Macht langweilige Architektur die Menschen gewalttätig? Und wie klang der Wut-Künstler David Wojnarowicz, wenn er verliebt war? Dies ist unsere Presseschau am Mittwoch
Debatte
Auf einem "Feldzug gegen langweilige Architektur" befindet sich der britische Designer Thomas Heatherwick, der gerade sein Buch "Humanise" veröffentlicht hat. Darin ruft er Menschen auf, gegen die "Blandemic" aus nichtssagenden Gebäuden auf die Barrikaden zu gehen, die überall auf der Welt die Städte dominiere und die Bevölkerung nach seiner Auffassung krank, aggressiv und gewalttätig macht. Amelia Gentleman hat ihn für den "Guardian" begleitet und gibt seinen offenbar sehr agitierten Redefluss über die "gefährliche Konformität" des öffentlichen Raums und den "God of Boring" Le Corbusier pointiert und unterhaltsam wieder. "So wie wir die Gefahren von Fast Food und Fast Fashion erkannt haben, möchte Heatherwick, dass wir uns der Risiken einer ungesunden Architektur bewusst werden."
Ausstellung
In der "Taz" würdigt Ingo Arendt die Ausstellung der türkischen Avantgarde-Künstlerin Füsun Onur im Museum Ludwig in Köln. Er entdeckt in den vielschichtigen Installationen auch eine überfällige Würdigung der lange vernachlässigten "Großmütter" der zeitgenössischen türkischen Kunstszene. "Mit der Kölner Wiederentdeckung dieser außerordentlichen, jedem Trend widerstehenden, heute 85-jährigen Künstlerin setzt sich der 'Prozess der Rekonstruktion' (Süreyyya Evren) der Anfänge der Gegenwartskunst in der Türkei fort. Was er bedeuten kann, ist offen. So wie sich die Künstler:innen in der Zange zwischen der immer massiveren politischen Repression in Recep Tayyip Erdoğans Autokratie und der immer rascheren Abwanderung winden."
Bücher
Den Künstler David Wojnarowicz kennt die Öffentlichkeit vor allem wütend. Fassungslos über die Gleichgültigkeit der USA gegenüber den Betroffenen von Aids, in Rage über die Diskriminierung und Stigmatisierung der Homosexuellen und die Doppelmoral der Kirche. In seiner Kunst stand die Welt meist in Flammen. Eine sanftere Seite des New Yorkers, der 1992 an den Folgen einer HIV-Infektion starb, zeichnet das Buch "Dear Jean Pierre", in dem Wojnarowiczs Briefe an seinen französischen Liebhaber Jean Pierre Delage in Paris gesammelt sind. Im "New Yorker" beschreibt David O'Neill die Dokumente als kleine Ausblicke darauf, was der Künstler hätte sein können, hätten ihn die Umstände der "Culture Wars" nicht zum Aktivisten mit brachialer Ästhetik gemacht. "Natürlich liegt in Wojnarowiczs politischer Kunst auch Schönheit, eine Qualität, die sich noch vertieft, wenn man den Künstler in 'Dear Jean Pierre' verliebt sieht. Das Buch ist ein weiteres Denkmal für das unermessliche verlorene Potenzial der AIDS-Epidemie. Aber es ist auch eine freudige Rückbesinnung auf eine Epoche der Entdeckungen in Wojnarowiczs Kunst - und im Leben seiner Protagonisten, die, wie man sieht, von ihrer gemeinsamen Zeit tief berührt waren."
Podcast
Wenn etwas reflexhaft als "Tabu" bezeichnet wird, lohnt es sich oft, noch einmal genauer hinzuschauen. Denn meistens wird sehr wohl über das betreffende Thema gesprochen, es fragt sich nur wie, wo und von wem. Das trifft auch auf die Menstruation zu, die immerhin ungefähr die Hälfte der Menschheit seit Anbeginn ihrer Existenz begleitet. Einen differenzierten Blick auf das natürliche, aber dann doch nicht selbstverständliche Phänomen wirft die Ausstellung "Läuft" im Museum Europäischer Kulturen in Berlin. Bei "Deutschlandfunk Kultur" spricht Kuratorin Jana Wittenzellner einprägsam und unaufgeregt über die verschiedenen gesellschaftlichen Ansprüche an Menstruierende und die Rolle, die Hygieneprodukte dabei spielen. Auch die Künstlerin Judy Chicago wird erwähnt, die mit ihrem Foto "Red Flag" als eine der ersten explizit ein Tampon zeigt, das aus einer Vagina gezogen wird. Etwas, das so undenkbar war, dass viele Betrachter gar nicht erkannten, was das Bild eigentlich darstellen sollte.
Das besondere Kunstwerk
Eine fliegende Vulva, die die Berliner Siegessäule auffrisst - also die Freudsche Verspeisung eines astreinen architektonischen Phallussymbols. Zu sehen ist diese spektakuläre Kunst-Performance von Ann Duk Hee Jordan allerdings nur auf dem Smartphone oder Tablet. Es ist Teil einer "Augmented Reality"-Ausstellung im Berliner Tiergarten, bei der Künstlerinnen und Künstler virtuelle Objekte und Situationen in die reale Umgebung einsetzen. Dorothea Zwirner folgert in der "Welt", dass viele AR-Werke von schwankender Qualität sind, aber in Zukunft eine immer größere Rolle spielen werden. "Trotzdem sind Vorbehalte wie bei allen neuen Technologien weitverbreitet. Dabei bewegen wir uns längst in einer hybriden Welt, in der es immer schwerer wird zwischen analoger und digitaler, realer und virtueller Wirklichkeit zu unterscheiden. Vielleicht kann die erweiterte Realität in der Kunst dabei helfen, die Trennschärfe zu erhöhen."