Zum Tod von Erwin Olaf

Vom analogen Fotoreporter zum digitalen Geschichtenerzähler

Der Niederländer Erwin Olaf war ein Meister der freigeistigen, erotisch aufgeladenen und überschwänglich inszenierten Fotografie. Am Mittwoch ist er mit 64 Jahren an den Folgen einer Lungentransplantation gestorben

Der international bekannte niederländische Fotograf Erwin Olaf ist tot. Er starb am Mittwoch an den Folgen einer Lungen-Operation. 1996 wurde bei Olaf ein Lungenemphysem diagnostiziert. Die Meinungen der Ärzte gingen damals auseinander. Während die einen mutmaßten, er habe nur noch zehn Jahre zu leben, reichte die Prognose der anderen darüber hinaus. Letztere sollten Recht behalten.

2019 wurde dem Fotografen anlässlich seines 60. Geburtstages eine große Retrospektive im Haager Kunstmuseum ausgerichtet. Während hier seine neueren Arbeiten zu sehen waren, hing parallel dazu im benachbarten Fotomuseum Olafs Frühwerk an der Wand. Schwarzweiß-Aufnahmen der 1980er-Jahre, bei denen Man Ray, Robert Mapplethorpe, Helmut Newton (für die Serie "Chessmen"), aber auch die Holländischen Meister (für "Ladies' Hats") Pate standen. Da hatte Olaf schon seine ursprünglich eingeschlagene Journalistik-Laufbahn zugunsten seiner eigentlichen Profession, der Fotografie, an den Nagel gehängt.

Als provokanter Künstler, der sich und sein schwules Umfeld schon mal mit reichlich Sperma ablichtete – wie in "Squares" dargestellt durch knallende Champagnerkorken –, war Olaf zunächst selbst den als liberal geltenden Niederländern suspekt. Als der Fotograf in den 1990ern begann, für die Werbekampagnen großer Unternehmen wie Microsoft, Louis Vuitton und Nokia zu arbeiten, änderte sich die Wahrnehmung.

Vom Provokateur zum "größten Niederländer"

Ursprünglich analog unterwegs, entwickelte sich Olaf zu einem digitalen Bildmacher und Geschichtenerzähler, der Inhalte mit einer Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Illusion interpretierte und überwiegend ohne Auftrag arbeitete. Auch galt er als Meister der Inszenierung. Wie viele seiner Generation – man denke nur an die Düsseldorfer Schule rund um Andreas Gursky, Thomas Struth, Candida Höfer und Co – griff er zunehmend zum Großformat. "Ich habe angefangen als traditioneller Schwarzweiß-Fotograf, mit der Hasselblad-Kamera in der Hand", sagte er einst. "Heute mache ich auch 3D-Fotografie, kombiniert mit klassischen Drucktechniken, aber auch mit Filmen in Zeitlupe, im Feature- oder sogar Spielfilm-Stil."

2003 zeigte das Groninger Museum mit "Silver" eine erste große Übersichtsschau. 2004 wurde Olaf im holländischen Fernsehen in die "Liste der größten Niederländer" gewählt. 2011 erhielt er den mit 100.000 Euro dotierten Johannes Vermeer-Preis. 2013 entwarf er eine niederländische Euromünze mit dem Konterfei von König Willem-Alexander. Wenige Jahre später avancierte er zum Hoffotograf der königlichen Familie. 2016 kuratierte er die Schau "Catwalk" für das Rijksmuseum.

2018 vermachte der Tausendsassa – vor dem Hintergrund seiner fortschreitenden Lungenkrankheit – diesem ehrwürdigsten aller niederländischen Museen 500 Objekte, darunter Foto-Abzüge, Videos, Magazine und Bücher. Wie die Haager Museen würdigte 2019 auch das Rijksmuseum den damals 60-Jährigen mit einer Ausstellung. Bei der Eröffnung wurde Olaf zum Ritter des Ordens vom niederländischen Löwen geschlagen. Mehr geht kaum.

Nachtleben in Berlin

Einsamkeit war ein stets wiederkehrendes Sujet. In der Serie "Hope" hockt eine biedere Hausfrau allein in einer Küche der 1950er-Jahre und starrt lethargisch vor sich hin. In einem Hotelflur steht ein Paar, dessen Blicke erahnen lassen, dass es sich offensichtlich nichts mehr zu sagen hat. Bilder, die in ihrer Komposition an die von innerer Leere geprägte Malerei Edward Hoppers erinnern. Ebenso wie die 1960er-Jahre-Serien "Rain" und "Grief", bei der nach außen hin teilnahmslos wirkende Menschen mit Tränen in den Augen auf die Ermordung von John F. Kennedy reagieren.

In der Serie "Shanghai" (2016) sind es Individuen, die versuchen, der Einsamkeit einer 24 Millionen Einwohner zählenden Metropole zu entfliehen. Diese Fotos wiederum erinnern stilistisch an den (wunderbaren) Wong-Kar-Wai-Film "In the Mood for Love", der im Hongkong der 1960er-Jahre spielt.

Zwei weitere Serien sind Bestandteil der Städte-Trilogie. Darunter "Berlin" (2012), dessen Zeit zwischen den Weltkriegen Olaf besonders interessierte, wie unter anderem seine Porträts von älteren Prostituierten in Otto-Dix-Manier belegen. "Berlin während des Interbellums war bekannt für sein Nachtleben, seine Freiheit und seine Verschiedenheit. Das habe ich versucht, in die Serie zu integrieren mit einem Dreh in unsere Zeit", kommentierte der Wahl-Amsterdamer die Serie seinerzeit.

Letzte Themen

Olaf nutzte seine Fotografien auch oft, um ein politisches Statement abzugeben. So inspirierten ihn die Pariser Anschläge von 2015 auf die Redaktion der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" und später auf die Konzerthalle Bataclan zu Fotos, die eine Gegenreaktion auf den Terrorismus darstellen. 2018 wurde die reiche Wüstenstadt Palm Springs von ihm ins Visier genommen. In ihr persiflierte Olaf die wohl behütete US-amerikanische Gesellschaft, deren Fassade allmählich zu bröckeln beginnt. Die Motive dieser Reihe verweisen auf die Beziehung zwischen einer einstigen, konstruierten Traumwelt und der von Umweltzerstörung, Rassismus und Werteverlust geprägten Wirklichkeit im heutigen Amerika.

Klimawandel, Diversität und Migrationsströme waren die Themen, die Erwin Olaf in seinen letzten Jahren umtrieben. Auch in der Wald-Serie, die 2021 in der Kunsthalle München gezeigt wurde und für die Olaf unter großen Mühen die bayerischen Berge hochkraxelte, kehren sie zurück.

Während seines letzten Urlaubs im Februar 2020, kurz vor dem weltweiten Ausbruch von Covid-19, sei plötzlich Furcht über ihn gekommen, erklärte der Fotograf seinerzeit die Motivation für das Thema. "Wir reisen durch die ganze Welt und das ist zu dekadent. Zwar ist es eine Realität, mit der wir leben, und ich finde auch, dass wir überall sein dürfen. Aber wir sollten über die Konsequenzen nachdenken, darüber, dass dies ein großes Problem für die Natur und deswegen auch für die Menschheit ist."

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