Berliner Förderprogramm

"Künstlerische Forschung trägt zum gesellschaftlichen Wandel bei"

In der Kunst besteht ein großes Bedürfnis nach intensiver Forschung. Ein Förderprogramm ermöglicht Künstlerinnen und Künstlern zwei Jahre Recherche. Ein Gespräch mit den Gründerinnen über Hunger nach neuem Wissen

Durch die Vergabe von Stipendien an Einzelpersonen und Gruppen will ein Berliner Förderprogramm die künstlerische Forschung in Berlin stärken. Nach seiner Gründung im Frühjahr 2020 wurde das Programm in diesem Jahr zum zweiten Mal ausgeschrieben. Der Jury gehörten Cana Bilir-Meier, Alberto de Campo, Filipa César, Julian Göthe, Thomas Meinecke, Karina Nimmerfall und Yvonne Wilhelm an.

Ausgewählt wurden 15 Stipendiatinnen und Stipendiaten mit 13 Forschungsvorhaben: Aline Baiana, Barbara Marcel, Season Butler, Sara Sejin Chang (Sara van der Heide), Assaf Gruber, Dominique Hurth, Nathalie Anguezomo Mba Bikoro, Andrea Parkins, Didem Pekün, Ming Poon, Nguyễn + Transitory (Nguyễn Baly & Tara Transitory), Philip Rizk & Basma al-Sharif, Emma Wolf-Haugh. Die Stipendien haben eine Laufzeit von Januar 2022 bis Dezember 2023 und sind mit jährlich 30.000 Euro dotiert. Zusätzlich stehen Projektmittel für die Forschungen und für ein öffentliches Programm zur Verfügung. 

Die Förderung erfolgt mit den Mitteln der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Träger des Berliner Förderprogramms ist die Gesellschaft für künstlerische Forschung in Deutschland (gkfd). Die nächste Ausschreibung für 2024/2025 wird – vorbehaltlich der Zusage der Mittel durch den Berliner Senat – im Sommer 2023 veröffentlicht. Ein Gespräch mit den Gründerinnen der Gesellschaft für künstlerische Forschung, der Philosophin Kathrin Busch und der Autorin und Kuratorin Rike Frank. 

Frau Busch, Frau Frank, Sie haben im Jahr 2018 die Gesellschaft für künstlerische Forschung gegründet. Wie definieren Sie diese Begrifflichkeit, die zum Teil noch immer als "Modeerscheinung" abgetan wird?

Kathrin Busch: Der Begriff ist in der Tat vieldeutig und das Verständnis von künstlerischer Forschung variiert sehr stark. Oft wird künstlerische Forschung mit der Qualifikation an Kunsthochschulen, mit Ph.D.-Programmen, gleichgesetzt. In diesem Zusammenhang wird die Forschung der Künste auf wissenschaftliche Forschung bezogen. In den entsprechenden Qualifikationsarbeiten werden oft wissenschaftliche Anteile erwartet. Von diesem Konzept setzen wir uns ab. Wir verstehen künstlerische Forschung als eine Wissensbildung mit künstlerischen Mitteln. In der zeitgenössischen, postkonzeptuellen Kunst haben Wissenspraktiken an Bedeutung gewonnen. Das Interesse an künstlerischer Forschung ist Folge einer Veränderung in den Künsten selbst. Diese Hinwendung zu Fragen des Wissens und das Verständnis von Kunst als einer forschenden Praxis antworten auf die zunehmende Bedeutung von Wissen in unserer Gesellschaft, zu dem die Künste ihrerseits beitragen und mit dem sie sich kritisch auseinandersetzen. Künstlerinnen und Künstler arbeiten gewissermaßen an einer Neuaufteilung des Wissbaren mit. Das heißt auch, dass der Begriff von Forschung selbst mit in Frage steht.

Rike Frank: Das Feld ist in keiner Weise definiert, und es ist auch nicht unser Anliegen, eine Definition von künstlerischer Forschung vorzuschlagen, sondern verschiedenen Stimmen einen Raum zu geben.

Zu den Aktivitäten der Gesellschaft gehört neben der Ausrichtung von Festivals und Symposien auch der Einsatz für die Verbesserung von Förderungsmöglichkeiten. Die Gesellschaft ist Träger des Berliner Förderprogramms Künstlerische Forschung. Das Programm wurde 2020 mit Mitteln der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa eingeführt. Insgesamt wurden 13 Stipendien zu je 30.000 Euro vergeben. Was ist Ziel der Förderung?

