Mailänder Kunstmesse Miart

Alles senkrecht

Blick in die Hallen der Kunstmesse Miart in mailand
Foto: Nicola Gnesi

Blick in die Hallen der Kunstmesse Miart in mailand

Die Mailänder Kunstmesse Miart befindet sich auf ihrem bisherigen Höhepunkt. Jetzt entscheidet sich ihre Zukunft bei den internationalen Neuzugängen – dort wird kein Anreiz unversucht gelassen

"Emergent" heißt so viel wie aufstrebend oder auftauchend. Es wird vom Wörterbuch auch mit "jung" gleichgesetzt, dabei ist das gar keine zwingende Voraussetzung zum Aufsteigen. Menschen jeden Alters können noch hoch aufstreben oder sich auf einem aufsteigenden Ast befinden. So denken zumindest die Betreiber der mailändischen Miart, die eine Aufsteigerin unter den Kunstmessen ist. Sie hat soeben zum 27. Mal stattgefunden, ist aber erst neuerdings, nach ein paar fehlgeschlagenen Versuchen, stark angewachsen (auf 170 teilnehmende Galerien) und spürt nun viel Rückenwind. Mailand lasse Turin und Rom als entscheidende Kunstmetropole Italiens hinter sich zurück, sagen die Leute dort begeistert zueinander.

Da die Miart bisher eine recht lokale Messe war (in diesem Jahr sind allein 55 mailändische Galerien dabei), liegt ihr größtes Potenzial im Ausland. Deshalb bemüht sie sich besonders stark um ihre "Emergent"-Sektion mit 25 relativ neuen Teilnehmern, die den weiten Weg aus Los Angeles oder Saõ Paulo auf sich genommen haben. Als Anreiz wurden ihnen schöne Hotelzimmer von der Messe bereitgestellt. "Von unserem Hotel gehen wir nur 15 Minuten zu Fuß, das hat den Aufbau des Stands total erleichtert, dass wir so nahe waren", sagt eine Mitarbeiterin der Galerie Olympia aus New York. Ihr morgendlicher Weg wird zusätzlich verkürzt, da die "Emergent"-Sektion so prominent direkt am Eingang des Messegeländes platziert ist – niemand kommt daran vorbei.

Bei so viel Gastfreundschaft ließ es sich auch die Künstlerin selbst nicht nehmen, nach Italien, in das Land ihrer Inspiration, zu reisen. Die US-Amerikanerin Kathleen Goncharov hatte 40 Jahre lang als Kuratorin gearbeitet und nur ganz heimlich als Künstlerin. Erst letztes Jahr im Herbst hat sie bei Olympia debütiert, nun hängen ihre Bilder (2500 bis 5000 US-Dollar) am Stand in Mailand. Es sind abstrakte Buntstift-Zeichnungen, die mit ihren vielen Schichten wie gemalt aussehen und eine feministische Antwort auf die italienischen Alten Meister sind, die Goncharov schon so lang bewundert. Aus der Deckung zu kommen, das war für Goncharov eine Frage der Lebensphase, nicht des Alters.

Blick in den Stand der Galerie Olympia
Foto: Nicola Gnesi

Blick in den Stand der Galerie Olympia

Der Galerist Gian Marco Casini ist mit seiner gleichnamigen Galerie zum zweiten Mal in Folge in der "Emergent"-Sektion dabei. Ein drittes Jahr würde ihm die Miart laut Regelwerk noch gestatten, und das ist bereits ungewöhnlich großzügig für eine so stark subventionierte Sektion. Casini fühlt sich im beschaulichen Livorno eher abgeschieden und von der Kunstszene vernachlässigt; entsprechend dringend braucht er die Messe zum Netzwerken.

Die von ihm vertretene Fotografin Margherita Moscardini sucht in ihrem seit 2015 laufenden Projekt immer wieder dichte Großstädte auf. Sie findet mit ihrer Kamera die Lücke und das Vakuum, sei es in rechtlicher oder architektonischer Hinsicht. Wenn Moscardinis verschiedene Projekt-Stationen so am Messestand nebeneinander hängen, tun sich plötzlich unvermutete Parallelen zwischen ihnen auf. Als Faustregel lässt sich sagen: Alles, was irgendein Diktator mal gebaut hat, kann eines Tages von der Bevölkerung mit Graffiti besprüht und zurückerobert werden.

Und warum sollte diese Intervention nicht direkt vom Künstler selbst kommen? Dan Vogt hat sich mit der Schere an düsteren Geschichtsbüchern ausgetobt. Das Fluchtfenster, das er sich in die Buchseiten schneidet, als wollte er darin einen Gegenstand über die Grenze schmuggeln, füllt er mit allem möglichen Ramsch: zum Beispiel mit aus dem Flugzeug entwendeten Notfall-Anleitungen, die wegen ihrer dümmlich lächelnden Protagonisten längst zum Meme geworden sind (2100 Euro). Eigentlich liegt der Fokus der Miart ganz klar auf der Malerei, doch seit der Covid-Pandemie gibt es hier viel mehr formale Experimentierfreude zu sehen.

