Dokumentarfilm zur schwedischen Malerin

Hilma af Klint zieht ihre Kreise

Mit "Jenseits des Sichtbaren – Hilma af Klint" führt uns die Filmemacherin Halina Dyrschka in die faszinierende Welt der schwedischen Künstlerin. Warum wurde die Malerin so spät entdeckt?

Die Kamera schwebt über der Frau mit Hochsteckfrisur und altmodischer Bluse. Die Künstlerin steht auf einer Riesenfläche Papier und zeichnet mit einem Stock, an dem Kohle befestigt ist, Linien auf den weißen Grund. Später in Halina Dyrschkas Dokumentarfilm "Jenseits des Sichtbaren – Hilma af Klint" wird die Titelfigur die Umrisse mit Farben füllen, wird gelbe, grüne, leuchtend rote und sogar rosafarbene Formen malen, die an Blütenblätter und Mikroorganismen erinnern. In diesen kurzen Spielszenen springt der Film ins Jahr 1907 zurück, in dem die schwedische Künstlerin Hilma af Klint (1862-1944) an ihrem abstrakten Bildzyklus "Die zehn Größten" arbeitete.

Ihr eigentlicher Durchbruch fand erst vor zwei Jahren statt. Die große Retrospektive von Hilma af Klint im New Yorker Guggenheim Museum 2018 war ein Sensationserfolg, fast acht Jahrzehnte nach dem Tod der Künstlerin. "Af Klints Gemälde sprengen endgültig die Auffassung der modernistischen Abstraktion als männliches Projekt", schrieb Roberta Smith anlässlich der Guggenheim-Schau in der "New York Times". In der Tat: Af Klint schuf abstrakte Bilder vor Wassily Kandinsky. Doch die Schwedin konnte mit ihrer Kunst zeitlebens nicht reüssieren. Sie glaubte aber fest an ihr Oeuvre und verfügte testamentarisch, dass die Werke nicht verkauft und auch bis zwanzig Jahre nach ihrem Tod nicht öffentlich gezeigt werden durften. Ihre Zeit würde kommen, davon war die Künstlerin überzeugt. 2013 sorgte eine Ausstellungstournee der erstaunlichen Bilder, ausgehend vom Stockholmer Moderna Museet, für Furore. Als Af Klints Werke am Hamburger Bahnhof in Berlin gezeigt wurden, war Halina Dyrschka fasziniert, verblüfft und auch ärgerlich: Wie konnte diese erstrangige Kunst ihr, also der Öffentlichkeit, für viele Jahrzehnte vorenthalten bleiben?

Mit "Jenseits des Sichtbaren" erzählt die Filmemacherin nun von der bis vor wenigen Jahren unbekannten Künstlerpersönlichkeit, von ihrem Werk und den mysteriösen Quellen ihres Schaffens. Die Biografie Hilma Af Klints wird entrollt, einer Frau, die gleichzeitig privilegiert und den Einschränkungen ihrer Zeit unterworfen war. Darüber hinaus beschäftigt sich Dyrschka mit einem zählebigen Kunstkanon der Moderne, der fast ausschließlich mit Männern besetzt ist, und einem Kunstbetrieb, in dem Macht und Kapital kunsthistorischen Neubewertungen im Weg stehen.

Abstrakt, schon vor Kandinsky

Hilma Af Klint entstammte einer adeligen Familie. Ihr Vater, wie seine Vorfahren Offizier bei der schwedischen Marine, sorgte dafür, dass seiner Tochter eine hervorragende Bildung zuteil wurde. Schweden zählte weltweit zu den ersten Ländern, die Frauen das Studium ermöglichten. So konnte sich Hilma nach dem Studium an der Königlichen Akademie als Landschafts- und Porträtmalerin etablieren. Am 7. November 1906 brach die 44-jährige Künstlerin plötzlich mit fast allem, was sie an der Akademie gelernt hatte. Mit flüchtig geführtem Pinsel ließ sie in der sequenziellen Reihung eine Form aus der anderen hervorgehen. Und schon hier, in den 26 kleinformatigen "Urchaos"-Bildern in Blau-, Grün- und Gelbtönen, verzichtete Af Klint teilweise restlos auf gegenständliche Darstellung. Es kann also nicht stimmen, was Kandinsky 1935 stolz in einem Brief behauptete: Im Jahr 1911 das "allererste abstrakte Bild der Welt" gemalt zu haben. Ungegenständliche Formen in der Malerei tauchten übrigens schon im 19. Jahrhundert auf – bei Turner oder Moreau. Ein wenig Skepsis ist also ohnehin angesagt, was die Säulenheiligen der Abstraktion angeht, ob sie Kandinsky, František Kupka, Piet Mondrian oder Kasimir Malewitsch heißen.

