Christian Petzold im Interview

Eingetrübte Romantik

Mit „Barbara“ hat Christian Petzold auf der Berlinale den Silbernen Bären für die beste Regie gewonnen, am Donnerstag kommt der Film in die Kinos. Ein Interview mit dem Regisseur über Fotografie, die Romantik Gerhard Richters und die Farben der DDR


Die Filmnovelle spielt 1980 in der DDR: Die Ärztin Barbara (Nina Hoss) schmiedet mit ihrem Geliebten aus dem Westen (Mark Waschke) Fluchtpläne. In ein mecklenburgisches Provinzkrankenhaus strafversetzt, arbeitet Barbara unter dem Chefarzt André (Ronald Zehrfeld), der offenbar von der Stasi auf sie angesetzt ist. Doch sowohl André als auch die Patienten wachsen Barbara ans Herz. Ist ein richtiges Leben im falschen Land vielleicht doch möglich?

Christian Petzold, „Barbara“ ist Ihr erster historischer Film. Wie nähert man sich der Geschichte?
Mit Empathie. Man muss sich einfühlen in die Zeit, aber darf bloß nicht so tun, als käme man wirklich von da. Die Verbindung zur Gegenwart muss sichtbar bleiben. Stanley Kubrick zum Beispiel hat „Barry Lyndon“ mit authentischen Kostümen gedreht, er hat Szenen nur mit Kerzenlicht ausgeleuchtet. Aber er hat ein Zoom benutzt, und das katapultiert uns direkt in die 70er-Jahre.

Was brauchen die Schauspieler?
Denen muss man zeigen, was für ein Lebensrhythmus in der betreffenden Zeit geherrscht hat. In Kubricks Fall ging es darum, wie sich die Aristokraten am Hof bewegt haben könnten. Auch in der DDR 1980 sind die Leute ganz anders aus dem Haus getreten als heute, und der Arbeitstakt war ein anderer. Um ein Gefühl für die Zeit zu entwickeln, zeigt man den Schauspielern Filme und Fotos, lässt sie mit Zeitzeugen reden, Gegenstände anfassen, riechen, schmecken.

Was für Fotos haben Sie den Darstellern gezeigt?
Es waren wohl ein paar Tausend. Der Ausstatter und Szenenbildner Kade Gruber hatte die Wände seiner Arbeitsräume voller Fotos hängen, thematisch geordnet. Wir haben die Räume so stehen lassen für die Schauspieler und zu Stimmungsräumen erklärt. Einen Raum haben wir „August-Sander-Raum“ genannt, zu sehen waren Berufstätige in der DDR, Metzger, Fabrikarbeiter, Ärzte, alle möglichen Berufe. Mich hat interessiert, dass die Produktion in den DDR-Medien, in den Erzählungen auch, eine so wichtige Rolle gespielt hat. Wie ist das bei uns heute? Abendessen der Familie, Familienurlaub, da finden bei uns die Dramen statt.

Die Stimmungsräume waren also Ausstellungen für die Mitwirkenden?
Das Tolle an Klaus Dieter Gruber ist, dass er nicht für das Bild einrichtet, sondern für die Stimmung. Dem ist völlig egal, ob irgendein teures Originalrequisit schließlich im Film auftaucht. Der Gegenstand muss aber am Set sein, die Räume müssen komplett sein, damit die Schauspieler sich einfühlen können. Wir haben dann die August-Sander-Fotografie mit den Schauspielern fortgeführt. So gab es ein Foto aus dem Jahr 1969, von einer Ärztin, die acht bis neun Stunden operiert hatte. Nach dieser Vorlage haben wir Fotos im Krankenhaus-Set mit Nina Hoss in ähnlichen Posen gemacht, Thema: erschöpfte Ärztin. Von der Imitation zur Empathie: Das funktioniert bei Nina wie bei Kindern, die etwas nachmachen und dann wirklich etwas empfinden.

Fotografie scheint Sie ohnehin zu interessieren. In Tobias Zielonys Künstlerbuch „Story / No Story“ findet sich ein Gespräch, das Sie mit dem Fotografen geführt haben.
Die Fotos von Tobias Zielony gefallen mir sehr. Verglichen mit meinem Ansatz kommt er praktisch von der anderen Seite, er fotografiert mit hohem persönlichen Einsatz. Viele aus meinem Jahrgang der Deutschen Film- und Fernsehakademie haben sich vergleichbar orientiert, haben das Abenteuer Film gesucht, so Werner-Herzog-mäßig. Man geht auf fremdes Terrain, begibt sich in Gefahr. Spannend, aber ich selber arbeite nicht so.

