Brüste in der Kunst

"Eine Emanzipation vom patriarchalen Blick"

Natanja von Stosch und Juliet Kothe haben für ihr Buch "Boobs in the Arts" Brustdarstellungen in der Kunst gesammelt. Ein Gespräch über Bedeutungen von Nacktheit, neue Bilder von Mutterschaft und den "Nipple Ban" auf Instagram 


Wie kamen Sie auf die Idee, Darstellungen von Brüsten in der Kunst zu untersuchen? 

Natanja von Stosch: Die Initialzündung war eigentlich die Venedig Biennale 2015, auf der viele Arbeiten von Sarah Lucas zu sehen waren. Das weckte das Interesse, nach weiteren Arbeiten zu suchen, die die Brust in den Fokus rücken. Im Frühjahr 2018 habe ich den Instagram-Account "Boobs in the Arts" gegründet, um die Bilder zu zeigen. Aus der Idee heraus hat sich das Buchprojekt entwickelt.

Das Zeigen von Brüsten ist nicht gerade unterrepräsentiert…

NVS: Stimmt, die weiblich gelesene Brust ist omnipräsent, und es steht immer wieder zur Debatte, ob und wie sie gezeigt werden sollte. Als sekundäres Geschlechtsmerkmal ist sie zugleich eine Art "Erkennungsmerkmal" des weiblich gelesenen Körpers. Die Frage ist, was das eigentlich bedeutet und welche Themen sich davon ableiten lassen. Vor allem dann, wenn Künstlerinnen und Künstler die Brust ganz bewusst als zentrales Motiv ihrer Arbeiten wählen. Uns war es wichtig, Raum für unterschiedliche Erzählperspektiven zu geben. Darum haben wir neben Künstlerinnen und Künstlern auch Autorinnen und Autoren eingeladen. 

Bei dem Thema kann man buchstäblich bei Adam und Eva anfangen…. Wie sind Sie vorgegangen, wie haben Sie Ihre Auswahl eingegrenzt? 

Juliet Kothe: Wir zeigen etwas mehr als 100 Künstlerinnen und Künstler seit der Wende zum 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Kunsthistorische Stationen sind Bewegungen wie der Surrealismus und die feministische Avantgarde, aber wir haben auch Positionen gewählt, die ältere Bilder und Darstellungen zitieren und mit ihnen arbeiten. 

Wo fangen Sie chronologisch an, was ist das früheste Werk Ihres Kompendiums?

JK: Ganz konkret beginnen wir mit einer Arbeit von Paula Modersohn-Becker: dem "Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag" aus dem Jahr 1906. Es zeigt einen Paradigmenwechsel, denn es gilt als eines der ersten Selbstporträts, auf dem sich eine Frau selbst nackt darstellt. Es läutet eine Emanzipation vom patriarchalen Blick ein, der auf den weiblichen und entblößten Körper schaut. Modersohn-Becker erzählt ihre eigene Geschichte. Die Darstellung ist geheimnisvoll, denn zum Zeitpunkt der Entstehung hält die Künstlerin sich in Paris auf, fernab ihres Ehemanns, dem damals wesentlichen bekannteren Künstler Otto Modersohn, den sie eigentlich verlassen möchte. Sie malt sich schwanger, obwohl sie kein Kind erwartet. Dazu gibt es verschiedene Deutungsansätze: etwa, dass Modersohn-Becker die Anfang des 20. Jahrhunderts kaum miteinander zu vereinbarenden Rollen als Mutter und Künstlerin gemeinsam ins Bild bringt. Dann gibt es die These, dass sie mit ihrer eigenen Kreativität symbolisch schwanger geht. Die Tragik: Sie wird im Jahr 1907 an den Folgen der Geburt ihrer einzigen Tochter sterben. 

Welche Rolle hat bei Ihrer Auswahl Mutterschaft in der Kunst?

JK: In der zeitgenössischen Kunst setzen sich etwa Katarina Janečková Walshe, Camille Henrot, Louise Bourgeois oder Anna Virnich mit Mutterschaft auseinander, die sich damit auch gegen klischeehafte (kunst-)historische Zuschreibungen und Abwertungen von Mutterschaft positionieren. Sie entwerfen ein neues "Mutterbild", das die Erzählung von der Künstlerin weiterentwickelt. Da beobachten wir, dass zurzeit ein neuer Motivkanon entsteht! 

Kunsthistorisch betrachtet, gibt es entweder die erotische oder die mütterliche Brust, bei beidem wird die Brust "in Dienst" genommen. Konnten Sie weitere Aspekte ausmachen? 

