"Die Giacomettis" im Kino

Eine Familie im 20. Jahrhundert

Sie waren Maler, Bildhauer, Architekten und Gestalter: Die Filmemacherin Susanna Fanzun wirft einen Blick auf die Familie Giacometti, die aus einem engen Alpental in die weite Welt gewirkt haben

Zeitweilig rückt Alberto Giacometti, der berühmteste Spross der Familie, erwartungsgemäß in den Vordergrund des Films. Schließlich zählt der Schöpfer extrem existenzialistisch-langgestreckter Figuren zu den bedeutendsten Bildhauern des 20. Jahrhunderts. Aber die Filmemacherin Susanna Fanzun widmet sich in ihrem Dokumentarfilm "Die Giacomettis" eingehend auch den anderen Familienmitgliedern. Giovanni Giacometti, der Vater, war Maler, seine Frau Annetta bekam vier Kinder: Alberto, Diego, Ottilia und Bruno, die sich alle mehr oder weniger der Kunst widmeten.

Das Bergell, ein enges Alpental in der Südschweiz, liegt für drei Wintermonate im Schatten. Der liebe Gott, so geht die Legende, bedauerte die Talbewohner so sehr, dass er ihnen die reich talentierten Giacomettis schenkte, als Lichtblick und Wiedergutmachung sozusagen. In Wahrheit wäre Giovanni (1868-1933), der sich zur Malerei berufen fühlte, beinahe an der Enge und Lichtarmut des Tals zerbrochen. Mit seinem Freund Cuno Amiet ging er für ein paar Jahre nach Paris und lebte einige Zeit in Italien, wo er sich mehr schlecht als recht als Maler durchschlug.

Giacometti hungerte und wurde krank, sah sich gezwungen, ins Bergell zurückzukehren. Er überwand seine Krise, lernte die karge Schönheit seines engen Tals zu schätzen und gründete mit Annetta eine Familie. Seine gewachsene Begeisterung für die heimatliche Umgebung wusste Giovanni Giacometti auf seine Kinder zu übertragen. Weder Alberto noch Diego, Ottilia und Bruno haben mit der Heimat gehadert wie es bei ihrem Vater noch der Fall war.

Die Regisseurin ging bei der Familie ein und aus

Susanna Fanzun wuchs im Nachbartal Engadin auf. Die Filmemacherin schildert, wie sie schon als Kind die Märchenbuch-Illustrationen von Giovanni Giacometti liebte. Bereits 2002 hatte Fanzun eine Kurzdokumentation über Alberto gedreht. Einige Interview daraus sind in den aktuellen Film eingeflossen. Seitdem sind einige Gesprächspartner, die bei den Giacomettis ein- und ausgegangen sind, verstorben, darunter eine Nachbarin und die Haushälterin der Familie, die erzählt, dass sie zwar das Essen vorbereiten durfte, dass die gestrenge Annetta sie aber nie an den Herd ließ. Giovanni sei zu weich gewesen, um die Kinder zu erziehen, fügt die Nachbarin in einem ebenfalls 20 Jahre alten Interview hinzu. Annetta sei für die Erziehung verantwortlich gewesen.

Vor allem Alberto und Diego konnten sich dem starken Einfluss der Mutter zeitlebens kaum entziehen. So akzeptierte Annetta zwar Albertos Ehefrau Annette, konnte aber mit Diegos Freundin Nelly nichts anfangen, was dazu führte, dass sich Diego irgendwann von ihr trennte. Mit Alberto war der zweitälteste Bruder sehr eng, aber Diego litt darunter, dass Alberto – dessen Ausnahmebegabung sich früh zeigte – von der Mutter bevorzugt wurde. Als Kind steckte Diego seine Hand in ein Dreschrad – er verlor dabei zwei Finger –, um etwas mütterliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

1925 folgte Diego seinem Bruder Alberto nach Paris, wo sie das berühmte Atelier in der rue Hippolyte-Maindron 46 teilten. Nach dem Tod Albertos – der Bildhauer und Maler stirbt 1966, nur drei Jahre nach dem Tod der Mutter Annetta – tritt Diego, als Designer, etwas aus dem Schatten des großen Bruders. Farah Dibah beauftragt ihn exklusiv mit der Ausstattung eines neuen Palastes im Iran, Mitte der 1980er gestaltet er das neue Musée Picasso in Paris. Er stirbt im Juli 1985 und erlebt die Eröffnung nicht mehr.

Haus in Borgonovo fester Bezugspunkt für die Söhne

Ottilia, die als einzige Tochter weniger gefördert wird als ihre Brüder, beschäftigt sich zeitweilig mit Textilgestaltung. Sie stirbt nur 32-jährig, wenige Stunden, nachdem sie einen Sohn geboren hat, an einem Herzinfarkt. Dem jüngsten Kind von Giovanni und Annetta ist ein langes Leben beschieden: Bruno Giacometti (1907-2012) feiert Erfolge als Architekt ("Ich habe mich nie als Künstler gesehen"), seinen internationalen Durchbruch erlebt er 1952/53 mit dem Bau des Schweizer Pavillons der Venedig-Biennale.

So lange Annetta lebt, bleibt das Haus in Borgonovo fester Bezugspunkt für die Söhne. Eindringlich arbeitet Susanna Fanzun die innerfamiliären Beziehungen und das Konfliktpotential heraus. Konkrete Einflüsse auf das jeweilige Werk werden skizziert, aber nicht vertieft. Vielleicht ist das gut so, schließlich gilt besonders für Alberto, dass sich seine Kunst nicht erschöpfend aus den Lebensbedingungen im Bergell erklären lässt. 

"Dazu ist Giacometti zu sehr eine internationale Figur", sagt der (im vergangenen April verstorbene) Schweizer Kunsthändler Eberhard Kornfeld, der mit Alberto befreundet war. In kurzen Spielszenen streift Fanzun die Begeisterung des jugendlichen Künstlers für die Alten Meister. Das Werk Auguste Rodins entdeckt Alberto in einem Buch, für das er sein ganzes Erspartes ausgibt. 

Tiefe Verbundenheit der Giacomettis

Der Film spart auch Albertos Vergewaltigungsfantasie nicht aus, die er in Texten preisgab: Als Jugendlicher habe er geträumt, er dringe in ein abgelegenes Schloss ein, ermorde zwei männliche Bewohner und vergewaltige und töte zwei Frauen, die dort lebten. In bester Laune sei er aufgewacht. Fanzun zitiert die Passage, deutet Abgründe an, ohne sie weiter zu vertiefen. Oberflächlichkeit sollte man der Filmemacherin, die sich hier dem Beziehungsgeflecht einer ganzen Familie widmet, nicht vorwerfen. 

"Die Giacomettis" lebt nicht zuletzt von den zahlreichen Briefen, aus denen zitiert wird, welche die tiefe Verbundenheit der Giacomettis zueinander immer wieder unterstreichen. Allerdings wirken die – häufig aus der Drohnenperspektive gedrehten – Filmbilder des Bergell oft viel zu schön, um wahr zu sein (Kamera: Pierre Mennel).

Warum es bei aller Heimatverbundenheit nötig war, dem Tal zu entfliehen, begreift man angesichts der sonnigen Hänge und schneebedeckten Berggipfel nicht wirklich. Da klaffen Giacometti-Lebenswirklichkeit und visueller Stil doch sehr auseinander.