Wenn man Ihren Film zum Fernsehprojekt „Dreileben“ sieht, denkt man an Fotos von Zielony.
Auch bei „Dreileben“ hatten wir Stimmungsräume, und da hingen Zielonys Fotos, klar. Wir hatten ja – neben den Hauptdarstellern – eine echte Gang von Jugendlichen dabei, die musste ich natürlich nicht in ihre Rollen einstimmen. Es war übrigens sehr interessant, was Tobias von den Jugendgruppen erzählt hat, die er in Halle-Neustadt, Marseille oder Cluj fotografiert hat. Erst muss man von der Gang akzeptiert werden, dann fängt das Fotografieren an. Und der Fotograf erkennt, dass die Jugendlichen sich in Fiktionen begeben, Fiktionen aus Filmen oder Videos. Und dann ist manchmal eine unglaubliche Ruhe in den Gesichtern, manchmal eine Tragik, wenn die Gesichter ganz alt werden. Das sind Momente, die ich hochinteressant finde.

Sie haben eben gesagt, bei Ihnen gibt es kein Abenteuer. Sind Sie eher wie Hitchcock, der das Drehen außerhalb des Studios hasste? Sind Sie aus Ängstlichkeit kein Dokumentarist geworden?
Ach was, ich habe keine Angst. Und: Die Unterscheidung zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm kann ich nicht akzeptieren. Am Anfang der Filmgeschichte steht, gleichberechtigt, „Die Einfahrt des Zuges“ der Gebrüder Lumière und Georges Méliès' „Reise zum Mond“. Die spätere Trennung des Dokumentarischen und Fiktionalen hat zur völligen Verarmung des Dokumentarischen geführt. Fernsehdokus bestehen inzwischen nur noch aus fiktionalen Elementen, aus Musik, Kommentaren. Wenn der Dokumentarfilmer kein Bild mehr findet, erfindet er sich eins. Dabei ist es gerade interessant, wenn im Dokumentarfilm quasi aus dem Material heraus die Welt wie eine Fiktion erscheint. Im Kino genau anders herum: Der Moment, der uns umhaut, ist der Moment, der wie dokumentarisch wirkt, wie uninszeniert.

Die Farben in „Barbara“ sind so klar. Das ist nicht die inszenierte DDR aus „Das Leben der Anderen“ mit dem üblichen Blau-, Braun- oder Grünstich.
Das war von Anfang an so geplant. Ich habe die DDR immer als farbiger empfunden als den Westen, da war mehr Natur als bei uns. Zwischen meinem sechsten und achten Lebensjahr war ich jeden Sommer in der DDR, bei Verwandten.

Ihre Farben sind doppeldeutig. Blau steht für Barbaras Hoffnung auf ein freies Leben im Westen. Sie will ja über die Ostsee fliehen. Aber das Meer, das man am Schluss sieht, ist von tödlichem Blau. Da kommt man nicht durch, das ist wie eine Mauer.
Das war der Gedanke. Ich wollte die DDR wie eine Insel erscheinen lassen. Die Insel ist einerseits eine Metapher für den Ort, an dem wir frei sind. Wie in der Karikatur: Meer, Strand, Palme, Kokosnuss, mehr brauche ich nicht. Andererseits ist die Insel ein Gefängnis, Alcatraz. In „Barbara“ sollte die DDR zwischen Malediven und Alcatraz schillern. Aber das ist eine Idee. Dem Zuschauer das ständig unter die Nase zu reiben, wäre billig gewesen. Deshalb sieht man das Meer erst ganz am Ende. Die Szene ist „Day for Night“ gedreht, mit Blaufiltern zur Nacht gemacht. Ich mag diese amerikanischen Nächte.

Sie mögen anscheinend auch romantische Malerei, davon steckt viel in „Barbara“.
Caspar David Friedrich, ja, aber nur in einer Weise, wie Gerhard Richter Friedrich bearbeitet. In der Romantik existiert Gott noch. Richter zitiert die Romantik mit dem Bewusstsein, dass es das Erhabene nicht mehr gibt. In seine Bilder ist die Traurigkeit über den Verlust eingeschrieben. In diesem Sinne zeigt auch „Barbara“ eine eingetrübte Romantik.

