Der Künstler und der Geniekult

Hat Beuys den Mund zu voll genommen?

Das Bild "La rivoluzione siamo Noi", das Joseph Beuys zeigt, hängt hinter Vitrinen an der Wand. Zum 100. Geburtstag hat der Künstler Tony Cragg über 20 Werke von Beuys für die Ausstellung "Joseph Beuys - Perpetual Motion" zusammengestellt. Die Ausstellung findet vom 28.03. bis 20.06.2021 im Skulpturenpark statt
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Das Beuys-Porträt "La rivoluzione siamo Noi" in der Ausstellung "Joseph Beuys - Perpetual Motion", die bis Juni im Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal zu sehen ist

"Die Revolution sind wir", sagte Joseph Beuys. Aber waren wir jemals wirklich Teil dieser künstlerischen Umsturzpläne? Eine Selbstbefragung zum 100. Geburtstag des Künstlers

Che Guevara, die Beatles auf dem Zebrastreifen der Abbey Road, Joseph Beuys’ "La rivoluzione siamo Noi". Das war sie einmal, die Plakat-Grundausstattung an der schrägen Wand im Dachzimmer. Wie der Bekenntnisschmuck zusammenkam, könnte niemand mehr sagen. Es muss mit der Aufbruchsseligkeit einer Epoche zu tun gehabt haben, die so tief im Brunnen der Vergangenheit ruht, dass sie auch ein Thomas Mann mit all seiner Erzählkunst nicht mehr plausibel machen könnte. Aber Joseph Beuys hat mal dazugehört, und daran darf man im Jahr seines 100. Geburtstags schon noch einmal erinnern.

Das Plakat, auf dem der Mann mit Weste, Hut und Anglerstiefeln auf uns zumarschiert, als wollte er uns in ein paar Schritten überrennen, ist 1971 entstanden. Beuys war damals 50. In der Szene längst ein Star, für den weniger anspruchsvollen Geschmack ein Lebendbeweis der völlig durchgeknallten zeitgenössischen Kunst. Wer daran schuld war, dass sich der Mann wie ein Jean d’Arc beim Künstlerkreuzzug in Szene setzte, ist nicht überliefert.

Die handschriftliche Selbstzuschreibung zur Revolution stammt jedenfalls von Beuys selbst. Der hatte damals eine Ausstellung bei Lucio Amelio in Neapel. Einem Kunsthändler mit den typischen Manieren des italienischen Granden, immer umgeben von smarten ragazzi, auch als Produktmanager bei Armani oder Trussardi hätte er bella figura gemacht. Mit seiner Modern Art Agency bezog er den zweiten Stock im noblen Palazzo Partanna an der Piazza dei Martiri. Unten gab es einen Schaukasten. Dort hing das Plakat. "La rivoluzione siamo Noi". Wer um die Ecke ging, zu Alberto und seinen cornetti al cioccolato, sah nach oben und dachte sich seinen Teil.

Der Atelierkünstler, introvertiert, versunken

Lucio Amelio ist tot. Alberto ist tot. Joseph Beuys ist tot. Und die rivoluzione? Sind wir noch dabei? Waren wir jemals wirklich eingeweiht in die künstlerischen Umsturzpläne? Es gab ja doch mal einen Beuys vor Beuys. Den Atelierkünstler, introvertiert, versunken in seine Idiosynkrasien, eingesponnen in den Mythos, als den er sein Leben entworfen hat, erfinderisch in der raunenden Selbsterzählung, in der es kein Mittun in der Hitlerjugend gab und die Kriegsteilnahme zur schamanistischen Heilserfahrung geriet. Wer Beuys in den 1950er-Jahren erlebt hat, hat dem Mataré-Schüler beim Grabsteinmeißeln zugesehen und hätte nicht behaupten wollen, dass sich der Kandidat besonders auffällig gegeben habe – zumal in einer Zeit, die sich lieber hochgemut duckte, als Verantwortung für die Verstrickungen in den Faschismus zu übernehmen.

