. Ich habe zu den Schauspielern gesagt: Ihr müsst es fühlen, nicht darstellen.

Lau: Genau. Wenn man es fühlt, stimmt der Ausdruck automatisch. Vielleicht liegt mir das, weil ich weder im menschlichen Umgang noch beim Drehen ein Freund von Lügen bin. Ich glaube, dass es sofort bestraft wird, wenn du dich künstlich echauffierst, wenn du so tust als ob. Das sind doch im echten Leben auch immer die peinlichsten Leute. Aber man ist natürlich als Schauspieler immer nur so gut wie das Gegenüber. Du musst dein Gegenüber irgendwie lieben und ihm was schenken, dann harmoniert es und wirkt ehrlich.

Schipper: Wir leben in einem System, das uns die ganze Zeit erzählt, dass sich jeder um sich selbst kümmern soll. Versorg’ dich erstmal selbst. Es gibt ein Überangebot, was du alles trinken und essen und anziehen kannst. Aber so funktionieren Menschen nicht. Die Menschheit hat als Gemeinschaft überlebt. Als Horde, in der man sich gegenseitig schützt und etwas ziemlich Gewagtes auf die Beine stellt, habe ich auch uns alle bei diesem Film erlebt.

Was für eine Rolle spielt die Kamera? Die ist auf Tuchfühlung mit den Figuren, muss sich aber unsichtbar machen. Was schon ein irrer Hürdenlauf für alle ist: nie sieht man ein Spiegelbild der Kamera und auch die Schauspieler schaffen es, in über zwei Stunden nicht annähernd in ihre Richtung zu blicken.
Schipper: Sturla Brandth Grøvlen und ich haben ganz früh gesagt, dass die Kamera wie ein Kriegsreporter sein soll. Sie ist embedded, immer im Getümmel, nie zu kontrolliert. Der Film „Birdman“ von Alejandro González Iñárritu ist ja ebenfalls als One-Take konzipiert – mit unsichtbaren Schnitten –, und obwohl ich ihn großartig finde, hat die Kamera dort einen ganz anderen Gestus als bei "Victoria". Die Kamera in "Birdman" ist der Boss, vielleicht Gott. Bei uns ist sie ein nicht sehr selbstbewusster Typ, ein kleines Ego, das sich mit in die Katastrophe reißen lässt.

Ohne Victoria, die aus Spanien kommt, kein Deutsch kann, eine Fremde in Berlin geblieben ist und sich plötzlich als Fahrerin eines Überfallkommandos am Steuer wiederfindet, wäre die Geschichte nicht so stark. Hat sich die einzige Frauenfigur bei der Konzeption verändert?
Schipper: Sie hat mit der Zeit an Gewicht gewonnen, aber vor allem an Charaktertiefe. Entsprechend dem Satz "Ich schreibe ein Buch um zu lesen, was drinsteht", begreife ich erst im nachhinein, was das für eine Figur ist. Für Victoria ist es entscheidend – mehr als für alle Anderen – diese Bank zu überfallen. Weil sich ihr die Chance bietet, ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Jahrelang hat sie die Regeln befolgt, als Klavierschülerin am Konservatorium bis zum Umfallen geübt, immer war sie ein braves Mädchen. Die Tat ist ihre Rettung, das spürt sie. Aber der Preis ist hoch. Doch diese Ambivalenz interessiert mich natürlich, dadurch fängt die Geschichte an zu vibrieren. Jemand hat mich einmal gefragt, ob ich Filme für den Kopf oder fürs Herz mache. Meine Antwort: Fürs Nervensystem. Dem entspricht der Caveman-Style von "Victoria" vielleicht am deutlichsten. Als Kinder haben wir Winnetoufilme geguckt, sind danach raus und haben die Geschichten im Garten nachgespielt.

In "Victoria" spielen sie ja auch Krieg: Vor dem Überfall werden Victoria und die Jungs vom Gangsterboss Andi mit Drogen gedopt wie Wehrmachtsoldaten. Und gegen Ende des Films inszenieren Sie eine Art Häuserkampf in Berlin Mitte. Sind das bewusste historische Referenzen?
Schipper: Nein, aber auch keine falschen Beobachtungen. Der Grundgedanke ist, dass junge Menschen, egal, in welchem politischen, militärischen oder religiösen System sie stecken, praktisch immer verarscht werden. Mit ihrer Euphorie, mit ihrem Glauben an das Gute werden sie missbraucht, für Gott, für den Führer, für wen auch immer. Die Jungs im Film werden mit der Idee von Würde, Ehre, Respekt geködert und dann benutzt. Du schuldest mir was, sagt der Gangster Andi zu Boxer, und die anderen helfen dem Freund in Bedrängnis, für die ist das selbstverständlich.