NVS: Klar gibt es andere Funktionen und Bedeutungen neben der Brust als erogene Zone und ihrer nährenden Funktion. Zum Beispiel, wenn wir uns die Fotografie von Lee Miller anschauen: eine abgetrennte Brust, die auf einem Teller wie ein Stück Fleisch angerichtet wurde, mitsamt Besteck. Die Künstlerin war Muse und Model, und diese Arbeit kann als Blickwechsel und Wendepunkt in ihrem Schaffen gesehen werden. Sie nimmt die Kamera selbst in die Hand und löst sich aktiv von dem Blick von außen. Übergeordnet war es uns wichtig, über Konstruktion und Dekonstruktion von "Weiblichkeit" nachzudenken. Die ausgewählten Arbeiten beziehen sich oft auf kulturelle Praktiken, Mythen und das institutionalisierte Denken, die bestimmen, was gemeinhin als "weiblich" definiert wird. 

Das Bild von Lee Miller ist drastisch, auch weil es die Brust als isoliertes Organ zeigt, wie ein medizinisches Präparat. 

NVS: Auch Krankheit spielt immer wieder eine Rolle: Jo Spence dokumentiert in der Serie "Crisis Project / Picture of Health (1982–1986)" ihre Brustkrebserkrankung und die medizinische Behandlung. Hannah Wilke fotografierte ihren Oberkörper neben dem ihrer Mutter, die sich nach einer Mastektomie zeigt. Alina Szapocznikow, die auch mit Brustkrebs diagnostiziert wurde, bezieht sich in ihrer Arbeit "Dessert III (1971)" auf die Erzählung um die Heilige Agatha von Catania. Der Legende nach wurden ihre Brüste als Folter abgeschnitten, als sie den Heiratsantrag eines Statthalters ablehnte, da sie ihr Leben Gott geweiht hatte. 

Wie steht es in der Kunst um die Bedeutung von Brüsten bei der Transgeschlechtlichkeit?

NVS: In den Arbeiten von Anna Daučíkovà, Sin Wai Kin und Monty Richthofen finden sich Themen, wie das Abbinden der Brust, die Entfernung der Brust im Zuge einer Geschlechtsangleichung und die Frage, welche Rolle die weiblich gelesene Brust in binär geprägten Systemen wie dem Kapitalismus spielen. 

War es Ihnen wichtig, dass vor allem Frauen das Motiv Brust bearbeiten?

JK: Unser Buch versammelt Werke, die über den weiblich gelesenen Körper sprechen, ihn gesellschaftlich und politisch verhandeln. Der Ausgangspunkt ist oft eine sehr persönliche künstlerische Perspektive, aber natürlich immer auch darüber hinaus. Uns war wichtig, dass in der Mehrzahl der Arbeiten die Brust nicht als Objekt verhandeln, sondern eben als etwas, das einen selbst betrifft, subjektiv. Und natürlich betrifft das Thema dadurch nicht nur ausschließlich Frauen. Wir haben Positionen von Juliana Huxtable, Brian Oldham oder Sin Wai Kin integriert, Künstler:innen, die sich außerhalb der binären Geschlechterzuordnung verorten. Wir wollten nicht dogmatisch sein. Es ist ein Buch der vielen Stimmen, das war uns wichtig. 

In Zeiten von Nipple Ban auf Social Media hatte das Zeigen von Brüsten auch schon wieder etwas Subversives — an welche "sittlichen" Grenzen seid ihr mit eurem Projekt gestoßen? 

NVS: Es ist tatsächlich immer noch so, dass der Nippel einer weiblich gelesenen Brust auf Instagram weiterhin zensiert wird. Bilder von Brustentfernungen oder von stillenden Frauen, sowie Nacktheit in Fotos von Gemälden oder Skulpturen sind davon ausgenommen. Aber das Zeigen oder Verhüllen der Brust hatte zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten variierende Bedeutung, daraus lassen sich immer Rückschlüsse auf die Gesellschaft ziehen. In den USA wurden noch 1934 vier Männer festgenommen, die in Coney Island oberkörperfrei am Strand waren! Das war ordnungswidrig. 

Sie haben lange und gründlich recherchiert - ist es schwer, damit aufzuhören? Werden Sie immer weiter Boobs sammeln? 

JK: Es ist eigentlich schön, diesen spezifischen Filter aufzusetzen. Brüste sind etwas faszinierend Interessantes, unerschöpfliches, archetypisches. Was man sucht, das findet man. Es wird schwer sein, der Versuchung zu widerstehen, irgendwann ein Volume 2 auszulegen. Aber erstmal brauchen wir etwas Abstand. Wir haben über zwei Jahre an der Publikation gearbeitet und freuen uns wirklich, es nun endlich teilen zu können. Aber ja: Die Suche geht weiter.