Auch als er anfing, Kunst auf eigene Rechnung zu machen, war es nicht viel anders. Der herzlich raubeinige Düsseldorfer Galerist Alfred Schmela nahm Beuys, dessen Zeitgeisttauglichkeit sich rasch herumsprach, mit ins Hinterzimmer, wo der eine Zigarren rauchte und der andere Zigaretten. Und vielleicht ist da ja das Geheimnis geboren. Immer war so ein seltsames Geheimnis um die ersten Beuys-Ausstellungen. Das Gräuliche, die kolossale Stille, die zarten Figurationen auf den Zeichnungen, diese Reliquien zeremonieller Fluxus-Aktionen hinter Glas, die Gerätschaften aus Kupfer, Blei und Filz, und ein Aliquot Talg war auch immer dabei.

Ereignisse monströser Bedeutungsverweigerung

Das alles hat ziemlich Eindruck gemacht. Nicht wenige waren sprachlos angesichts eines zuinnerst sprachlosen Kunstanspruchs. Es waren Ereignisse monströser Bedeutungsverweigerung. Verhangene Feste des Erbärmlichen, das mit immer nach Moll gestimmter Formengebärde um Erbarmen warb. Damals gab es noch keine rivoluzione, dafür umso nachhaltigere Rätselbilder, als seien sie allesamt aus einem unzugänglichen Irgendwoher beschafft.

Sehr bald freilich ist aus dem arkanen Off ein mächtiger Hallraum erwachsen. Spätestens, als Joseph Beuys 1961 vom Düsseldorfer Akademiekollegium auf den "Lehrstuhl für monumentale Bildhauerei" berufen wurde, änderte sich alles. Und der Lehrer entdeckte das Geheimnis der Gefolgschaftsmehrung durch unangepasstes Verhalten. Vor allem gab es jetzt immer die Tonspur, die bis zu Beuys’ Tod 1986 alle künstlerischen Auftritte begleiten sollte. Ohne Welterklärung war die Selbsterklärung nun nicht mehr zu haben.

Von Begegnung zu Begegnung wurde sie offenkundiger, diese vorzügliche Eignung zur rhetorischen Beglaubigung eines quellenden Sendungsbewusstseins. Und die Art, wie Beuys künstlerisch handelnd dozierte und seine Seminare in Kunst verwandelte, war durchaus gute Unterhaltung. Befremdlich nur, wie der mit einem Mal aus der Öffentlichkeit gar nicht mehr wegzudenkende Künstler bei seinen Ausgriffen aufs große Ganze eine Gemeinde um sich scharte, deren Ergriffenheit schon von evangelikalem Zuschnitt war. Und wenn man heute noch einmal das Revolutionsplakat aus dem Archiv holt, dann scheint es noch immer so, als führe der Held ganze Scharen von unsichtbaren Gläubigen an.

Aufschäumende Lehre und schöne Menschenfreundschaft

"Denken als Kunst". "Soziale Plastik". "Jeder Mensch ein Künstler“". "Kunst = Kapital". Die Beuys-Philologie gab sich alle Mühe, die Parolen ins System zu bringen und aus der aufschäumenden Lehre die schöne Menschenfreundschaft und den ökologischen Sanftmut abzuschöpfen. Man muss nur die alten Kataloge aufblättern, um die ganze Vergeblichkeit zu vergegenwärtigen, mit der die interpretierende Zunft dem immer weniger fassbaren Künstler hinterherdachte.

