Medienschau

"Erlösung von den üblichen Erregungsspiralen"

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Noch mehr Einlassungen zum Boykottaufruf gegen den israelischen Pavillon, Hoffnung auf Neustart bei der Berlinale und Freude an Hip-Hop-Kunst: Das ist unsere Presseschau am Donnerstag


Antisemitismus-Debatte

Ein bisschen zu spät, dafür umso grobschlächtiger mischt jetzt auch die "NZZ" in der Debatte um einen offenen Brief mit, der einen Ausschluss des Israel-Pavillons von der Venedig-Biennale fordert. "Am 20. April wird die 60. Kunstbiennale eröffnet. Bereits jetzt aber ist sie zur Plattform antisemitischer Aktivisten geworden", behauptet Philipp Meier (und verkennt, dass die Biennale durch eine Online-Petition von Aktivisten ja nicht zur "Plattform" wird, sondern eher zur "Zielscheibe"). "Vor zwei Jahren hat sich die Biennale-Leitung nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine klar gegen Russlands militärische Aggression ausgesprochen und die Zusammenarbeit mit offiziellen russischen Kulturvertretern aufgekündigt. Will sie sich jetzt nicht ins Abseits manövrieren lassen und wie die letzte Documenta in Kassel zu einer Kunstschau des Antisemitismus werden, muss sie klar Position gegen jegliche Form von judenfeindlichem Aktivismus beziehen. Bis jetzt ist jedoch noch keine Stellungnahme erfolgt", schreibt Meier. Und liegt erneut daneben: Die Entscheidung, den russischen Pavillon auf der 59. Internationalen Kunstausstellung 2022 zu schließen, wurde nicht von der Biennale getroffen, sondern von der Kommissarin, der Kuratorin und den Künstlern des russischen Pavillons. Das hat die Biennale bereits damals mitgeteilt. In einer gestern veröffentlichten Pressemitteilung hat die Biennale von Venedig zudem Boykott-Ansinnen gegen einzelne Länderpavillons zurückgewiesen und klargestellt, dass prinzipiell alle von der italienischen Republik anerkannten Länder eigenständig eine Teilnahme an der Kunstbiennale beantragen können. Mehr dazu lesen Sie hier


Beim Thema Antisemitismus im Kulturbetrieb (bei dem in der Presse inzwischen offenbar alles mit allem vermengt wird) zeigt sich die Filmkritikerin Katja Nicodemus in der "Zeit" bedachter und differenziert. Sie formuliert im Rückblick auf die Berlinale und den Eklat um Aussagen auf der Abschlussgala sechs Fragen an das Filmfestival, und eine an die Kulturbranche allgemein. Dabei blickt sie auch auf die Preisverleihung, bei der mehrere der Geehrten Israel wegen des Nahostkriegs teils scharf verurteilten und nun wegen Antisemitismus in der Kritik stehen. "Vielleicht hätte eine bedachte, besser gebriefte Moderation die Äußerungen auffangen können. Oder das Leitungsduo Chatrian und Rissenbeek hätte sich das letzte Wort vorbehalten müssen. Doch wenn die Berlinale ein Ort des freien Kultur- und Meinungsaustauschs bleiben soll, dann wird bei etwa hundert möglichen Preisträgern und Preisträgerinnen immer mit kontroversen oder auch fragwürdigen Äußerungen zu rechnen sein", schreibt Nicodemus. Von der nächsten Berlinale, dann unter der Leitung von Tricia Tuttle, erhofft sie sich einen Neustart. "Und vielleicht kann uns die offenbar humorvolle neue Leiterin auch ein bisschen erlösen von den üblichen Erregungsspiralen, von der Provinzialität, von unseren rituellen Mäkeleien. Die Berlinale braucht keine Vorschriften, keine politischen Drohungen, sie braucht in aller Freiheit einen Reset."


Ausstellung

Stefan Trinks hat sich für die "FAZ" zwei Brüsseler Jubiläumsausstellungen zum 100. Geburtstag des Surrealismus angeschaut und stellt gleich zu Beginn klar, wieso nur Belgien Ursprungsort der wahren Traum-Kunst sein kann. "Zwar hat vor hundert Jahren André Breton in Paris mit seinem Manifest des Surrealismus diese Bewegung gleichzeitig mit Paul Nougé und den Künstlern um ihn in Belgien offiziell begründet, doch war die französische surrealistische Bewegung immer ornamental-ästhetischer, harmloser und vor allem weit weniger politisch. Der belgische Surrealismus strahlte nicht nur stärker, länger (René Magritte stirbt erst 1967) und heterogener in die Welt; er besitzt auch mit dem in vielfacher Hinsicht alle Konventionen über den Haufen rennenden Symbolisten des Landes deutlich mehr und ältere Vorläufer als die französische Spielart." Die beiden Schauen in den Königlichen Museen der Schönen Künste sowie im Bozar umfassen rund 420 Spitzenwerke – allein rund 100 von Magritte, außerdem zahlreiche unbedingt zu entdeckende Werke weniger bekannter Namen, die Trinks auszugsweise und leidenschaftlich vorstellt. Sein Resümee: "Wenn Belgier feiern, dann richtig."