Wie ist das für Ihre Figur, die Sonne genannt wird?
Lau: Als Frederick Lau habe ich erstmal gedacht: Nur Vollidioten überfallen eine Bank. Würde ich nie tun. Ich habe Sebastian sogar spätabends mal angerufen und gesagt: Wir können doch keine Bank überfallen. Verstehen Sie, ich brauchte eine Motivation für meine Figur. Der Grund, einem Freund aus der Patsche zu helfen, hat sich dann überzeugend angefühlt. Einmal sagt Sonne zu Boxer: "Ich hasse dich". Das ist aber ein Liebesgeständnis, einer der schönsten Momente für mich. In dem Moment kommt Sonne aus der Schlinge nicht mehr raus.

Schipper: Das war die Idee, ab einem gewissen Moment einen Mahlstrom zu erzeugen, die Geschichte ins Rotieren zu bringen, dass jedem klar wird: hier kommt keiner mehr raus.

Reden wir noch einmal über die logistische Seite eines Films in einer einzigen Einstellung. Unglaublich, dass so etwas funktioniert.
Schippper: Wir haben ja dreimal, in drei Nächten den ganzen Film in einer Einstellung gedreht. Aber der letzte Take war der einzige, der wirklich in allen Belangen überzeugte. Da unser Etat begrenzt war, hätten wir das Projekt ohnehin beenden müssen. Plan B war, den Film aus drei Einstellungen zusammenzuschneiden. Aber am 27. April 2014 zwischen 4:30 und 7:00 Uhr hat der One-Take tatsächlich geklappt. Die Filmgötter müssen in dieser Nacht besoffen gewesen sein. Es gab seltsamerweise nur wenige Beinahe-Pannen und Schrecksekunden. In einer ziemlich frühen Szene lief ein zufälliger Passant – es gab viele Statisten – durchs Bild. Der ist ohne Blick auf die Kamera weitermarschiert, ein echter Berliner, der wohl dachte: Ick will ma’ keen Spielverderber sein. Naja, und einen Fast-Supergau haben wir erlebt, als sich die Darsteller mit dem Auto verfuhren. Ich liege hinten im Wagen und schreie nach vorne: Falscher Weg! Und dann biegen die in eine Einfahrt ein, in der Kranken- und Polizeiwagen sowie Teammitglieder mit Kaffeebechern auf ihren Einsatz 20 Minuten später warten. Unser Kameramann Sturla hat das geistesgegenwärtig mitbekommen und die Kamera auf Freddy geschwenkt.

Das Geschrei des Regisseurs hört man im fertigen Film aber nicht.
Schipper: Weil wir natürlich mit dem Ton sehr viel gearbeitet haben. Das ist neben der großartigen Kameraarbeit auch ein Grund, warum "Victoria" ein Kinofilm und kein Experimentalfilm ist. Der Film hat eine großartige Akustik. Die Musik spielt natürlich auch eine große Rolle. Und sie ersetzt die Montage, besonders an zwei Stellen. Durch die Off-Musik hat man das Gefühl, in diesen zwei Szenen würden mehrere Stunden verstreichen. Aber das ist ohnehin das Seltsame an so einem filmischen Zeitkontinuum. Die 2 Stunden 14 Minuten fühlen sich wie mindestens 5 Stunden an.

Würden Sie noch einmal einen One-Take drehen?
Lau: Nur mit Sebastian Schipper. Aber ich fürchte, der macht es nie wieder.

Schipper: Lieber nicht. Lass das mal andere noch einmal versuchen. Das gibt’s nur einmal im Leben, das einem so etwas gelingt. Daher nehme ich niemandem übel, der behauptet: Ich weiß, wo ihr geschnitten habt. Dieter Kosslick hat mich am Tag der Berlinale-Gala angesprochen: "Sebastian, es ist jemand zu mir gekommen und der hat gesagt, 'Ich habe Informationen, dass dreimal geschnitten wurde'." Herrliche Formulierung: Ich habe Informationen. Nun kennen wir alle diese Verschwörungstheorien. Man weiß eigentlich nie, was die Wahrheit ist. Aber diesmal kenne ich die Wahrheit. Yeah.