Während sie noch an dieser oder jener Sinnstelle verharrte, war er schon wieder unterwegs und legte auf einer USA-Reise einen "Energy Plan for the Western Man" vor, traf sich mit Willy Brandt, erklärte dazwischen dem toten Hasen die Bilder, kandidierte mit seiner "Aktionsgemeinschaft unabhängiger Deutscher" für den Bundestag, erarbeitete das Konzept für einen "internationalen freien Kunstmarkt", verband das Messer, mit dem er sich in den Finger geschnitten hatte, besprach mit dem Dalai Lama einen Wirtschaftsplan für Tibet, hat sich im Filzmantel mit einem etwas gelangweilten Kojoten in einen Käfig sperren lassen, nannte sich eine Saison lang "Josephanacharsis Clootsbeuys" und ließ dabei von den letzten Fragen der Menschheit keine einzige aus.

Immer war da dieses Angestrengte, die Zuständigkeit für die endliche Wiederversöhnung der auseinandergefallenen Welt dank ästhetischer Langzeittherapie. Seinerzeit saß man noch nicht im Stuhlkreis, und keine Trainerin hat gesäuselt, wie es einem damit ginge. Dafür drängte man sich auf den Holzbänken im Frankfurter Kunstverein, und der Mann mit der Tafel auf dem Dreifuß erzählte in seinem weichen rheinischen Slang vom Ausgleich der Gegensätze, vom Elend des westlichen Denkens, in dem alles in unversöhnlichen Oppositionen entgegengesetzt sei. Es käme darauf an, die "Begriffe weich zu machen" und so die Widersprüche aufzulösen. Und dabei fiel der Blick auf die vorzugsweise weichen Werkbaustoffe Filz und Fett, und man war sich sicher, Beuys nun endlich verstanden zu haben.

Ein bisschen Demeter-Gemüseanbau bei Vollmond

Dabei hat die mentale Hinneigung des Künstlers zur Anthroposophie schon früh auffallen müssen, und ist auch hinlänglich beschrieben worden. Nicht umsonst hat er in der Schweiz, im Umkreis des Rudolf-Steiner-Tempelorts Dornach, ein ganz besonders hingebungsvolles (Sammler-)Publikum gefunden. Und ein bisschen was vom Demeter-Gemüseanbau bei Vollmond und um Mitternacht haben Beuys’ lectures ja immer gehabt. Wenn man das alles vergnügt Revue passieren lässt, dann mischt es sich zum angenehmen Gedächtnisinhalt, aber gewiss nicht zur Botschaft mit dem Haltbarkeitsversprechen einer Dauer konserve.

Lässt sich mittlerweile sagen, was "La rivoluzione siamo Noi" den Nachgeborenen bedeuten könnte? Vielleicht doch nicht so viel, wie man in besten Beuys-Jahrzehnten noch gehofft hatte. Zumal die Sache mit der Revolution ja noch nie wirklich geklappt hat, und bei entschlossener Revolutionsverheißung sämtliche Smartphones unverzüglich Alarm vibrieren. Mag schon sein, dass Beuys im fernen Jahr 1971 den Mund etwas zu voll genommen hat, und wenn er in der flott schreibenden Hand lieber ein cornetto al cioccolato bei Alberto gehalten hätte, wäre heute niemand enttäuscht.

Aber bedeutsam bleibt eben doch, wie der Fall Beuys der ewig revisionsbedürftigen geschichtsphilosophischen Betrachtung wahre Steilvorlagen liefert. Daraus müssen keineswegs waghalsige Denkklettereien resultieren. Es genügt, daran zu erinnern, dass Moderne nur ein anderes Wort für den Kollaps aller kunstbetrieblichen und kulturgesellschaftlichen Vereinbarungen ist. Nach der systematischen Sprengung des alten framework, das künstlerischen Ausdruck – in all seinen Varianten – immer als solchen erkennbar werden ließ, muss es Leute geben, die "La rivoluzione siamo Noi" sagen und, indem sie das sagen, Kunst machen. Oder so herum: Es reicht nicht mehr aus, einfach Kunst zu machen. Kunst erhält ihren Betreff nur mehr, wenn hinter ihr oder besser vor ihr der Künstler oder die Künstlerin stehen. Das ist das Erbe der Moderne, das auch keine Postmoderne aufgezehrt hat.

