Galerie The Naked Room in Kiew

"Kunst ist keine Therapie, Kunst ist ein Symptom"

Nach einer kriegsbedingten Zwangspause hat die Kiewer Galerie The Naked Room wieder geöffnet. Hier sprechen Kuratorin Maria Lanko und Künstlerin Kateryna Lysovenko über Traumata, die Rückkehr der Kultur und russische Propaganda


Maria LankoKateryna Lysovenko, herzlichen Glückwunsch zur Wiedereröffnung der Galerie The Naked Room in Kiew. Zu sehen sind Werke von Ihnen, Frau Lysovenko. Es ist ein mutiger Schritt.

Maria Lanko: Ich bin sehr glücklich, wieder physisch in Kiew zu sein und Katerynas wichtige Arbeit zu zeigen. Kateryna ist bereits sehr bekannt auf der internationalen Ebene, ihre Werke werden aber erstmals in ihrer Heimat ausgestellt. Viele Kunstschaffende reagierten auf den Krieg unterschiedlich. Manche gingen an die Front, andere beendeten die künstlerische Tätigkeit und begannen mit der Freiwilligenarbeit, viele haben das Land verlassen. Ich denke, Kateryna wurde noch aktiver im Ausland, als sie die Kriegsereignisse in den Medien verfolgte. Ihre Stimme wurde zum kollektiven Empfänger des Schreckens, erreichbar und begreifbar für alle.

Wie fühlt es sich an, zurück zu sein?

ML: Es ist  ein ziemlich komplexes Gefühl. Einerseits spüre ich Freude, wenn ich die Stadt in ihrer Vitalität erlebe, Freunden begegne, die diese Vitalität durch ihren mutigen gesellschaftlichen Einsatz aufrechterhalten. Andererseits spüre ich die Zerrissenheit der Stadt durch kriegerische Zerstörung. Ich muss gestehen, dass ich kein echtes Heimweh empfand, obwohl ich ein Jahr außerhalb der Ukraine verbracht habe. Die Organisation des neuen Lebens nahm mir alle Kraft. Heute wird mir bewusst, dass eigentlich die Galerie für mich im weitesten Sinne das Zuhause repräsentiert. Sie war schon immer ein Ort der Begegnung, und jetzt wird sie zusätzlich zum Ort der Aufarbeitung.

Maria Lanko, seit einem Jahr arbeiten Sie im Ausland. The Naked Room kuratierte 2022 den ukrainischen Pavillon auf der Kunstbiennale in Venedig. Warum haben Sie und das Team beschlossen, zurückzukehren?

ML: Zurückzukehren war schon immer unsere Priorität. Als der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine begann, stand unsere Teilnahme an der Kunstbiennale in Venedig längst fest. Diese Möglichkeit zu nutzen, die Identität der Ukraine als eigenständiges nationales und kulturelles Gebilde auf der internationalen Ebene sichtbarer und begreifbarer zu machen, schien enorm wichtig für uns. In dieser Zeit erhielten wir viele Einladungen seitens anderer Galerien, die The-Naked-Room-Projekte in Form von Pop-Up-Ausstellungen außerhalb der Ukraine zeigen wollten. Die Planung der Ausstellungen in verschiedenen europäischen Städten nahm ein volles Jahr in Anspruch und endete vor kurzem in der Pariser LAtlas Gallery. Es war Zeit, nach Kiew zurückzukehren. 

Kehren auch andere Menschen der Kunstwelt in die Ukraine zurück?

ML: Die Voloshyn Gallery für zeitgenössische Kunst hat wieder für Kiewer Publikum geöffnet. Man spürt den kollektiven Drang zur Rückkehr. Sicherlich hängt es von persönlichen Umständen ab. Meine Kollegin und Kuratorin Lizaveta German oder auch Kateryna haben Kinder, und die Rückkehr erscheint für sie immer noch unmöglich.

Wie fühlt sich die Stadt heute an?

ML: Die Stadt ist sehr jung geworden. Aktuell begegne ich auf den Straßen kaum Menschen meines Alters, sondern eher Jugendlichen. Die Stadt wirkt sehr homogen, es gibt kaum Spuren von Diversität, an die man sich in den westeuropäischen Großstädten so schnell gewöhnt hat. Auffallend ist auch die große Zahl junger Menschen aus dem Ausland, die hier in Kiew freiwillige Tätigkeiten ausüben. Auf den Straßen und in Cafés hört man viel Englisch, was davor nicht üblich war.