Und Sie zeigen „Die Anatomie des Dr. Tulp“ von Rembrandt. Nicht als Zitat, sondern als Gegenstand einer Bildinterpretation, die in „Barbara“ als Dialog zwischen den beiden Hauptpersonen, Hoss und Zehrfeld, stattfindet. Fazit: Die Wissenschaftler auf dem Gemälde gucken in ein Anatomiebuch, während der Leichnam nur vom Betrachter wirklich gesehen wird. Ecce Homo. Eine großartige Szene, aber mussten Sie nicht befürchten, dass sie zu didaktisch wird?
Das ist ursprünglich eine Passage aus dem Buch „Die Ringe des Saturn“ von W.G. Sebald. Mein Koautor Harun Farocki und ich haben uns diesmal gesagt: Jetzt reicht's, dass wir immer alles an Recherche aus den Filmen raushalten wollen. Warum sollen sich zwei Filmfiguren nicht drei Minuten über ein Bild unterhalten? „Die Anatomie“ hat immer schon zu Diskussionen darüber angeregt, ob Rembrandt eine moralische Position gegenüber der Aufklärung einnimmt. Und Sebalds Essay passte hervorragend in die Geschichte. Barbara lebt in einem aufgeklärten, sozialistischen Land. Dieses Land ist am Zusammenbrechen, weil die Aufklärung in die Hände von Kleinbürgern geraten ist. Wenn man liest, wie schwer es die DDR-Behörden Schriftstellern wie Werner Bräunig oder Christa Wolf gemacht haben, wird einem bange. Wolf hat sich in eine Krise gerettet, aus der sie letztlich gestärkt hervorging, Bräunig hat sich totgesoffen. Anhand des Rembrandt-Gemäldes deuten wir an, was für eine Katastrophe das ist, die Versachlichung der Aufklärung in der Alltagspolitik. Am Schluss der Sequenz zeigen wir die Ärzte im Rembrandt-Bild. Jetzt starren sie in die Luft, wie enttarnte Funktionäre.

Das klassische Malerei-Thema der Blicke ist auch für „Barbara“ grundlegend. Vor allem Nina Hoss fühlt sich permanent beobachtet.
Barbaras Paranoia ist ein zentrales Moment, ja. Trotzdem gibt es nur ganz am Anfang einen Blick aus der Perspektive der Überwacher. Ich wollte auf keinen Fall auf die Seite der Macht gehen. William Friedkin macht es in „French Connection“ genau richtig, als ein Scharfschütze Gene Hackman erschießen will. 99 Prozent aller Filmstudenten würden Hackman durchs Fadenkreuz des Snipers zeigen. Nicht so Friedkin. Er bleibt bei Hackman, zeigt die Querschläger, die versehentlich getroffenen Passanten, aber nie den Schützen. Dann die Verfolgungsjagd. Der Täter ist schließlich doch zu sehen, als er wie ein eingesperrtes Tier in einem U-Bahn-Wagen verblutet – weil jeder Mensch in einer ausweglosen Situation Mitleid verdient. Es gibt so etwas wie eine Moral der Kamera! Harun Farocki hat vor einiger Zeit eine Film-Installation im Maxim-Gorki-Theater gezeigt, mit Kriegsszenen aus „Saving Private Ryan“ von Steven Spielberg und „The Thin Red Line“ von Terrence Malick. In beiden Fällen sind die Regisseure so schwach, dass sie über die Schulter der Deutschen oder Japaner filmen, statt bei ihren Erzählfiguren zu bleiben. Sie verabschieden sich für den Effekt aus der Erzählung.

Sie haben alle ihre Drehbücher mit Harun Farocki zusammen entwickelt. Warum können Sie nicht ohne ihn?
Wir kennen uns schon sehr lange. Alle unsere Geschichten sind im Dialog entstanden. Das ist das Schönste, wenn man eine Idee hat und man geht Spazieren, trifft sich in der Küche, trinkt Kaffee und raucht, jeder kramt Bücher hervor und erinnert sich an irgendwelche Dinge. Wir sind Goldgräber, wir spinnen zusammen ein Garn. Ich könnte nie alleine schreiben.

Filmstart „Barbara“: 8.3.2012