Kontroverse um "Joker"

Realitätscheck für den Horrorclown

 Joaquin Phoenix als Arthur Fleck (Joker) in einer Szene des Films "Joker"
Foto: Niko Tavernise/Warner Bros. Entertainment/dpa

Joaquin Phoenix als Arthur Fleck (Joker) in einer Szene des Films "Joker"

Schon vor dem Kinostart hat Todd Philips' "Joker" Kontroversen ausgelöst. Schaut der Film zu verständnisvoll auf einen Mörder und toxische Männlichkeit? Unser Autor widerspricht. Dieser Einwand wäre das Ende der Ambivalenz im Kino   

Was wäre Lex Luthor ohne Superman? Der Grüne Kobold ohne Spiderman? Ist Kain ohne seinen Bruder Abel vorstellbar? Der schon jetzt heiß umstrittene Blockbuster "Joker" imaginiert sich die Vorgeschichte des berüchtigten Gegenspielers von Batman und lässt den Superhelden einfach weg. Bruce Wayne ist in Todd Phillips’ Gewinner des Goldenen Löwen von Venedig noch ein Kind, Jahre bevor er im Kampf gegen das Böse sein Fledermauskostüm anlegt. Mit dem absoluten Bösen wiederum, das in den Batman-Comics sein Ideal im dauergrinsenden Joker findet, ist es im "Joker"-Film auch nicht weit her. Joaquin Phoenix brilliert als psychisch kranker Loser namens Arthur Fleck, der zum Mörder wird.

Ist der Vergleich mit dem biblischen Kain zu hoch gegriffen? Nicht unbedingt, denn im Film haben Arthur und Bruce (A & B) vielleicht wirklich denselben Vater. Außerdem dreht sich der alttestamentarische Brudermord um eine Beschämung: Gott nimmt Abels Tieropfer an, das von Kain dargebrachte lässt er liegen. Bloßstellung, Scham lässt sich mit Schuld "maskieren", so der Psychoanalytiker Leon Wurmser in seinem Standardwerk "Die Maske der Scham". Kain, der die Scham nicht erträgt, erschlägt den Bruder.

Auch "Joker" erzählt von Scham als Motor der Gewalt. Arthur wird getreten, verlacht und links liegen gelassen, aus der Schmach befreit er sich mit Gewalt. Mit erstaunlicher Konsequenz eliminiert Todd Phillips alle Fantastik aus der Comic-Vorlage und schildert den Werdegang des Verbrechers als psychologische Fallstudie. Trotz der realistischen Tendenzen in Christopher Nolans "Dark Knight"-Trilogie ist das im Kino ohne Beispiel. Aber auch eine gute Idee? Die Meinungen gehen krass auseinander.

Der Underdog und die Gewalt

Trotz der bahnbrechenden Idee, den Superschurken in die historische Realität zu transportieren, das New York der frühen 80er-Jahre, ist "Joker" filmsprachlich Oldschool. Todd Phillips orientiert sich ästhetisch an New Hollywood und nimmt sich Filme von Martin Scorsese zum Vorbild, namentlich "Taxi Driver" (1976) und "The King of Comedy" (1982). In beiden Filmen spielt Robert de Niro einen Underdog, der Gewalt anwendet, um auf sich aufmerksam zu machen. Und auch Phillips hat de Niro besetzt, als von Arthur angehimmelten Fernsehstar Murray Franklin. Franklin erfüllt Arthur den Traum, als Gast in seiner Late-Night-Show aufzutreten. Eine Chance oder eine weitere Beschämung? Arthurs Auftritt hat jedenfalls fatale Folgen.

Auf "Zeit Online" wirft Adrian Daub dem Film "Nihilismus" und "Verständnispornografie" vor. Der Kritiker vergleicht "Joker" mit Nolans "The Dark Knight", in dem Batmans Butler Pennyworth eine einzige Erklärung für die Verbrechernatur des Joker gibt: "Manche Menschen wollen die Welt einfach brennen sehen." Gegenüber dieser knappen Formel steht für Daub die Psychologisierungswut im "Joker": "Der Film sagt zu allen Deutungsversuchen Ja: Es liegt an der Gesellschaft, es liegt an den Eltern, es liegt an der Psyche, es liegt an Kindesmissbrauch, es liegt an der Politik. Verglichen mit Pennyworth’ demonstrativem Achselzucken ist dies im Endeffekt die sinnentleertere Antwort", schreibt der "Zeit"-Kritiker. Die Analyse stimmt, das Fazit darf man bezweifeln. Denn die Kritik ignoriert die Tatsache, dass die soziologische und psychologische Durchleuchtung dem Konzept des Films entspricht. Der künftige Joker ist aus dem Comic in die reale Welt gefallen. Den Wirkungen der Realität auf die Hauptfigur spürt der Film nach.

