John Akomfrah in Frankfurt am Main

Die Zeit überholen und Wind werden

Der britische Künstler John Akom­frah erschafft Video­ar­bei­ten von außergewöhnlicher Inten­si­tät. Auf großflächigen Screens erzählt er in der Frankfurter Schirn von Umbrü­chen der Vergan­gen­heit und Krisen der Gegen­wart

Für Empathie, das verstehende Nachempfinden, ist eine gewisse Übung im Lesen von Mimik, Gesten und akustischen Signalen wie der Stimmlage Voraussetzung. Trotzdem können Menschen das oft schon sehr früh im Leben. Dann verlernen sie es nach und nach wieder, denn sonst könnten sie zum Beispiel nicht mit Fishtrawlern Walen hinterherjagen und ihnen maschinell Harpunen durch die Haut schießen, bis die Fontänen voller Blut sind, und die Wale dann ausweiden wie eine Abraumhalde. 

Menschen lernen, mit anderen Prioritäten – Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum zum Beispiel – ihre Empathiefähigkeit zu torpedieren. Manche machen später Kurse, um das rückgängig zu machen.

John Akomfrah hat seine Ausstellung in Frankfurt am Main, die erste größere in Deutschland, "Space for Empathy" genannt. Kuratiert wurde sie von Julia Grosse. Es ist eine für die Schirn sehr ungewöhnliche Schau, denn sie zeigt in drei unterschiedlichen abgetrennten Räumen nur je eine Videoarbeit. Ungewöhnlich auch, dass man wiederkommen darf: Jedes Ticket erlaubt zwei Besuche. 

Schauen und Hören reicht

Ein zusätzlicher Leseraum wirkt wie eine Schleuse zwischen den einzelnen Filmerlebnissen. Hier sind von Virginia Woolf über bell hooks bis Stuart Hall jene Werke zum Nachschlagen präsentiert, die für den 1957 in Accra, Ghana, geborenen britischen Künstler für seine Arbeit wichtig sind. 

Aber es ist kein akademischer Handapparat nötig, um diesen drei Filmen zu folgen. Schauen und hören reicht. Wir sehen in "Vertigo Sea" die Meeresoberfläche und das Auftauchen von Walen, beeindruckende Ansichten aus dem Inneren einer Welle, Satellitenaufnahmen von Gewässern. Die Drei-Kanal-Installation scheint selbst flüssig zu sein, sie schwankt leise. Der ästhetische Sog hält an, auch als die Harpunen in die Wale dringen und das Blut rhythmisch herausschießt. 

John Akomfrah war in den 1980er-Jahren Teil des Black Audio Film Collective und reiste nach Alaska, um eine Doku über einen auf Grund gelaufenen Öltanker für die BBC zu drehen. Die überwältigende Naturaufnahme als Eintrittspforte für das Zeigen komplexer, gleichzeitig stattfindender Dinge, von der Kolonialgeschichte bis zum Umweltkollaps, sind ihm seither geblieben. 

Dank an Stuart Hall

So finden poetische Aufnahmen von Quallen parallel zu Schilderungen der "Death Flights" der Militärdiktatur in Argentinien 1974 statt, die politische Gefangene lebend über dem Meer aus den Flugzeugen stießen, um sie zu entsorgen. Unter ihnen insbesondere Mütter, die gerade entbunden hatten. 

Akomfrahs älteste Arbeit hier ist "The Unfinished Conversation" über den jamaikanischen Kulturtheoretiker und Begründer der Cultural Studies, Stuart Hall. Bis zu seinem Tod im Jahr 2014 arbeiteten der intellektuelle politische Aktivist und der Filmkünstler daran gemeinsam. Der Film ist ein Meisterwerk. Die Collage aus Voiceover mit Musik, neu gedrehtem Filmmaterial und TV- und Archivaufnahmen wird fortan zu Akomfrahs Markenzeichen.

Hall wuchs in Jamaika auf, mit einer "Haut, zwei Grade dunkler als der Rest meiner Familie." Akomfrah macht einfühlsam auf verschiedenen Erzählebenen klar, wie prägend Halls eigene Identität für seine politische Haltung gegen Atomkraft, gegen den Vietnamkrieg, für soziale Gerechtigkeit war, die er von Oxford aus publizistisch und aktivistisch lebte. Die Verschränkung all dieser unterschiedlichen Aspekte gemeinsam zu betrachten, wird erst heute gelehrt. Zu verdanken ist es unter anderem Hall. 

Hier geht es um Auflösung

Der dritte, neueste Film der Ausstellung ist am wenigsten greifbar: "Becoming Wind" ist eine zeitlupenartige Paradies-Allegorie mit spielenden jungen Frauen am Strand, mit Wind in Wiesen und auf Feldern, großen Schwärmen von Monarch-Faltern und anderen flüchtigen Motiven. Auf fünf Videoleinwänden ist eine Narration nicht mehr klar zu erkennen, hier geht es um Auflösung. 

"Wir müssten zu etwas Windartigem werden, um dorthin zu gelangen", sagt Akomfrah. Doch es geht nicht um Eskapismus, sondern um die Unmöglichkeit, die kommenden Anforderungen zu antizipieren. Wind zu werden, das wäre die Möglichkeit, die Zeit zu überholen. Oder klüger, weiser, empathischer zu sein als wir sind. 

Es bleibt die gegenwärtig sehr angemessene Einladung des Künstlers John Akomfrah, zu fühlen. Traurig zu sein, Empathie auszuüben. Bevor das Argumentieren wieder anfängt.