KB: Uns geht es darum, künstlerische Forschung außerhalb der Kunsthochschulen zu fördern, unabhängig von einer akademischen Weiterqualifikation. Die Projekte, die wir fördern, implizieren oft eine Wissenskritik und beziehen marginalisiertes Wissen ein. Damit unterscheiden wir uns von akademischen Formen der künstlerischen Forschung.

RF: Wesentlich ist, dass das Programm nicht mit finanziellen Mitteln der Bildung, sondern der Kunst gefördert ist, also an die Kunst zurückgebunden wird. Ziel ist, einen Freiraum zu ermöglichen, in dem Fragen gestellt werden und verschiedene Suchbewegungen stattfinden, die an übergreifende Themen geknüpft sind.

Das Programm wurde sehr gut angenommen. Es gab allein für die erste Förderphase 357 Anträge, obwohl Voraussetzung für die Antragstellung ein Wohnsitz in Berlin ist. Auch für die zweite Phase gingen 374 Anträge ein.

RF: Die große Resonanz begründet sich sicher auch damit, dass dieses Programm zwei Jahre Zeit gibt. Und dass künstlerische Forschung ein Medium ist, um zu einem gesellschaftlichen Wandel beizutragen. Es geht dabei auch um Fragen wie: Wie forschen wir, sodass wechselseitige Beziehungen entstehen? In wessen Interesse wird geforscht? Wie artikulieren wir eigene Involviertheit in das Material und bestehende Asymmetrien? Wie können wir durch künstlerische Forschung für bestimmte Themen sensibilisieren, die sich dann in den jeweiligen Forschungsvorhaben wiederfinden?

Warum fördern sie explizit keine Werke oder Produktionen?

RF: Das Förderprogramm endet bewusst nicht mit einer Endpräsentation, bei der fertige Werke gezeigt werden. Das wird von den Bewerberinnen und Bewerbern als eine große Chance verstanden, sich mit bisherigen Präsentationsformen, mit Formen des Öffentlichwerdens und Erfahrungen aus früheren Projekten auseinanderzusetzen. Natürlich ist es in keiner Weise ausgeschlossen, dass in dieser Zeit Filme und Performances, Installationen, Theater- oder Musikstücke entstehen.  

KB: Der Erhalt des Stipendiums ist auch nicht daran geknüpft, dass das Forschungsprojekt im Förderzeitraum abgeschlossen wird.

Welche Projekte wurden in den vergangenen zwei Jahren gefördert?

RF: In der ersten Förderrunde war zum Beispiel Fehras Publishing Practices vertreten, ein Kollektiv aus Berlin, das sich seit geraumer Zeit mit den publizistischen Praktiken im nordafrikanischen Raum und im östlichen Mittelmeer zur Zeit des Kalten Krieges auseinandersetzen. Sie schauen sich an, wie unter Einfluss der USA und der Sowjetunion sowie blockfreier Bewegungen politische Interessen und kulturelle Förderung ineinandergriffen, publizistische Tätigkeiten und ihren Vertrieb regulierten. Sie haben Material zur Geschichte einzelner Verlage und Protagonistinnen und Protagonisten gesammelt und diese in Fotoromanen re-inszeniert, sich selbst als Personen aus diesem historischen Narrativ in Szene gesetzt. Diese Arbeit hat sie für Archive sensibilisiert.

Und was geschah im Förderungszeitraum?

RF: Im Rahmen des Stipendiums entstand ein digitales Archiv: Es bündelt Materialien, Publikationen und Notizen, die sie seit 2018 gesammelt haben. Dieses Archiv, dass bald online gehen wird, kann von den Leserinnen und Benutzern durch Formen von Tagging kommentiert werden. Es entkoppelt die Hierarchie von Primär- und Sekundärquelle, die Archive normalerweise strukturiert. Ein anderes Beispiel ist Katrin Mayer: Sie hat über ein Jahr mit verschiedenen Autorinnen, Theoretikern und Künstlerinnen korrespondiert. Ausgehend vom digitalen Code 0 und 1 geht es ihr um verschiedene Figurationen der Null. Die Nullen, Schleifen, Leerstellen, alles, was Nullen sein können, hat sie zum Ausgangspunkt genommen und um Beiträge gebeten, unter anderem auch von Jasmina Metwaly, die ebenfalls ein Stipendium im Förderzeitraum hatte. Diese Beiträge wurden in unterschiedlichen Sprachen in einer Zoom-Konferenz vorgelesen und werden auf einer Website publiziert, die sie derzeit mit einer Programmiererin entwickelt. Teil dieser Zusammenarbeit ist auch die Befragung der Sprache, die dem Coding unterliegt, die Infrastruktur in einen feministischen Kontext zu stellen und andere Formen und Alternativen, die zu anderen Texturen führen, vorzuschlagen.