Die Achillesferse bei Af Klint sind die okkulten Quellen ihrer Bilder. Der Spiritismus wurde immer wieder – auch noch nach 2013 – als Totschlag-Argument gegen ihre Kunst missbraucht. Sie war Anhängerin der Theosophie. 1896 tat sich Af Klint mit vier Freundinnen zusammen, um einen spirituellen Zirkel zu gründen. "Die Fünf", wie sie sich nannten, hielten ihre Sitzungen, bei denen es zum Kontakt mit "höheren Mächten" gekommen sein soll, in Protokollen und automatischen Zeichnungen fest. Im Sommer 1904 meldet sich ein geistiges Wesen namens Ananda: Hilma sei dazu auserkoren, "astrale Gemälde" zu schaffen. 1906 kommt es zum Durchbruch mit den "Urchaos"-Gemälden, von da an kennt Af Klints Schaffensdrang keine Grenzen. In einer Art Kettenreaktion entstehen bis April 1908 111 Bilder. An ihren "Gemälden für den Tempel", eine Sammelbezeichnung für alle abstrakten Serien, arbeitet Af Klint mit Unterbrechungen bis 1915. Während ihr spirituelles Leben reichhaltig dokumentiert ist – neben 1300 abstrakten Gemälden sind 124 Notizbücher mit nahezu 26000 Seiten überliefert – bleibt das, was Af Klint der Nachwelt über ihr Privatleben mitteilt, lückenhaft.

Eine Wirklichkeit jenseits des Sichtbaren

Im Februar erschien das Buch "Hilma af Klint - 'Die Menschheit in Staunen versetzen'". Für ihre Künstlerinnen-Biografie hat die Journalistin und Kunsthistorikerin Julia Voss Schwedisch gelernt und tausende Seiten an Notizbüchern und Aufzeichnungen der Künstlerin studiert. Es ist ein hinreißendes Buch, das ein faszinierendes Zeitpanorama bis in den Zweiten Weltkrieg hinein entwirft und mit einigen Vorurteilen über Af Klint aufräumt. Die Autorin zählt zu den Talking Heads der Filmdokumentation. Wie man die Geschichte der Abstraktion heute erzählen wolle, fragt Voss rhetorisch – "Es geht nicht mehr, es geht nicht, daß wir eine Geschichte der Abstraktion erzählen, in der Hilma af Klint nicht vorkommt." Weitere Köpfe im Film sind der Künstler Josiah McElheny und Iris Müller-Westermann, Kuratorin der ersten Af-Klint-Retrospektive und als jetzige Direktorin des Moderna Museet in Malmö verantwortlich für die derzeitige große Ausstellung der Schwedin ("Hilma af Klint. Artist, Researcher, Medium", bis 21. Februar 2021). "Die Zeit, in der Hilma af Klint gearbeitet hat, war eine Zeit, in der mit den Naturwissenschaften ganz deutlich wurde, dass Wirklichkeit nicht nur das ist, was wir sehen und anfassen können, sondern dass es Jenseits des Sichtbaren liegt", sagt Müller-Westermann im Film.

Dyrschka vermeidet es, allzu tief in die spiritistische Welt von Hilma af Klint und ihren Freundinnen einzusteigen. Von Parawissenschaften war in Af Klints Zeit noch nicht die Rede. Es war eine Zeit der Entdeckungen und des Staunens, weniger der Skepsis angesichts unsichtbarer Kräfte. Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer verteidigt den Aufbruch der Künstlerin in Sphären, die unser normales Wahrnehmungsvermögen übersteigen. "Wir wissen heute, dass fast 25 Prozent der Welt dunkle Energie und dunkle Materie sind", sagt Fischer, das Komische sei nur: "Es regt niemanden mehr auf (...) Ich glaube, dass diese Welt verlernt hat zu staunen. Vor dem Jahre 1900 haben wir alle noch gestaunt. Heute langweilen wir uns vor unserem iPhone und vor den Medien."

Neben Interviews, den Reenactment-Szenen der malenden Künstlerin oder Af Klints Originalwerken und Dokumenten aus ihrem Leben zeigt Dyrschka viel Natur in ihrem Film. Sie zieht mittels Überblendungen mannigfache Verbindungen zwischen Farben, Landschaften und Pflanzenformen aus der Wirklichkeit mit der Kunstwelt der Bilder. Af Klint flüchtete sich keineswegs in eine irreale Welt, das wird hier deutlich, sie sah einfach mehr in der Natur als Normalsterbliche es vermochten. Sie war weder sonderbar noch verrückt, sondern eine Künstlerin, die sich und ihren Betrachtern einen zuvor unsichtbaren Kosmos eröffnete. Dyrschkas schöner Film ersetzt keine Ausstellung. Af Klints an Formen und Farben überreiche, staunenswerten Gemälde sollte man Original betrachten, zum Beispiel in Malmö.