Eine Hip-Hop-Ausstellung, die noch dazu "The Culture" heißt, als Gegenpart zur sogenannten Mehrheitskultur, in einem deutschen Museum? Ein solches Unterfangen sei "gewagt", meint Elena Witzeck ebenfalls in der "FAZ" – ist dann aber von der Schau in der Frankfurter Schirn durchaus angetan. "Zu sehen sind Farben und Körper in Bewegung, ist Hochmut und Selbstbehauptung, zu sehen ist 'Setta’s Room 1996' von Tschabalala Self, ein Werk, das die frühesten Einflüsse im Haus ihrer Familie in Harlem zeigt. Unübersehbar das erste Idol der Schwester: Lil’ Kim, die feinsinnig die Bedeutung der Rolle des schwarzen weiblichen Körpers in der Musikindustrie schärfte. Zu sehen sind die Erkennungszeichen und Codes, gespreizte Finger, sind Elemente der Gangkultur und die erlernten Posen der Frau in der Abstraktion von Nina Chanel Abneys Collage für ein Albumcover des Rappers Meek Mill – Kritik, wenn auch subtil, an sexistischen Stereotypen."

Auch Lisa Berins ist erfreut sich in der "Frankfurter Rundschau" über die Jubiläumsschau zum 50. Geburtstag des Hip Hop.  "The Culture" versammele eine "überraschende Auswahl an Gemälden, Plastiken, Filmen, Fotografien und Mode", dazu eine Reihe ikonischer Stücke wie den "Buffalo Hat" von Vivienne Westwood. "Und was ist mit der Kritik an dem aggressiven, zur Schau getragenen Mackertum, an Machismus, Homophobie und Antisemitismus in der Szene? An Sexismus, Misogynie und Gewaltverherrlichung in vielen Hip-Hop-Videos und -Texten?", fragt die Rezensentin rhetorisch. Und gibt Antwort: "Zum Glück erspart die Ausstellung den Besucherinnen und Besuchern Beispiele dafür (ist ja auch eine Geburtstagsausstellung!), stattdessen gibt sie künstlerischen Reflexionen darüber Raum: Die New Yorker Künstlerin Nina Chanel Abney gestaltete 2021 das Cover für das Album 'Expensive Pain' von Meek Mill. In ihrer illustrierten Collage schwirren Cash, Cars und Schwarze, nackte Girls um einen Rapper – das Cover löste eine öffentliche Diskussion darüber aus, ob es sich um Parodie und Kritik an sexistischen Stereotypen und binärgeschlechtlichen Klischees handelt."


Fotografie

"Er hat Fotos inszeniert, lange bevor alle das taten. Und er ist doch der große Realist unter den Fotografen der Gegenwart: Jeff Wall." So beginnt Kia Vahlands Besprechung von dessen großer Retrospekitve in der Fondation Beyeler. Der 1946 geborene Kanadier fache "die Neugierde an, kitzelt bei den Betrachtern Anteilnahme hervor, ohne seine Figuren einem distanzlosen Voyeurismus auszuliefern" – gleichzeitig sei der Künstler "viel zu sehr Ästhet und Perfektionist, um ausschließlich aus einem sozialpolitischen Impuls heraus zu handeln", so Vahland in der "Süddeutschen Zeitung". "Manchmal bringt erst eine Inszenierung ein Geschehen auf den Punkt. Das ist die hohe Kunst Jeff Walls. Nun muss sie sich in einer Zeit bewähren, in der in den sozialen Medien Deepfakes für Verwirrung sorgen und Bildmanipulationen dem Verkennen statt Erkennen dienen."


Der besondere Tag

Der Schweizer Bestseller-Autor Martin Suter feiert in diesem Jahr seinen ersten Schaltgeburtstag seit dem Tod seiner Frau. "Wir feiern meinen Geburtstag und den Glücksfall, dass meine Frau geboren ist. Wir feiern das Leben ein bisschen heute", sagte der 76-Jährige in einem Interview des Radiosenders Bayern 2. Seine Frau, die Modedesignerin Margrith Nay Suter, war 2023 im Alter von 72 Jahren gestorben. Sie hätte am 1. März Geburtstag gehabt. Suter kann seinen Geburtstag nur alle vier Jahre feiern, denn: Er ist am 29. Februar, also einem Schalttag geboren. "Ich habe nie darunter gelitten, im Gegenteil, man fühlt sich schon als etwas Besonderes", sagte Suter. Trotzdem messe er dem Tag nicht zu viel Bedeutung bei. "Da müssten mir alle anderen Ideen ausgehen, bis ich das zum Thema machen würde." Er wolle sich generell möglichst nicht selbst in Büchern thematisieren.