Bald hat man nur noch von ihm geredet

Joseph Beuys hat das traumwandlerisch begriffen und nimmermüde vorgelebt. Bald hat man nur noch von ihm geredet, und alle Schlagzeilen waren wie Siegerkränze auf dem behüteten Haupt. Ohne die öffentlichen Diskursmassen, die er um sich aufgeschaufelt hat, wären all seine Feuerstätten, Honigpumpen, Erdklaviere und Blitzschläge mit Lichtschein auf Hirsch schwerlich zu jener Kunstreife gediehen, die eine ganze Zeit lang als State of the Art gegolten haben, und an deren Meisterschaft lange kein Zweifel erlaubt war.

Gerade an Beuys lässt sich wunderbar zeigen, wie die willentliche Dekonstruktion ästhetischer Konventionen dazu führt, dass die schiere Kunstbehauptung zum eigentlichen Kriterium wird und ins Zentrum aller kunstbegierigen Aufmerksamkeit rückt. Wird doch an ihm, am suprematistischen Schöpfer-Ich, die Kunst überhaupt erst sichtbar. An ihm entscheidet sich, was in den Kanon gerät. Wobei keine Rolle spielt, welches Kostüm einer trägt. Der abgerissene, sich aufopfernde Hungerleider ist geradeso ein sicheres Kunstindiz, wie es Hut und Weste in Tateinheit mit unausgesetztem Prediger-Sound sein können.

Die Beuys-Suada hat zwar stets von "uns", vom "Menschen", von der "Welt" gehandelt, in Wahrheit aber spielte sie "in der Sphäre des subjektivischen Höchsten", wie Peter Sloterdijk in anderem Zusammenhang formuliert hat. Zumindest bestand bei allem, was Beuys ins Werk setzte und zugleich ins Wort brachte, ein starker Transzendenzverdacht. Er war, auch wenn sein Skript dunkle Diesseitigkeit meinte, der sich heraushebende Einzelne, also der Einzigartige, der gleichsam in göttlichem Abstand zu uns das Geheimnis kannte und das Geheimnis wahrte. Was hinreichend Zulauf und Jüngerschaft erklärt. Bazon Brock hat die kunstreligiös Ergriffenen mit schöner Häme einmal als "Gottsucherbanden" tituliert. Vielleicht hat ja niemand mit dem massentauglichen Sinnbedarf so manipulativ umgehen können wie Joseph Beuys.

Niemand hat Walter Benjamin so triumphal widerlegt

Es ist nicht falsch, aus dem weit gewordenen Abstand noch einmal das Werk auf seine sinnliche Konsistenz zu prüfen. Das ist jetzt ohne den emphatischen Regisseur und seine beschwörenden Spielanleitungen womöglich doch noch einmal ergiebig. Wir werden sehen, wie die Bilanz ausfällt am Ende des Jubiläumsjahrs.

Schon jetzt darf man freilich vorwegnehmen, dass auch im Falle einer irreversiblen Magie-Schrumpfung und eines unausweichlichen Zauber-Verlusts bei der Wiederaufführung der staubig grauen Hinterlassenschaft das eine Beuys-Vermächtnis doch vor allen anderen überleben wird: Keiner in seiner Zeit hat Walter Benjamin so triumphal widerlegt. Dass das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beträchtlich an Aura einbüßen könnte, mag ja stimmen. Das Gegenteil aber erst recht: Dass das Kunstwerk auratische Riesengewinne macht unter Bedingungen seiner theatralischen Inszenierbarkeit. Joseph Beuys hat es mit Genieleichtigkeit bewiesen.

Dieser Text ist zuerst in unserem Sonderheft zum Beuys-Jahr 2021 erschienen. Dieses liegt dem April-Heft bei