Performance in Riga

Künstler isst Menschenfleisch, sagt es allen weiter!

Wer hat behauptet, in der Gegenwartskunst gebe es kein Tabu mehr? Ein lettisches Künstlerpaar verspeist Stückchen ihrer Körper und alle regen sich auf. Dabei ist das eigentliche Vergehen der beiden nicht der Kannibalismus

Wenn alles möglich ist, alles gleichgültig, wenn Individualismus verbindliche Regeln außer Kraft setzt, dann gilt doch weiterhin die Formel: Wir kosten nicht voneinander! "Ich habe nie Menschenfleisch gegessen", lautet der letzte Satz in Christian Krachts fulminanten Roman "1979", der das Jahr beschreibt, in dem Margaret Thatcher ("There's no such thing as society") an die Macht kam und Menschen tatsächlich noch dachten, es gäbe eine Postmoderne ("anything goes"). In dem Buch von Kracht, den an 1979 vor allem die Islamische Revolution gegen den libertären Westen interessiert, ist diese Vergewisserung ein letzter moralischer Anker: Kein Menschenfleisch!

Vergangene Woche haben Künstler bei einer Performance in Riga offenbar Fetzen ihres eigenen Körpers verspeist. Arturs Bērziņš und eine weitere Performerin ließen sich im Kulturzentrum MuseumLV von einer Assistentin Stücke aus den Rücken schneiden, die – scharf angebraten – von den beiden mit ausdrucksloser Miene verzehrt wurden. In Boulevardblättern und sozialen Medien ist die Empörung groß. "Völlig absurd" nennt die "B.Z." die Aktion. "Einfach nur krank oder eine zulässige Provokation?", fragt "heute.at" bang. "Das ist keine Kunst, das ist dämonischer Dreck", urteilt eine Youtube-Userin.

Offenbar ist die Vermutung des Ethnologen Claude Lévi-Strauss, dass wir im Grunde alle Kannibalen sind, schwer zu ertragen. Die Erschütterung durch diese Erkenntnis hatte einst Charlton Heston im Film "Soylent Green" dargestellt. Seine Figur wird irre an dem Geheimnis, woraus das schmack- und nahrhafteste aller Lebensmittelkonzentrate besteht: "Soylent Grün ist Menschenfleisch, sagt es allen weiter!", kann er nur noch stammeln.

Arturs Bērziņš isst Menschenfleisch. Doch will er seine Aktion eher als Metapher auf die sich selbst verschlingende Konsumkultur verstanden wissen. Kannibalismus ist hier nicht die Grenze an den Rändern einer sinnentleerten Welt wie bei Kracht, sondern Widerstand gegen sie.

Aber die Inszenierung der profanen Eucharistiefeier, deren Dokumentation auf Facebook und Youtube zu sehen ist, erinnert an läppisches Schultheater: die Kerzen, die schaurige Musik, die bedeutungsschwangeren Handlungen, das Mad-Scientist-Kostüm der Assistentin, ein Gewittervideo, sinnlose Absperrkordel … Der eigentliche Skandal ist doch, wie schlampig sich dieser Künstler einem wichtigen Motiv der Kunstgeschichte nähert, das von Géricault über die Surrealisten bis zur Gegenwart Künstler fasziniert hat.

Jetzt ermittelt die lettische Polizei – aber leider nicht aus ästhetischen Gründen.