Insta-Watchlist: Young Girl Reading Group

Kollektives Lesen als Strategie

In unserer Reihe Insta-Watchlist stellen wir Künstler vor, die uns auf Instagram aufgefallen sind. Dorota Gawęda and Eglė Kulbokaitė sind die Gründerinnen der Young Girl Reading Group. Seit 2013 liest das Kollektiv gemeinsam theoretische Texte, die zu Grundlage ihrer Performances werden, bei denen es um das Lesen im digitalen Zeitalter geht

Was passiert bei Ihren Performances?

Alle unsere Performances basieren auf unserem Langzeitprojekt Young Girl Reading Group, das es seit 2013 gibt. Es war zu Beginn tatsächlich eine Lesegruppe in Berlin. Alle unsere Performances befassen sich damit, wie mit Texten umgegangen werden kann und wie man Texte teilen kann.

Sie haben sich also ursprünglich regelmäßig getroffen und gemeinsam Texte gelesen?

In den ersten zwei Jahren haben wir uns jeden Sonntag in Berlin getroffen, es war eine kleine, vertraute Runde. Es gab keine Hierarchie, und darum ging es auch, um Wissen zu teilen und um zu lernen, indem gemeinsam Texte gelesen werden. Wir haben uns viel mit feministischer und queerer Theorie beschäftigt.

Was haben Sie so gelesen?

Wir lesen beispielsweise oft Texte von Silvia Federici, Sadie Plant, Donna Haraway, Rosi Braidotti, Gayatri Spivak, Shulamith Firestone, Ursula K. Le Guin, Octavia Butler, Paul B. Preciado, Richard Sennett, Luciana Parisi, Timothy Morton, Sarah Ahmed, Margarida Mendes, Olga Tokarczuk, Saidiya Hartman, etc.

Zu Beginn war Ihre Facebook-Gruppe sehr wichtig, um die Texte kursieren zu lassen?

Damit ging es 2013 auf Facebook los, ja? Wir haben über die Gruppe unsere Events kommuniziert. Wir haben dort die PDFs zu den Texten geteilt, die gelesen werden sollten. So konnten sich auch Leute einbringen, die nicht an dem Ort waren, wo ein Treffen stattgefunden hat. Jeder sollte sich beteiligen können. Die Textauswahl treffen wir meist in der Gruppe. Wir gehen von einem Text aus, der führt uns über verschiedene TeilnehmerInnen zu weiteren Text. Wir schmeißen unser Wissen und unsere Interessen zusammen.

Sind zu Ihren Treffen tatsächlich hauptsächlich Frauen gekommen?

Nein. Wer auch immer glaubt, dass unsere Lektüre hilfreich ist, kommt zu unseren Treffen. Unsere Performer sind natürlich auch nicht nur weiblich.

Warum haben Sie sich Young Girl Reading Group genannt? Was hat es mit dem jungen Mädchen auf sich?

In unserer ersten Sitzung haben wir von Tiqqun "Preliminary Materials For a Theory of the Young-Girl" gelesen. Weil es unser erster Buch war, hat uns das zum Namen und zu Fragen geführt, mit denen wir uns befassen. Obwohl Tiqqun behauptet die Kategorie junges Mädchen, sei weder alters- noch geschlechtsspezifisch, sondern vielmehr ein Produkt der Konsumgesellschaft, identifiziert Tiqqun Jugend und Weiblichkeit als Marker für unbewusstes Kapital. Damit werden konventionelle frauenfeindliche Tropen verstärkt. Mit der Young Girl Reading Group versuchen wir, das Bild vom jungen Mädchen neu zu gestalten. Von Beginn an waren wir daran interessiert, wie Sexualität, Technologie und Raum miteinander verbunden sind.

Sind Sie ein feministisches Kollektiv?

Wir sind ein Künstlerinnenduo. Wir arbeiten in einer Vielzahl von Medien. Die Young Girl Reading Group ist ein Projekt, das uns ermöglicht, das Kunstmachen durch einen queeren, feministischen und kollaborativen Ansatz neu zu verhandeln.

Wie integrieren Sie die Texte in Ihre Performances?

Die Skripte, die wir für unsere Performances verwenden, sind Versatzstücke aus den Texten, die für unsere Lesegruppe wichtig sind. Wir sammeln viele Zitate, die wir dann selbst rekontextualisieren und zu einem neuen Text zusammenfügen. Es entsteht ein verletzlicher Hyperkörper aus Vorworten, Widmungen, Zitaten, Anhängen, Abbildungen, Verweisen, Notizen, Diagrammen, Beiträgen, Kommentaren und Gedanken.

Arbeiten Sie mit professionellen Performern?

Wir arbeiten mit Menschen aus unserem erweiterten Freundes- und und Bekanntenkreis, insbesondere mit Menschen, die gelesenen Text verkörpern können und sich auf feministische und queere Theorien beziehen. Unsere Interpreten kommen aus verschiedenen Bereichen, etwa aus Kunst und Wissenschaft. Wir schätzen die Zusammenarbeit mit Menschen, die uns ein abwechslungsreiches Gestenvokabular und eine persönliche Sicht auf die von uns skizzierte Choreografie bieten.

Ist Lesen in Zeiten sozialer Medien, wo die Aufmerksamkeitsspannen immer kürzer werden, besonders wichtig? Motiviert man sich gegenseitig, wieder mehr zu lesen?

Unsere Performances machen den Lesekörper und seine Umgebung zum Ort von Beziehungen. Es besteht kein Zweifel mehr, soziale Medien sind private Räume, in denen Daten gesammelt und verkauft werden. Kollektives Lesen kann eine Strategie sein, die dazu beiträgt, dass unterrepräsentierte Positionen in den Vordergrund rücken. Wir brauchen mehr Stimmen, die nicht männlich, nicht weiß, nicht heterosexuell usw. sind, um mögliche Visionen für unsere Zukunft zu schaffen. Wir brauchen eine größere Vielfalt von Stimmen, um Gemeinschaften aufzubauen und unterschiedliche Erfahrungen sichtbar zu machen.

Sie übertragen Ihre Performances live via Instagram.

Ja, manchmal machen wir das. Das ändert sich gerade ein wenig. Die Dokumentation der Performance auf Instagram erfolgt immer durch die Performer selbst, natürlich sind auch oft Leute im Publikum, die die Performance auf ihren Social Media Kanälen teilen. Für unsere Dokumentation lassen wir aber keine Außenperspektive zu. Die Performer werden zwar vom Publikum beobachtet, wir aber lassen sie entscheiden, wie sie ihre Performance aus der Innensicht dokumentieren wollen.  

Sie lesen gemeinsam, um Intimität herzustellen. Geht diese Intimität verloren, wenn Sie die Performance live in die sozialen Medien übertragen?

Heute sind wir alle daran gewohnt, ständig online zu sein und uns verbunden zu fühlen. Die Live-Übertragung stellt eher ein vertrautes Gefühl her, weil die Performer sich wohler dabei fühlen, von ihren Followern auf Instagram beobachtet zu werden, die sie kennen, als von Fremden in einer institutionellen Umgebung. In der Öffentlichkeit fühlt man sich heute mit einem Smartphone in der Hand sicherer. In einer Bar beispielsweise fühlt man sich doch auch wohler, wenn man über das Smartphone mit Freunden und Bekannten kommuniziert.