KB: Bei Katrin Mayer wird sehr schön deutlich, dass das Material ihrer künstlerischen Auseinandersetzung Theorie ist. Mit Beginn der philosophischen Ästhetik hat man den Künsten zugetraut, eine sinnliche Erkenntnis zu ermöglichen. Heute findet die Wissensbildung nicht nur im Ästhetischen statt, auch Theorie ist zu einem Teil des künstlerischen Materials geworden. Die künstlerische Forschung arbeitet im Unterschied zur ästhetischen Erkenntnis oder Reflektion mit außerkünstlerischem Wissen, das sie aufnimmt, befragt oder verschiebt. Es ist eine Forschung, die sich mit schon codiertem Wissen auseinandersetzt.

Im ersten Durchgang widmeten sich zwei der 13 Projekte der Erinnerung an die DDR: Mareike Bernien und Alex Gerbaule arbeiteten an einem Filmprojekt zur SAG Wismut in Sachsen und Thüringen, die von 1946 bis 1990 Uran für das Atomwaffenprogramm der UdSSR abbaute. Anna Zett und Hermann Heisig fragten, welche narrativen, emotionalen und habituellen Spuren die DDR und das, was danach kam, in ihren Körpern hinterlassen hat. War diese Schwerpunktsetzung eine bewusste Entscheidung der Jury?

KB: Die Projekte sind sehr unterschiedlich. Dass sich beide mit der Geschichte der DDR befassen, war kein Ausschlusskriterium. Wir haben noch ein drittes Projekt, dass sich mit deutscher Geschichte befasst: Maria Eichhorn hat die Arbeit an ihrem "Rose Valland Institut" fortgesetzt und recherchiert den Verbleib der während der NS-Zeit enteigneten Sammlung David Friedmann. Es war uns wichtig, auch dieses Projekt, das sich mit Faschismus und Raubkunst auseinandersetzt, hinzuzunehmen. Andere Projekte verfolgen post- oder dekolonialen Perspektiven, ebenso wie auch queer-feministische Ansätze.

RF: Es ist auch immer die Frage, welchen Blick Sie einnehmen. Ihnen ist der DDR-Schwerpunkt aufgefallen. Sie könnten auch schauen, welche Ansätze das Medium Film verwenden, woraus sich wieder andere Verknüpfungen ergeben. Es gibt unterschiedliche Verbindungen zwischen den einzelnen Forschungsvorhaben. Es gibt auch eine ganze Reihe, in denen die Stimme und der Atmen eine Rolle spielen.

Wie wichtig ist die Kuratierung der Gruppe der Ausgewählten?

KB: Für unser Programm ist das, was man eine Forschungsgemeinschaft nennen könnte, wesentlich. Es ist entscheidend für uns, dass es einen gemeinsamen Austausch über das Konzept der künstlerischen Forschung, über seine Kritik und mögliche Weiterentwicklung gibt, und dass dieser Austausch zwischen den künstlerisch Forschenden stattfindet.

RF: Wir sind ein disziplinübergreifendes Programm. Auch wenn in der ersten Phase die bildende Kunst überwog, waren Musik, Schreiben und Performance Teil einiger Forschungen. Der Austausch der Stipendiaten untereinander ist ein ganz zentraler Aspekt.

Wie gestaltete sich dieser Austausch konkret?

KB: Ein Mal im Monat treffen sich alle Stipendiatinnen und Stipendiaten und stellen sich gegenseitig ihre Projekte vor. Darüber hinaus gibt es öffentliche Veranstaltungen.

