Eva Hesse in Wien

"Sie hat dem Minimalismus eine Seele gegeben"

Die früh verstorbene Künstlerin Eva Hesse hatte für ihr Lebenswerk nur zehn Jahre Zeit. Wie ihre eigenwilligen Zeichnungen Unbekanntes enthüllen und das Menschliche in der Abstraktion freilegen, kann man nun in Wien sehen

Die 70 Papierarbeiten von Eva Hesse werden im Mumok in drei raumdurchdringenden kubischen Displays gezeigt. Kurze Verwirrung darüber, wo man beginnen soll. Doch die Werkchronologie ist nicht wichtig. Hesse hat kaum mehr als zehn Schaffensjahre. Sie wird 1936 in Hamburg in eine jüdische Familie geboren, ihre Kunstlaufbahn startet erst um 1960 und ist 1970 bereits zu Ende.

Hesses kurzer, kantiger Lebensweg ist durch Ereignisse geprägt, die in ihrer brutalen Häufung absurd erscheinen: 1938 wird sie mit ihrer Schwester aus Nazideutschland nach Holland geschickt, die Familie entkommt den Konzentrationslagern und flieht nach New York. 1945 lassen sich die Eltern scheiden, ein Jahr später begeht die Mutter Selbstmord, da ist Hesse kaum zehn. Sie beginnt Anfang der 50er mit dem Kunststudium unter anderem bei Josef Albers, heiratet einen Künstler, lässt sich scheiden, hat erste Erfolge in den USA und Europa, erfährt im Herbst 1969 vom Tumor in ihrem Kopf. Sie stirbt im Mai 1970.

Davor, in ihrem aktiven Jahrzehnt, erfindet Hesse einen ganz neuen Skulpturen- und Objekttypus. "Sie hat dem Minimalismus eine Seele gegeben", heißt es in der "New York Times" in den 70ern. Doch Titel, Defini­tionen und Labels erfassen diese Skulpturen nie so ganz. Etwas bleibt ungreifbar. Für Hesses Zeichnungen gilt das auch. Bei frühen Aktstudien aus der Mitte der 50er fällt auf: Sie sind technisch in Ordnung, aber nicht genial. Talentmangel? Nein, es ist nur das falsche Sujet. Die bekannte sichtbare Welt kann Hesses Genie nicht entzünden. Auch in konkreten Farb- und Formstudien, von denen zwei aus der Zeit um 1957 aus­gestellt sind, reüssiert sie nicht, obwohl sie da durch Albers durchaus hätte beeinflusst werden können. Aber Fehlanzeige. Die eckig-farbigen Collagen wirken wie ein höfliches Good­bye-Winken.

Zeichnungen die nicht behaupten, sondern suchen

Während der Kritiker Michael Fried die theatralische Grundkomponente des sonst so kühlen Minimalismus enthüllt, mit dem sich Hesse durchaus beschäftigt, hält sie sich bereits woanders auf. In einem Interview kurz vor ihrem Tod formuliert sie das so: "I am interested in solving an unknown factor of art and an unknown factor of life." Bei Hesse gibt es nichts zu enthüllen, sie ist ein offenes Geheimnis. Hesses Zeichnungen sind keine Statements. Sie behaupten nicht, sie suchen. Dennoch hat man stets das Gefühl, die Künstlerin behandle etwas Konkretes: Zusammenhänge von Körper und Geist, Gewalt und Liebe, weich und hart. Aber man kann es nicht greifen. Das zeigt auch die Zeichnung "No title" (1964), die die Mumok-Kuratorin Manuela Ammer feinsinnig in die Lebensphase einbettet, in der Hesse Kindern Kunstunterricht gegeben hat.

Hesse verwendete damals wohl auch Maurice Sendaks Kinder­buch "Where the Wild Things Are" (1963) im Unterricht. Ammer fragt, "welche Geschichte unser unbetiteltes Blatt erzählt. Der Vogel, das Auto, das hydraulische Fahrzeug, das den Arm berührende Rotorblatt." Gerade die ungegenständlichen Formen und Markierungen erzählten von einer künstlerischen Praxis, die dahin gehe, "wo die wilden Kerle wohnen".

Die frühe Gouache oder Tuschezeichnung "No title" (1960) könnte formal auf später realisierte Skulpturen anspielen. Vor allem strahlt das Blatt etwas biomorph Dunkles aus. Verbranntes Fettgewebe? Krebs­zellen? Synapsen? Die Begriffe haften nicht. Stattdessen kehren Hesses Worte zurück, in dem präzisen warmen Timbre, das man im Dokumentarfilm hören darf: "Ich bin daran interessiert, einen unbekannten Faktor des Lebens und einen unbekannten Faktor der Kunst zu enthüllen." Es flüstert, reibt, raunt. Denkt, fühlt, sucht. Noch ein paar schnelle Schritte in die Ausstellung, dann taumelnde, planlose. Das Kuben-Display, jetzt fällt es auf, ist ein Echo auf Hesses Formbegriff, der den minimalistischen Würfel durchbohrt. Abstraktion ist menschlich – das Dasein wird abstrakt. Könnte das der Absurditätsfaktor sein, den Hesse untersucht hat?