Hamish Fultons "Public Walk" in Frankfurt

In Freiheit gehen

Hamish Fulton ist derzeit mit Werken in der Schirn zu sehen. Im Rahmen der Gruppenausstellung "WALK!" lud der Künstler nun auch in Frankfurt am Main zu einem "Public Walk". Wir sind mitgelaufen

Samstagnachmittag, am Rande des Opernplatzes in Frankfurt am Main. Rund 80 Menschen sind zusammengekommen, um gemeinsam zu gehen. Es handelt sich weder um einen Spaziergang, noch um einen Schaufensterbummel, und es gibt auch kein klares Ziel vor Augen.

Die Erfahrung, die der Künstler Hamish Fulton mit seinem "Public Walk" anbietet, strebt vielmehr ein offenes Ergebnis an. Dafür schlägt er ein einfaches Regelwerk vor: Die Teilnehmenden sollen auf einer begrenzten Fläche von etwa 60 Quadratmetern eine Stunde lang stillschweigend gehen. Auch Fulton selbst geht mit, von der ersten bis zur letzten Sekunde in voller Dynamik. Andere gehen langsamer, manche gehen schnell, einige stampfen gelegentlich und wieder andere wechseln bisweilen in den Rückwärtsgang. Was in den Köpfen der Einzelnen vor sich geht, kann kaum erahnt werden, wenn sich die Blicke nach jedem Richtungswechsel von Neuem kreuzen. Und doch drängt sich in der Performance vor allem die Frage nach den allgemeinen Implikationen der freien Fortbewegung im öffentlichen Raum auf. Schließlich ist der Akt des Gehens hier derart aus dem Alltag entrückt, dass ihm eine besondere Aufmerksamkeit zukommt.

Hamish Fulton nennt sich selbst einen "Walking Artist" und so passt er hervorragend in die Ausstellung "WALK!", die derzeit in der Schirn Kunsthalle zu sehen ist. Mehr noch: Sein rund 50-jähriges Schaffen liefert den Anstoß zur Ausstellung. Denn der 1946 in London geborene Künstler gilt als Pionier der Walking Art und somit als Referenz für zahlreiche Künstler und Künstlerinnen, die seine Konzepte und Praktiken befragen und weiterentwickeln. So vereint die Gruppenausstellung über 40 zeitgenössische Positionen, darunter Bani Abidi, Bouchra Khalili und Hiwa K.

Walking Art als Gegensatz zur Land Art

Während in ihren Arbeiten aktuelle Debatten um Globalisierung, Migration und Klimawandel im Fokus stehen, führt die klassische Walking Art zurück in die 60er- und 70er-Jahre, als diesen Themen noch kein fester Platz in der Kunst eingeräumt war. Damals entwickelten die Walking Artists – mehrheitlich männliche Akteure – einen Gegenentwurf zur bereits etablierten Land Art, die ein neues Verständnis von Natur und Kultur durch Eingriffe in die Landschaft mit vorgefundenen Materialien vorschlug.

Die Walking Art baut auf der Grundlage der physischen Selbstwahrnehmung auf. In der unmittelbaren Erfahrung des Menschen bei seiner Fortbewegung durch die jeweilige Umgebung vollzieht sich nach Auffassung der Walking Artists ein performativer Akt in steter Wechselwirkung von Innen und Außen. Fulton betont die Abhängigkeit des Menschen von der Umwelt und spricht sich für eine bewusstere Koexistenz aus.

Als stolzer Vertreter der "Leave No Trace"-Bewegung hinterlässt der Künstler an den Orten, die er begeht, folglich nichts als seine reversiblen Fußspuren. Umso wichtiger erscheint die Dokumentation seiner Geh-Erlebnisse. Tagebucheinträge und Fotomaterial überführt er in grafische Wandarbeiten, die seinen exzessiven Fortbewegungsdrang begreiflich machen. Was bleibt, ist also nicht bloß die Erfahrung, sondern auch, was daraus entsteht. "No walk, no work”" wie er sagt.

Allein, mit Gepäck und Zelt

Anstatt die Landschaft gemäß künstlerischer Traditionen eindrucksvoll abzubilden, dienen ihm geometrische Formen als Symbole für eine abstrahierte Darstellung von Orten. Texte nutzt er als Möglichkeit, um Botschaften zu übermitteln, oft auch zwischen den Zeilen. In der Schirn ist eine ganze Reihe an "Wall Works" zu sehen, unter anderem die Druckgrafik "35 Walks Map. Europe 1971–2019" (1971–2019). Wie der Titel zu verstehen gibt, kartografiert die Arbeit begangene Routen auf dem europäischen Kontinent aus fast einer halben Dekade. Die Strecken legte Fulton alle selbst zurück, meist alleine und mit einem Zelt im Gepäck. So wanderte er von Meeresküste zu Meeresküste, zum Beispiel quer durch Spanien, oder über Nationalgrenzen hinweg. Diese sind nicht eingezeichnet, womit die Landkarte das Hinterfragen territorialer Grenzziehungen in den Vordergrund rückt.

Die Kuratorin Fiona Hesse und der Kurator Matthias Ulrich integrieren den "Public Walk" als Event in die Ausstellung und erweitern damit den Gang durch die etwas überladenen Ausstellungsräume in den Stadtraum. Das erscheint nur konsequent, wird der Fortbewegung im öffentlichen Raum doch seit jeher ein besonders prominenter Patz eingeräumt.

Der französische Schriftsteller Charles Baudelaire sah etwa in der Figur des Flaneurs einen "Maler des modernen Lebens". Dessen langsames und zielloses Umherschweifen wurde als Protest gegen die neu entstandenen Konsumtempel im 19. Jahrhundert verstanden. Die Passantinnen und Passanten am Frankfurter Opernplatz streifen bei Sonnenschein hingegen mit gefüllten Einkaufstaschen umher. Umgeben von Autolärm, Straßenmusik und Vogelgezwitscher ist die Wahrnehmung verschiedenster Sinneseindrücke und assoziativer Gedanken eine durchaus willkommene Abwechslung inmitten der Alltagshektik, sofern sich der Modus der Entschleunigung eingestellt hat. Und doch ist die Lage höchst angespannt.

"Fortbewegung in Freiheit ist nicht selbstverständlich"

Nur wenige Meter weiter findet eine Demonstration statt. Eine Gruppe an Menschen fühlt sich durch das Tragen von Masken in ihren Menschenrechten beschnitten, wie sie lauthals bekundet. So friedlich sich dieser Protest auch präsentiert: Woanders fallen am gleichen Tag Bomben. Auch dagegen wird protestiert – einen Häuserblock weiter und immerhin mit mehreren Tausend Teilnehmenden.

Das gut gemeinte, kollektive Gehen im Rahmen der Schirn-Show wirkt vor dem tagesaktuellen Hintergrund nochmals irritierender. Doch als stille Stunde bot die Performance auch einen geschützten Raum zum Denken – nicht nur über das Geschehen hier wie dort, sondern auch über die eigene Handlungsfähigkeit. Fortbewegung in Freiheit ist nicht selbstverständlich. Von ihr Gebrauch machen zu können, ist ein Privileg. Wie dieses genutzt wird, steht den Menschen auf dem Opernplatz offen. Hamish Fulton hält sich mit politischen Aussagen zwar bedeckt, doch sein Werk resoniert unweigerlich im Spannungsfeld der politischen Lage.