Emily Segal und Martti Kalliala im Interview

"Die Zukunft ist eine Lüge"

Foto: Natascha Goldenberg
Foto: Natascha Goldenberg
Halten nichts von Nostalgie: Martti Kalliala und Emily Segal

Emily Segals Kunstprojekt K-HOLE wurde zur Trendforschungsagentur, der von ihr geprägte Begriff Normcore durch ein Missverständnis zum Modetrend. Nun ist sie mit ihrem Partner Martti Kalliala der Gegenwart auf der Spur

Emily Segal, mit Ihrer Agentur K-HOLE haben Sie Normcore erfunden. Das war der bewusste Verzicht auf alle Distinktionszeichen aus den Subkulturen der letzten Jahrzehnte. Die zur Schau gestellte Normalität ist Ausdruck eines Unbehagens von Millenials, wurde dann aber als Modetrend missverstanden. Irgendwann tauchte Nemesis auf, mit Martti Kalliala als Partner. War das ein geheimes Unternehmen?
Martti Kalliala: Nicht geheim, aber es gab noch nicht so viel öffentlich zu erzählen. 

Emily Segal: K-HOLE war damals eher ein Kunstprojekt. Wir waren von 2011 bis 2016 tätig, Nemesis nimmt jetzt die Forschung zu Mode, Subkulturen und Konsum wieder auf und weitet das auf Technologie und Städteplanung aus. Das ist auch eher Marttis Bereich.

Herr Kalliala, Sie sind eigentlich ausgebildeter Architekt, oder?
MK: Ja. Ich habe für Rem Koolhaas gearbeitet. Seither bin ich von der Architektur abgekommen und beim strategischen und spekulativen Design gelandet.

ES: Die Idee war, jetzt ein Hybrid zu schaffen: eine Beratungsagentur und ein Think-Tank, ein Ventil für unsere fortlaufende kreative Kollaboration. 

Wie sieht das genau aus?
ES: Ein Pitch oder eine Analyse können ein eigenes Werk sein. Das ist auch heute ein interessantes Publikationsmodell, denn es entsteht ein sehr limitiertes und kontrolliertes Publikum. Gerade, in einer Zeit, in der alles maximal publik gemacht wird. 

Sie meinen, das hat mit dem Internet zu tun?
ES: Jedes Stückchen Content, egal ob man Jahre daran gearbeitet hat, oder ob es einem vor fünf Sekunden eingefallen ist, wird wie mit der Gießkanne verbreitet. Alles ist direkt veröffentlich. Mit Nemesis wollen wir keine große Aufmerksamkeit als Künstler. Wir wollen die Dinge einfach machen. Als Think-Tank können wir Dinge entwickeln, ohne sofort auf Sendung gehen zu müssen.

Sie verkaufen dann auch, was Sie machen?
MK: Naja, wir haben im ersten Jahr ziemlich viel für Kunden gearbeitet. Das können wir in der Form nicht teilen. Gerade arbeiten wir an einer Publikation über unsere Forschung und unsere Beratung. 

Ist das dann Literatur?
ES: Eher ein narrativer Essay. Irgendwo zwischen Designtheorie und Beschreibung. Es geht um konkrete und imaginierte Architektur. 

Eine Parodie?
ES: Nein, wir sind gegen so etwas. Wir tun ja nicht so, als wären wir eine Agentur oder Theoretiker. Wir machen das wirklich. Die Praxis ist entscheidend. 

Bei K-HOLE war sich niemand so sicher, ob das eine Firma ist oder eine Künstlergruppe. Wussten Sie es selbst?
ES: Das war anfänglich wie ein Zine. Ich war 21 oder 22 und habe die Publikation mit meinen Freunden gestartet. Mir war schon klar, dass es keine Firma war. 