Welche Art von Resonanz gab es bei der Eröffnung?

ML: Seit Beginn der russischen Invasion visualisierte Kateryna künstlerisch Kriegsverbrechen und wurde quasi zur Kriegs-Korrespondentin, die über Gewalt gegen alles Lebendige, Landschaft und den urbanen Raum aufklärte. Für die aktuelle Ausstellung und Wiederöffnung, die immer noch in Kriegszeiten stattfindet, wählt sie aber eine andere Position und veranschaulicht anhand ihrer Kunstwerke ihre ganz persönliche Wahrnehmung des Kriegsgeschehens. Bereits bei der Eröffnung gab es sofort ein Echo, das sich zwischen dem Publikum und den ausgestellten Gemälden konstituierte. Obwohl jeder und jede den Krieg auf unterschiedliche Weise erlebte, entstand meinem Eindruck nach die Identifikation mit dem Abgebildeten auf kollektiver Ebene trotzdem. Menschen erkannten in Katerynas Werken teilweise ihre eigene Verwundbarkeit.

Vieles veränderte sich mit Kriegsbeginn, auch die Wahrnehmung der Ukraine im Westen.

Kateryna Lysovenko: Definitiv. Nach der russischen Invasion tritt endlich auch die Ukraine im Westen in den Fokus. Bevor der Krieg ausbrach, nahm Russland die zentrale Rolle als Hauptvertreter und Träger der osteuropäischen Kultur ein. Propaganda der sowjetischen und postsowjetischen Zeit funktionierte für die westliche Gesellschaft ausgezeichnet. Der lähmende, imperialistischer Einfluss des zaristischen Russlands und später der Sowjetunion auf die unterworfenen Völker und Kulturen löste nicht nur Terror und Traumatisierung  aus, sondern kreierte auch eine irrtümliche Vorstellung der Einzigartigkeit Russlands im Westen. Die Dekonstruktion dieser Vorstellung der absoluten Autorität Russlands sollte die nächste Aufgabenstellung für die westliche Gesellschaft werden. Es geht dabei nicht um den nationalistischen Wettstreit, sondern um den Dekolonisierungsprozess.

Kateryna Lysovenko, der Ausstellungstitel lautet "A Naked Room", zudem ist das Motiv des unbedeckten Körpers in Ihrer Arbeit sehr präsent. Die Zerbrechlichkeit und das Fehlen von allem, vielleicht abgesehen von Schmerz, wird sehr spürbar. Was bedeutet es für Sie, ungeschützt zu sein?

KL: Meine Kinder und ich verließen die Ukraine unmittelbar nach Kriegsbeginn. Von diesem Zeitpunkt an suchte ich nach Sinnbildern, die meine persönliche Empfindung, aber auch die kollektive Empfindung innerhalb der gesamten Bevölkerung, widerspiegeln. "A Naked Room" ist ein Ort des Nichtvorhandenseins. Über Jahrhunderte erlebte die ukrainische Bevölkerung Traumata — im zaristischen Russland, in das die Ukraine integriert war, wurde Leibeigenschaft erst 1861 aufgehoben. Nach etwa 50 Jahren der Freiheit kam es zur Revolution, und kurz darauf wurde die Ukraine Teil der Sowjetunion. Die Kollektivierung nahm den Menschen fast alles und ließ sie über Jahrzehnte hungern. 1991 erlangte die Ukraine ihre Unabhängigkeit, während die Sowjet-Elite sich in eine Oligarchie wandelte, sodass sich keine wirtschaftlich ausbalancierte Gesellschaft im Land entfalten konnte. Einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte die Ukraine womöglich erst ab 2010, nach etwa zehn Jahren wurde durch die russische Invasion alles wieder vernichtet. Über Generationen erbte die ukrainische Bevölkerung nichts als Zerstörung und Traumata. Ein nackter Raum mitsamt den unbedeckten menschlichen Körpern fungiert als Sinnbild sowohl für den absoluten Verlust der Würde als auch der Lebensform.   

Ich denke über die Folgen des kollektiven Traumas und deren Kreislauf auf politischer Ebene nach.