Dazu werden die Galerien auch mit dem Anreiz der geteilten Stände ermutigt. Dan Vogts Arbeiten teilen sich den Platz mit denen der Künstlerin Zoë Field, das hat die Miete von 4000 Euro für beide Wiener Galerien (Shore Galerie und City Galerie) zumindest schon mal auf die Hälfte gesenkt. Die beiden Wiener Galeristen Antonia Lia Orsi und Paul Makowsky sind gut befreundet und haben für die Miart eine "Zusammenarbeit auf allen Ebenen" gestartet. Sie hat sie mitgebracht, und er zeigt ihn; bei Field geht alle künstlerische Arbeit von der eigenen Erfahrung aus, bei Vogt von seinen Rollenspielen und Verstellungen. Bei beiden geht es oft um Hunde.

Unter Kunstjournalisten gehört es zum festen Sprüche-Repertoire, zu sagen, dass sowieso alle Kunstmessen gleich seien, und dann ein wenig ausgestellt an dieser Gleichförmigkeit zu leiden. Doch bei dem Galeristen Paul Makowsky klingt das anders: "Das erste Mal auf einer neuen Messe ist immer ein großes Risiko. Man weiß vorab nie, wie das genaue Gefühl vor Ort sein wird, und auch die Geschmäcker sind überall anders", sagt er.

Gut, mag sein, im hinteren etablierten Teil der Messe schlägt die Aufregung vielleicht weniger Funken als vorne, bei den Neuen. Hier hinten wird es ein bisschen generischer. An gleich zwei Ständen liegen die schönen pinken Gussglaswürfel von Ann Veronica Janssens auf dem Boden herum (50 000 Euro), die so viel Licht reflektieren und deshalb (als Teil der künstlerischen Idee) stark von ihrer Umgebung und Präsentation abhängig wären. Bei der Berliner Galerie Esther Schipper, die ebenfalls zum ersten Mal dabei ist, fühlt sich jedoch von vier offiziellen Personen mit Ausweisen an Halsbändern niemand zu einem Gespräch über Ann Veronica Janssens’ Werk berufen.

Am Stand der Galerie Esther Schipper
Foto: Nicola Gnesi

Am Stand der Galerie Esther Schipper

Die New Yorker Galerie Clearing fördert die Verschmelzung von Kunst und Design. Die Miart findet ganz gezielt nur eine Woche vor der berühmten Mailänder Möbelmesse statt. Aber das heißt leider nicht, dass die Design-Fans schon eine Woche früher nach Mailand anreisen würden, erklärt die Galeristin von Clearing, die sich in beiden Welten zu Hause fühlt. Mitgebracht hat sie die Lampen aus mundgeblasenem Glas vom Künstler Koenraad Dedobbeleer (15 bis 20 000 US-Dollar), die man sich gerne als Kunst andrehen lässt, solange sie alle so hochtrabend betitelt sind wie die Lampe namens "A Truly Just Society Would Demand a World of Reciprocal Recognition" (eine wahrhaft gerechte Gesellschaft verlangt eine Welt gegenseitiger Anerkennung).

Stand der Galerie Clearing
Foto: Nicola Gnesi

Stand der Galerie Clearing

Eine eigene Design-Sektion gibt es auf der Miart mit Absicht nicht mehr. Direktor Nicola Ricciardi, der seit 2021 im Amt ist und wegen der Pandemie einen denkbar schlechten Start hatte, ist gegen Sektionen. Er hat als einzige Ausnahmen nur "Emergent" und "Decades" (eine Art Zeitreise durch das 20. Jahrhundert) übrig gelassen. "Folgen Sie einfach Ihrem Herzen", sagt Ricciardi als neue Orientierungshilfe.

Noch in letzter Minute haben sich Gruppen von Kunstsammlern aus Japan und dem Vereinigten Königreich zum Messebesuch angemeldet. Eine berühmte Turiner Sammlerin trug während ihres Besuchs einen neonpinken Mantel, sie war von überall aus zu finden und sah ein bisschen wie Queen Elizabeth II. auf einem Staatsbesuch aus. Vor der Covid-Pandemie hatte die Miart nicht diesen Buzz und dieses Momentum – deshalb wurde der heurigen Ausgabe der Titel "Crescendo" gegeben, der ihr allmähliches Anwachsen und Anschwellen heraufbeschwören soll.

Alles in Mailand strebt zurzeit nach oben. Da wäre auf dem Messegelände die drei Meter hohe Torten-Skulptur von Maurizio Cattelan, die ein Geschenk zum 20. Geburtstag der Fondazione Nicola Trussardi ist. An der frischen Luft gibt es die vielen Wolkenkratzer im Mailänder Stadtbild. Im Süden steht der Turm der Fondazione Prada, für den in scheinbar endloser Folge Ausstellungsräume aufeinander geschichtet wurden. Und im Norden der Stadt, im HangarBicocca, hatte Anselm Kiefer in all seiner Hellsichtigkeit bereits 2004 zur Eröffnung seine "sieben himmlischen Paläste" mit 14 bis 18 Metern Höhe als permanente Installation errichten lassen. Diese bewegenden, düsteren Türme setzen sich zusammen aus allen Versuchen der Menschheit, in göttliche Sphären aufzusteigen.