Nervt es nicht, immer wieder als Normcore-Expertin herangezogen zu werden?
ES: Normcore ist jetzt fast fünf Jahre alt. So lange die Diskussion noch aktuelle Fragen einbezieht, nervt es nicht. Klar, wenn ich immer wieder die Grundidee erklären muss, wird das zur Mythologie.

Zurück zu Nemesis: Wenn Sie mit einem Kunden arbeiten, wie läuft das?
MK: Das hängt natürlich vom jeweiligen Kunden ab. Vor allem haben wir Berichte über kulturelle Strömungen verfasst, oder über Marken und Organisation und ihre  jeweilige Position. 

Dann betreiben Sie wahrscheinlich viel Feldforschung?
MK (zeigt auf sein MacBook): Ich würde dazu nicht Feldforschung sagen. 

ES: Wir leben in Berlin, man kann also nur begrenzt viel im Feld herausfinden. Wenn man die Stadt beobachtet, kriegt man viel heraus. Bloß eigentlich ist das ein kleiner Ort. Aber wir reisen viel.

Welche Kunden wollen Sie damit eigentlich ansprechen?
ES: Martti möchte gerne im Energiesektor arbeiten. 

MK: Die Luxus- und Modeindustrie ist uns vertraut. Aber es gibt eine paar andere Dinge, die uns interessieren.

ES: Drogen zum Beispiel. 

Sie meinen die Pharmaindustrie?
MK: Lassen wir diese Unterscheidungen, ok? Es gibt noch weitere Bereiche, Architektur und Städteplanung beispielsweise, die wir noch nicht abgedeckt haben. 

Gerade hat der Begriff Zukunft ja einen schweren Stand. Viele sehnen sich nach der Vergangenheit: Die Frankfurter Altstadt wurde neu gebaut, das Berliner Stadtschloss und ist immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Bei Ihnen liegt auch der Manufactum-Katalog auf dem Tisch. Und natürlich ist "Make America Great Again" Ausdruck der Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die es nie gegeben hat. Arbeiten Sie nicht gerade gegen so etwas?
MK: Ich bin gegen Nostalgie, trotz Manufactum-Katalog.

ES: Er mag nicht einmal Musik, die älter als zwei Jahre ist. 

MK: Die Sehnsucht nach einer einfachen, leicht lesbaren Zeit treibt ja auch populistische Bewegungen an. Das drückt sich zum Beispiel in Architektur aus. 

ES: Als wir jünger waren, haben wir beide die Faszination für Indiemusik und Nostalgie bei unseren Altersgenossen beobachtet. Dieser Rückblick in die Vergangenheit fetischisiert einen vermeintlich authentischen Moment: Live-Musik in einem echten Raum. Wenn man sich kulturell darauf beruft, wird das ziemlich öde. Und das kann unheimlich und potenziell faschistisch sein. Wir wissen schon, was diese Arten von Popkultur bedeuten, und wie sie mit den großen politischen Bewegungen zusammenhängen. 

Ästhetisch war K-HOLE damals ganz weit vorne. Und mit Nemesis sind Sie auch an einer bestimmten Vorstellung von Zukunft interessiert, oder?
ES: Die Zukunft ist eine Lüge. Und die Fixierung darauf ist eine abgedroschener Werbetrick. Wenn wir von Trends sprechen, dann meinen wir entstehende Trends. Man vergisst oft die Gegenwart.

MK: Bei meinem Musikprojekt, Amnesia Scanner, stelle ich mir auch oft diese Frage. Das kommt auch futuristisch rüber, und die Ästhetik ist schwer zugänglich. Aber ich habe das immer eher als einen brutal unmittelbaren Ausdruck der Gegenwart gesehen.

Was ist eigentlich mit dem Namen Ihrer Agentur? Nemesis ist die griechische Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit. Warum haben Sie die als Namenspatronin gewählt?
MK: Mein Lieblingsaspekt von Nemesis ist eigentlich, dass sie Hybris entlarvt. Das ist wie ein Sinnbild unserer Beratungstätigkeit.