"Die Architektur, sagen ihre Geschichtsschreiber, sei immer der Ausdruck der Zeit." Das schrieb Hermann Funke im Januar 1965 in "Die Zeit". Es war der erste Satz seines Artikels über ein Haus in Garmisch-Partenkirchen, das für den Heimatstil steht, den Bereich der Architektur, der uns zwar alle umgibt, der aber von den Geschichtsschreibern meist nicht zu den weltweit berühmten Bauwerken der architektonischen Großmeister gezählt werden und deswegen manchmal eher unbeachtet bleiben.
Hermann Funke ist auch einer dieser Geschichtsschreiber. Geboren 1932, Architekturkritiker und selbst Architekt. Seine Kritiken erschienen zwischen 1962 und 2003 in "Die Zeit", im "Spiegel" oder der "Jungle World". Aber er ist ein anderer Geschichtsschreiber. Eben auch weil er den Heimatstil nicht ignoriert. Sich nicht zu fein ist. Häuser betrachtet von einem, der drin wohnt. Nun erschien eine Sammlung seiner Texte und damit wurde ein wahrer Schatz geborgen.
Funke schreibt über die "runden Bögen der Wandöffnung", wie über das "Zickzack der Dachlinien" oder weit "auskragende" Dachrinnen. Als einer, der sich auskennt, der sich Raum nimmt zu beschreiben, was er sieht und das auch kann, mit selten genutzten Worten. Die Architektur ist ihm wichtig, er weiß vieles. Über Sonnenbewegung, über Arbeitsabläufe in der Küche, die die Entwürfe bestimmen sollten, er kennt städtische Besonderheiten.
Ein Vertreter der Bewohner, nicht der Erbauer
Welche Bauverordnungen gibt es, wie ist das Wetter, wo arbeiten wir, wie werden Waren geliefert und mit welchen technischen Gerätschaften unterhalten wir uns? All das entscheidet darüber, wie wir wohnen und wirken. Funke guckt sich das an, am Beispiel des Frankfurter Intercontinental Hotels, des Reihenhaus Typ 78, des Berliner Europacenters, einer Schule in Ulm, einer Mensa in Braunschweig.
"Was geht das mich an?", könnte man sich als Buchladen-Kundin nun fragen, und darauf kann man wieder mit einem Zitat Funkes antworten: "Ein einziges, ein x-beliebiges Gebäude reicht aus, um daran die ganze Pathologie der menschlichen Gesellschaft zu entwickeln."
Und so kann man diesen Band lesen. Funke ist ein Vertreter der Bewohner, nicht der Erbauer. Einer, der sich Machtstrukturen innerhalb der Stadtplanung anschaut. Denn es ist doch komisch, dass die Architektur die Kunstform ist, die am wenigsten Beachtung findet. In den Medien. In den Tischgesprächen. Dabei bestimmt sie unser alltägliches Leben ja viel mehr als der neue Streaming-Rekord eines Pop-Songs oder die neue Inszenierung am Stadttheater.
Wunderbar unterhaltsam
Das Bauernhaus, das nur noch Stil vorgeben soll und seinen Sinn längst nicht mehr erfüllt. Der Heimatstil, der künstlich sei. Ein Entwurf mit zu vielen Treppen, ein zu langer Hausflur, die Kinderzimmer zur falschen Himmelsrichtung. Das alles ist für Funke von größter Bedeutung für die Menschheit. Dabei ist er im Märkischen Viertel genauso unterwegs wie auf Sylt.
Man kann in seinen Texten nicht nur etwas über Städteplanung und Architektur lernen (Wer kennt schon den Architekten Adolf Meyer, der von Bruno Taut als bester seines Faches bezeichnet wurde?). Man kann die Kritiken auch abgleichen: was ist heute aus den Gebäuden geworden (Flughafen Tegel, Europacenter, Hamburger Polizeipräsidium am Berliner Tor)?
Man ist aber auch wunderbar unterhalten, wenn sich Funke über die Stadtplaner der Hamburger City Nord aufregt ("Ist das Stupidität, Indolenz oder schon Zynismus?"), wenn er nonchalant das "Spiegel"-Haus und dessen "Dekoration" von Verner Panton abwatscht ("Das Spiegel-Haus gibt einfach nichts her"). Und dann haben die Kritiken von Hermann Funke auch noch eine Sprache, einen Rhythmus, eine Zugewandtheit. Nicht so eine nur vorgegebene Zugewandtheit wie bodentiefe Fenster, sondern eine ganz und gar glaubwürdige.