Michael Müller in Frankfurt am Main

Brüder im bunten Gewand

Kann ein abstraktes Kunstwerk eine Geschichte erzählen? Diese Frage stellt der britisch-deutsche Künstler Michael Müller im Frankfurter Städel mit großem Aufwand

Er hat seine 24 Leinwände so passgenau auf das Foyer zum Untergeschoss des Städelmuseums zugeschnitten, dass ein nahezu bruchloses 360-Grad-Panorama entstanden ist. Sechs Meter hoch und insgesamt 65 Meter lang ist das abstrakte Rundum-Gemälde. Jede Leinwand soll eine Stunde des Tages repräsentieren und wurde auch nur zur jeweils passenden Uhrzeit bearbeitet. Man kann es sehen: Es gibt einen erkennbaren Verlauf von Dunkel zu Hell und zurück, darauf viele farbige Überlagerungen, Rosa-, Grün- und Grautöne, Wirbel und Wolken, nicht trennscharf, die malerischen Gesten greifen von einer Leinwand auf die andere über. Was erzählt dieses monumentale Werk?

Einerseits gibt es den konzeptionellen Ansatz, das Takten. Man kennt es von On Kawaras "Date Paintings", von Tehching Hsieh und seinen radikalen Aktionen, der ein ganzes Jahr lang jede Stunde an einer Stechuhr abstempelte. Der Titel "Der geschenkte Tag" lässt auch an das Zeitgewinnungs-Prinzip von Fiete Stolte denken, der durch einen systematisch verkürzten Schlaf-Wach-Rhythmus einen ganzen Wochentag für sich herausschlug.

"Der geschenkte Tag" von Michael Müller streift das Systematische nur. Die Wirkung der Leinwände speist sich nicht aus dem Rechnen, sondern aus überwältigender Malerei. Ihr immersiver Strudel erinnert an den Taumel, zu dem Deckengemälde in Residenzen anstoßen können.

Abstrahierte Mythologie

Den erzählerischen Überbau nimmt Müller aus der griechischen Mythologie: Es geht um die Zwillinge Kastor und Polydeukes, der eine unsterblich, der andere nicht. Kastor wurde getötet, der untröstliche Bruder bittet Zeus, ihn auch sterben zu lassen, damit sie im Hades wieder vereint seien. Zeus ist gerührt von der Bruderliebe und gestattet beiden, gemeinsam immer abwechselnd einen Tag im Hades und einen im Olymp zu verbringen.

Die Geschichte ist natürlich gut. Wie Zeus dafür sorgt, dass die Rechnung am Ende wieder stimmt – einer tot, einer lebendig – indem er die Vorzeichen austauscht, ist ganz im Sinne der Konzeptkunst von Kawara, von Hsieh und Stolte.

Müller konzentriert sich aber auf das Motiv der Brüder. Mit einer gewaltigen Bronzeskulptur im Spiegel, zwei Bleistiftzeichnungen (rechter Arm, linker Arm) und Werken aus der Grafischen Sammlung des Städel stellt er seinem Wandgemälde einen gewichtigen Prolog voran. Zwei Kupferstiche von Hendrick Goltzius aus dem Jahr 1588 zeigen wiederum Figuren der griechischen Mythologie: Ikarus und Phaeton sind zwei von "Vier Stürzenden" aus der Städelsammlung, anatomisch und perspektivisch faszinierende Darstellungen junger Männer, sterblich und unsterblich, nach Gemälden von Cornelis van Haarlem. Der eine perspektivisch verkürzt von oben, der andere mit den Fußzehen voraus. Sie könnten in diesem Moment fallen oder schweben, oder einen Salto rückwärts machen. Müllers Ausstellung "Der geschenkte Tag" erzählt vor allen Dingen von Kunst selbst.