RF: Wobei wir uns vor Augen halten müssen, dass das Programm im April 2020, also inmitten eines Lockdowns seinen Anfang nahm und daher viele dieser monatlichen Treffen auf Zoom oder bei Spaziergängen stattfinden mussten. Das waren sehr spezielle Jahre und das wird sich jetzt stark ändern. Forschen passiert ja nie allein, sondern immer in Zusammenhängen. Über die interne Forschungsgemeinschaft hinaus ist es uns ein Anliegen mit Hilfe eines öffentlichen Programms künstlerische Forschung stärker in der Öffentlichkeit zu diskutieren und den Forschungsverbund zu erweitern. Workshops, Vorträge, aber auch Präsentationen geben Einblick in die einzelnen Projekte und eröffnen die Möglichkeit, übergreifende Fragen gemeinsam mit einem größeren Publikum zu besprechen. Die einzelnen Forschungsfragen sind zudem an diverse und sehr unterschiedliche Öffentlichkeiten geknüpft. Wir haben auf der Website einen eigenen Bereich, der ganz buchstäblich "Plural" heißt. Wir verstehen ihn als Ressource, als einen Ort, wo wir über künstlerische Forschung debattieren und fragen können, in welche Richtung sie sich entwickelt.

KB: Der Austausch und die gemeinsamen Präsentationen sind Teil der Förderung. Uns ist wichtig, dass es eine kunstimmanente Auseinandersetzung darüber gibt, was künstlerische Forschung ist. Die Reflektion über das Wissenspotential der Künste wird bislang eher in den Kunstwissenschaften geführt. Aber die Grundlagenforschung, die Auseinandersetzung über die Bedingungen des künstlerischen Forschens, über Verfahren und Präsentationsweisen, muss auch in den Künsten selbst und von den künstlerisch Forschenden geführt werden. Daher ist uns dieser Verbund so wichtig.

Im Oktober wurden die Projekte für die zweite Förderphase ausgewählt. Nach welchen Kriterien wurde die nächste Gruppe zusammengestellt?

RF: Es gibt eine unabhängige Jury, denn wir vergeben öffentliche Gelder. Die Jury war entsprechend interdisziplinär besetzt, alle Mitglieder hatten Zugang zu allen Bewerbungen und konnten Einreichungen nominieren, die wiederum an alle kommuniziert wurden. In einem zweitägigen Prozess wurden die Vorschläge dann gemeinsam diskutiert. Neben Kriterien wie einer ausgewiesenen künstlerisch forschenden Praxis und einem überzeugenden Forschungsansatz ging es dabei auch um die Zusammensetzung der Gruppe.

Zeichnen sich im Vergleich zu den eingereichten Projekten von vor zwei Jahren ein Trend oder eine Tendenz ab, sei es methodisch oder thematisch?

RF: Wir bitten in diesen Anträgen um eine kurze Beschreibung des eigenen Zugangs zu künstlerischer Forschung. Daran sieht man sehr stark, dass es eine Vertiefung in der Auseinandersetzung mit künstlerischer Forschung gibt und viele der künstlerischen Anliegen an Themen anknüpfen, die wir aus den aktuellen gesellschaftlichen Debatten kennen, etwa Gesundheit, Gegenentwürfe zur Domestizierung von Natur oder De-Produktion, oder auch die Wechselwirkung zwischen Berührung und Klang. Das Programm ist geprägt von der Dichte und Diversität künstlerischer Produktion in Berlin.

Gibt es in Berlin Planungssicherheit für die Fortführung des Programms?

KB: Ja, das Programm wird unbefristet gefördert und hat einen Haushaltstitel. Die Senatsverwaltung hat mit dem neuen Förderformat unseres Programms auf eine aktuelle Entwicklung in der Berliner Kunstszene reagiert und das Bedürfnis intensiver Forschung in den Künsten wird auch zukünftig bestehen bleiben.

Ist angedacht, dass Programm deutschlandweit auszuweiten? Sind Sie etwa im Gespräch mit den Kulturstiftungen der Länder?

KB: Ich denke, dass das Berliner Förderprogramm vorbildlich ist. Es ist selbstverständlich wichtig, die künstlerische Forschung nicht nur in Berlin zu fördern. Deshalb wurden in der Gesellschaft für künstlerische Forschung Arbeitsgruppen gebildet, die sich auch in anderen Bundesländern für vergleichbare Förderungen einsetzen.