Der Joker als unverstandener Wilder?

Für Stephanie Zacharek, Kritikerin des "Time Magazine" ist der verständnisvolle Blick auf die Figur ebenfalls ein Problem: "Arthur ist ein Wrack, aber wir sollen auch denken, dass er irgendwie großartig ist – ein unverstandener Wilder". Einspruch auch hier. Zacharek scheint Joaquin Phoenix’ tatsächlich großartige Performance mit der Figur zu kurzzuschließen, eine tickende Zeitbombe, ein Mann, dessen Habitus und Handeln zutiefst verstörend wirkt. Arthur ist vielschichtig, kein Heiliger. Sollte toxische Männlichkeit nicht mehr thematisiert werden, weil sie womöglich ansteckend wirkt? Nach dieser Logik hätte Ambivalenz keinen Platz mehr im Kino. Es gälte der kategorische Imperativ: Schreibe dein Drehbuch nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

Als „"Joker" in Venedig lief, wo er dann den Goldenen Löwen gewann, charakterisierte Rüdiger Suchsland den Film als "reaktionär". Die hohe Wertung durch imdb-User (die den Film zur Weltpremiere mehrheitlich gar nicht sehen konnten) verrate, so Suchsland auf "Artechock.de", "einiges über den Zeitgeist: Rache- und Revo­lu­ti­ons­phan­ta­sien, vereint durch das in ihnen liegende Wutbür­gertum, werden bedient, Verach­tung für Rechts­staat, Medien, Politik sowieso." 

Dieser Satz ist für "Joker" vollkommen irrelevant, denn er beschreibt nicht den Film. Arthur Fleck ist nicht der Auslöser der Straßenkämpfe einer Art Occupy-Bewegung im Film, auch wenn die Aktivisten sich nach seinem ersten Mord von seiner Clownsmaske inspiriert fühlen. Außerdem: Was hat der angebliche "Zeitgeist" mit einem Film zu tun, den zum Zeitpunkt der Feststellung außer wenigen Festivalbesuchern kaum jemand gesehen hatte?

Natürlich erzählt "Joker" etwas über unsere Zeit, aber etwas anderes. In ihm manifestiert sich eine politische Entfesselung und die überwunden geglaubte Erfahrung von Psychopathen an der Macht. In den USA und England können die Leute ein Lied singen über Horrorclowns in der Regierung. 

Der Film ist weniger brutaler als sein Ruf

Über die Gewalt im "Joker" ist ebenfalls viel diskutiert worden. In den USA wird der Film zum Anlass einer Debatte über Gewalt im Kino genommen. Dabei ist "Joker" zwar düster, aber in seiner Brutalität keineswegs extrem. Auch hier gilt: Dem Film eilt inzwischen ein Ruf voraus, der nicht dem Filmerlebnis (des Autors in Venedig) entspricht. Allerdings ändert die Rezeption den Blick auf einen Film, das ist klar. Und die Sorge von Angehörigen der Attentatsopfer in Aurora ist nur allzu verständlich: Ein Amokläufer hatte 2012 während der Premiere des Batman-Films "The Dark Knight Returns" zwölf Menschen getötet. In einem offenen Brief an Warner Brothers baten Hinterbliebene nun das Studio darum, sich für Waffenkontrollen in den Kinos einzusetzen. Die Angst vor Nachahmungstätern geht um.

Esther Buss hat im "Tagesspiegel" sicher recht, wenn sie schreibt, die Gewalt in "Joker" wirke "vor allem deswegen so drastisch, da Phillips sie im Modus eines filmischen Realismus austrägt, der mit der Logik des Comic radikal bricht". Auf den weiteren Diskurs dürfen wir gespannt sein, wenn "Joker" ab Donnerstag in den deutschen Kinos läuft. Eine Fortsetzung wird es wohl nicht geben – eigentlich käme ein Sequel sogar der Quadratur des Kreises gleich. Denn wie wollte Phillips einen Batman in diese comicferne Welt einführen? Nein, der wahre "Joker" radikalisiert sich auf dem realen Boden. Darum erschreckt er uns .