Indem man eine Zeitung an das regenfeuchte Fenster eines türkischen Gefängnisses halte, lasse sich die Tinte aus den Seiten lösen und als Malfarbe benutzen. Das erzählt die kurdische Künstlerin Zehra Doğan. Die Druckerschwärze war einer der Abfälle, eines der verfluchten Materialien, dank derer sie während ihrer fast dreijährigen Inhaftierung in der Türkei weiter malen konnte. Die gekrümmte Frauensilhouette "I, Zehra", die das Berliner Maxim-Gorki-Theater nach Wiedereröffnung der Kulturhäuser mit anderen Gemälden und Zeichnungen aus Doğans Gefangenschaft in der Ausstellung "Prison no. 5" zeigt, klebt zum Beispiel auf einem Hintergrund aus schwarzer Handschrift und vergilbtem Menstruationsblut. Eine ganze Salve spitzer Federn, die Doğan im Hof des Gefängnisses gefunden hatte, sprießt aus dem Rücken der Figur. Die Kiele scheinen durch ihre Haut, die Doğan aus eigenen Haaren gelegt hat.
Diese Technik gilt in der Türkei zwar als unrein, war aber nicht der Grund für Doğans Verhaftung. 2017 teilte sie online ein Wasserfarbenbild, das türkisches Militär in der kurdischen Stadt Nusaybin zeigt, "türkische Flaggen auf zerstörten Gebäuden", was bereits den Tatbestand terroristischer Propaganda erfüllte. Dass sie unter widrigen Haftbedingungen weiterhin künstlerisch arbeiten würde, stand für Doğan außer Frage. Die Legendenbildung übernehmen derweil andere für sie, wie jetzt bei einer Online-Veranstaltung des Gorki-Theaters geschehen. Der Journalist Can Dündar, der für seine kritische Berichterstattung 92 Tage lang in der Türkei interniert war, sieht in Doğans Kreativität einen "Widerstand aus Fleisch und Blut", ein Lebenselixier, das den Gefangenen Schutz biete und ihnen Kommunikation wie auch Solidarität ermögliche. Aus Überzeugung und vielleicht wider besseres Wissen sagt Dündar: "Man kann kreative Geister nicht unterdrücken."
Kunst als Risiko
Zurzeit tauchen viele eindrucksvolle Belege für Dündars Diktum auf; widerständige Kunst hinter Gittern, die ab jetzt nicht mehr aus dem Diskurs ausgeschlossen werden solle, wie das MoMA PS1 in New York schreibt. Dort ist mit "Marking Time" zum ersten Mal eine Gruppenschau mit über 35 Künstlern zu sehen, die im gerade ihre Freiheitsstrafen absitzen oder diese schon hinter sich haben.
Von der Öffentlichkeit abgeschottet habe sich in den Gefängnissen eine eigene Ästhetik herausgebildet – wobei manche, wie der Künstler Halim Flowers, zumindest aus Song-Lyrics noch etwas über Jean-Michel Basquiat lernten. Wie Zehra Doğan verwendeten die amerikanischen Häftlinge ihre Formulare, Zeitungen, Kleidungsstücke und Essensreste, um heimlich an Collagen, Handdrucken oder Dioramen zu arbeiten. Bei diesen Experimenten nahmen sie nicht bloß "konzeptuelle Risiken" in Kauf, wie einer der Künstler über seine Praxis sagt, sondern stahlen sogar Holzplanken, um Leinwände darauf zu spannen, oder schmuggelten Material in ihren Körperöffnungen ein. Spätestens, wenn ihnen die Kunst ein Ventil für ihren Frust verschaffte, sei sie ihrer Rehabilitation wieder dienlich gewesen.
Die politische Verfolgung von Dissidenten und Minderheiten in der Türkei und die überproportionale, profitgetriebene Inhaftierung von Schwarzen Amerikanern sind natürlich nicht das gleiche. Doğan und Dündar begreifen sich als unschuldig, die Künstler aus der MoMA-Ausstellung stehen hingegen zu ihren Taten, von denen viele im Alter von 16 oder 17 Jahren verübt wurden. Sie kritisieren lediglich Strafmaß und Haftbedingungen, weisen auf psychische oder ökonomische Faktoren ihrer Delinquenz hin. Unter Künstlern werden trotzdem beide Justizsysteme, das türkische wie das US-amerikanische, zuweilen mit der Sklaverei verglichen. Hier geht es mit Foucault gegen die Disziplinierungsmaßnahmen einer autoritären Regierung Erdoğan, dort gegen einen blinden Retributismus, der der amerikanischen Gesellschaft nichts nütze. "Auch ohne Gefängnisse ließen sich Menschen zur Verantwortung ziehen", sagt Halim Flowers.
Dürfen alle Gefängniskunst machen?
Übrigens darf sich nicht jeder Verbrecher der Strömung der Gefängniskunst zurechnen. Seitdem die amerikanische Zeitschrift "Poetry" in ihrer Februarausgabe inhaftierten Dichtern eine Plattform gab und so auch das Gedicht eines für den Besitz von Kinderpornografie verurteilten Professors veröffentlichte, musste sich die Redaktion mehrmals erklären und rechtfertigen. Der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen schrieb in der "FAZ", die ganze Mottoaktion zeuge von einer Überhöhung von Lyrik und ihrer Publikation. Die Schriftstellerin Aslı Erdoğan, die 2016 in türkischer Haft war und vom Gorki eingeladen wurde, würde ihm vielleicht beipflichten. Sie erkennt in ihren literarischen Texten jedenfalls nicht dieselbe Bewältigungsleistung, die Can Dündar so überschwänglich lobt. "Ist das, wie man über Folter sprechen sollte?", fragt sie selbstkritisch. "Vielleicht stirbt der beste Teil von uns auch im Gefängnis."
Von diesen Gruppenausstellungen oder Mottoausgaben wollen Zehra Doğan und Aslı Erdoğan in Zukunft lieber Abstand nehmen. Doğan habe ihren Glauben an die Kunst schon fast verloren gehabt, erzählt sie – ironischerweise nicht während der Haft, sondern danach. Es werde nicht mehr ihre Arbeit, nur noch ihr Name möglichst zeitgeistgerecht vermarktet. "Die erwähnen nur die Highlights deiner Biographie und beenden danach einfach das Event", sagt sie, "daran ist nichts Intellektuelles." Schriftstellerin Erdoğan macht sich darüber lustig, in Deutschland wegen ihres Arrests als eine Journalistin bekannt geworden zu sein, ohne je journalistisch gearbeitet zu haben: "Ich hoffe, echte Journalisten nehmen mir das nicht übel."
Das Gorki-Theater hatte die beiden Frauen plus Can Dündar zwar ebenfalls unter dem Label "politisches Exil" versammelt und Erdoğan unter anderem auch als eine Journalistin bezeichnet, trotzdem wurde das Theater von Doğan als ein "transparentes Haus" gelobt, das es ihnen erlaube, diese Definitionen endlich zu überwinden.