KL: Die Bevölkerung Russlands litt jahrhundertelang unter Missbrauch seitens des Regimes. Die Entstehung der Diktatur und das Aufkommen solcher Machthaber wie Putin passierte nicht zufällig und verfügt über eine eigene Logik. Menschen bilden Systeme und übernehmen Verantwortung für ihr Verhalten und Entscheidungen gegenüber Gemeinschaften, die von ihnen abhängen. Wenn ein politisches System vor dem Hintergrund des Terrors, Gefahr und Angst entsteht, wie das sowjetische System, produziert es logischerweise traumatisierte Anführer. Ein wohlwollendes politisches System kann nicht auf  Basis von Missbrauch entstehen.

Wie kann diese Abhängigkeit von der Tyrannei, die seit Jahrhunderten in Russland existiert, Ihrer Meinung nach durchbrochen werden?

KL: Die Abhängigkeit von einem Diktator, dem totalitären System und das daraus folgende kollektive Trauma sollte erst einmal identifiziert werden. Eine unterdrückte Gesellschaft kann nur dysfunktionales Verhalten hervorbringen. Auch wenn es oppositionelle Stimmen wie Alexei Nawalny oder die Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann gibt, sind es sehr wenige, und sie sprechen immer noch aus der eurozentristischen Perspektive mit dem Anspruch auf die zentrale Opferrolle im heutigen Konflikt. Die Bevölkerung Russlands glaubt bis heute nicht an Selbstbestimmung und lädt gerne die Verantwortung auf die Mächtigen ab, wie die Nato oder Putin. Auch wenn Nawalny die Führung übernommen hätte, würde seine narzisstische Haltung gegenüber den ehemaligen Sowjetstaaten der Gesellschaft Russlands bei dem mentalen Prozess der Dekolonisierung nicht wirklich helfen.

Das Gemälde "Resting on the Monument of Friendship of People" symbolisiert für mich den endgültigen Abschied der Utopie in Bezug auf Völkerfreundschaft. An welches Weltkonzept glauben Sie jetzt?

KL: Als die Sowjetunion die Territorien im Kaukasus, in Asien, im Baltikum und in Osteuropa okkupierte, wurde den lokalen Regierungen die Völkersolidarität samt politischer und sozialer Gleichheit versprochen. Völkerfreundschaft und Gleichheit haben aber nie existiert, es bildete sich ein homogenes hierarchisches System, in dem russische Kultur und Sprache im Zentrum stand. Alles "nicht Russische", auch in der Kunst, wurde gewaltsam unterdrückt. Stalin adoptierte für seine Propaganda das von Napoleon entnommene Konzept des Nationalismus, das sehr starken Einfluss auf die Bildung des Nationalbewusstseins in Russland ausübte. Aus der heutigen Sicht kann ich mir nicht vorstellen, dass die Beziehung zwischen Ukraine und Russland in der nahen Zukunft wieder aufgebaut werden kann. Russland muss seine imperialistischen Ambitionen erst einmal aufgeben und die Verantwortung für die Kriegsverbrechen von der Sowjetzeit bis heute übernehmen.

"The Child with Impossible Speech" zeigt ein Kind einsam in der Natur stehend, sein Mund ist zugeschnürt. Sprachlosigkeit und Erstarrung zählen zu den posttraumatischen Symptomen, an denen auch die junge Generation leiden wird.

KL: Das Kind mit dem zugeschnürten Mund repräsentiert einerseits die Folgen des Kriegstraumas für die junge Generation der Ukraine, aber auch außerhalb der Landesgrenzen. Sprachlosigkeit ist ein typischer Effekt des Traumas, es wird viel Zeit vergehen, bis eine Ausdrucksweise hinsichtlich des erlebten Kriegsterrors gefunden werden kann. Ukrainische Kinder, die im Krieg ihre Angehörigen verloren haben, werden seit Beginn des Donbas-Konflikts nach Russland deportiert. Sie werden mithilfe der pro-russischen Propaganda ihrer Identität beraubt, dehumanisiert, der totalitären Umerziehung unterworfen. Sie wachsen zu Individuen heran, deren Identitäten durch Repression manipuliert werden. Der laute Klang des Schweigens wird noch lange in den Herzen dieser Kinder nachhallen.

"Family Portrait" zeigt drei Familienmitglieder, die im Krieg ums Leben gekommen sind. In gewisser Weise schafft die Darstellung der Mutter, des Vaters und des Kindes in Form eines Gemäldes, einen zusätzlichen Raum der Erinnerung ihrer Existenz.

KL: Als der Krieg begann und ich in den Medien über den ersten Tod eines ukrainischen Kindes erfuhr, begann ich, Kriegsverbrechen täglich in meinen Zeichnungen zu veranschaulichen. Nach einigen Monaten verstand ich, dass ich diesen Vorgang psychisch nicht weiterhin aushalten werde. Ich suchte nach anderen Ausdrucksformen, die den Schrecken des Krieges mit gewaltfreien Bildern widerspiegeln könnte. "Family Portrait" zeigt Menschen in alltäglichen Situationen. Bei der ersten Betrachtung hindert sie nichts an ihrem natürlichen Lebensverlauf. Tatsache ist aber, dass diese Menschen nicht mehr leben. Die Normalität im Bild ist trügerisch — ihre Anwesenheit verweist eigentlich auf die völlige Absenz und Unmöglichkeit einer Normalität. Dieses Gemälde ist allen Menschen dieser Welt gewidmet, die aufgrund politischer Kämpfe für immer aus dem Leben gerissen wurden.

Kann Kunst Ihrer Meinung nach heilen?

KL: Kunst ist keine Therapie, Kunst ist ein Symptom. Oft kann kreatives Schaffen retraumatisierende Wirkung haben. Zeitgenössische Kunstformen enthalten Narrative. Man kann die Kunst analysieren und Zugänge zum Verborgenen finden, aber Kunst selbst kann für mich nicht als Werkzeug zur Heilung fungieren.

Der Krieg zerstört nicht nur Lebewesen, sondern auch die Landschaft. Das Landschaftstrauma spiegelt sich in Ihrem Werk wider. Auch in diesem Kontext entsteht ein Kreislauf — verwundbare Landschaft schafft neue Verletzte.

KL: Meine künstlerische Arbeit in Bezug auf Landschaft ist stark mit dem historischen Kontext der letzten 100 Jahren verbunden. Ich muss wieder auf die geschichtlichen Hintergründe der architektonischen Konzepte der Sowjetzeit hinweisen. Das Modifizieren der Landschaft in urbane Räume verlief damals auf sehr unsensible Weise gegen die Natur, wobei die Landschaft einer enorme Belastung ausgesetzt war. Der dominante Umgang mit der Landschaft wirkt bis heute zerstörerisch im Bereich der Urbanistik. Der Krieg intensivierte bereits vorhandene Landschaftstraumata. Für viele Menschen auf den ukrainischen Schlachtfeldern wird die Landschaft heute buchstäblich zu ihrem neuen Zuhause, sobald sie auf den Feldern ums Leben kommen. Wir leben in einer Zeit, in der Landschaften sich in Grabstätten verwandeln.

Ihre Bilder zeigen Menschen, die nicht dem normativen Geschlechtstyp angehören, Menschen, die physisch mit der Natur zusammenwachsen, oder Landschaften, die in die Lebensräume eintreten. Alles vermischt sich. Symbolisiert es die Sehnsucht nach einer schönen neuen Welt?

KL: Ich arbeite mit Konzepten der Propaganda, indem ich sie zu dekonstruieren versuche. Die russische Propaganda gegen die Ukraine zielt auf die Gestaltung der absurden Trugbilder ab und belebt die sowjetische Rhetorik bezüglich einer "Entnazifizierung". Ich visualisiere aber eine andere Wirklichkeit, in der Menschen innerhalb der posttotalitären Gesellschaften ihre eigentliche Vielfältigkeit erfahren und ausleben können. Wir alle sind verschieden und haben gleichzeitig viele Gemeinsamkeiten, wir streben nach Liebe und Zugehörigkeit. Helden und Heldinnen meiner Welt sind emotional miteinander und mit der Natur verbunden, sie teilen die gleichen Werte, die zu einer ausbalancierten Koexistenz führen. Ich hoffe sehr, dass eines Tages diese Vorstellung zur Realität wird.

Was planen Sie für die Zukunft?

KL: Der Krieg in meinem Land hat mein Leben und das Leben meiner Kinder völlig verändert. Ich muss neue Wege gehen, und hoffe, dass dies für uns in Österreich trotz problematischer Migrationspolitik möglich wird.