Künstler Cory Arcangel

"An einen richtig guten Majerus komme ich nicht heran"

Die Kunst von Michel Majerus hat Cory Arcangel zuerst genervt und dann fasziniert. Nun hat er die Daten aus dem Laptop des verstorbenen Malers wieder ans Licht geholt. Ein Gespräch über Technik-Nostalgie und KI, die mit Kim Kardashian spielt

Cory Arcangels Arbeit ist eine Art Brücke zwischen der Medienkunst der 90er, den Experimenten der Net-Art und der Post-Internet-Kunst der 2010er. Der New Yorker Künstler, der mittlerweile in Stavanger, Norwegen, lebt, sagt aber, er möchte nichts lieber als zeitgenössischer Künstler sein. In Michel Majerus fand er eine unwahrscheinliche Gegenfigur und eine Inspirationsquelle. Der luxemburgische Maler, der 2002 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, hinterließ nicht nur ein umfangreiches Oeuvre von Gemälden und Installation, sondern auch einen Laptop, auf dem er Werke plante und Moodboards erstellte. 

Arcangel hat mit Hilfe der New Yorker Organisation Rhizome die Daten des alten Mac Powerbook gerettet, und kommentiert die Fundstücke in einer Art "Let’s-Play"-Format auf YouTube. Im Berliner Majerus-Estate, wo Arcangels Arbeit in Beziehung zu Majerus gesetzt wird, spricht er bei Erdbeeren und Keksen über seinen Weg zu Majerus’ Werk und erzählt von der unendlichen Einsamkeit digitaler Welten


Cory Arcangel, was war Ihre erste Begegnung mit Michel Majerus?

Meine erste Begegnung habe ich vergessen, und erst die zweite hat mein Interesse geweckt. 2002 habe ich Majerus’ Ausstellung "Leuchtland" in der Friedrich Petzel Gallery in New York gesehen. Ich war 24 und habe mich für zeitgenössische Kunst interessiert, nachdem ich 2000 nach New York City gezogen bin. Als ausgebildeter Komponist wusste ich nicht viel darüber. Ich habe in SoHo gearbeitet, und in den Mittagspausen und nach Feierabend bin ich durch die Galerien gegangen. Die Ausstellung von Majerus hat mich sehr genervt – vor allem seine Space-Invader-Gemälde. Ich habe mich einfach umgedreht und bin gegangen. 

Eine extreme Reaktion.

Ich mochte das aus vielen Gründen nicht. Ich war ehrgeizig. Ich wollte auch in solchen Gelieren ausstellen. Und dann ist da dieser Maler, der etwas mit Videospielen macht! Warum sind da nur Maler und keine Medienkunst? Ich kannte mich noch nicht mit Malerei aus. Schließlich habe ich diese Begegnung völlig vergessen. Dann, 2014, tauchte eines von Majerus’ Gemälden in meinem Instagram-Feed auf. Das war so gut! Ich geriet in Panik, weil es keine Angaben zu dem Bild gab. Das war eines dieser wunderschönen Gemälde, die gestische Abstraktion, Typografie und Graffiti kombinieren. Schließlich erfuhr ich, dass es von Michel Majerus stammte, der zwölf Jahre zuvor verstorben war. Als ich durch sein Archiv ging, habe ich das Space-Invader-Gemälde wiedergesehen – und mich sofort erinnert.

Lustig, denn auch Sie haben eine Arbeit mit dem Titel "Space Invader" – ein modifiziertes Videospiel.

Die habe ich 2004 gemacht, zwei Jahre nachdem ich Majerus gesehen hatte. Bestimmt habe ich unbewusst daran gedacht. 

Fühlen Sie sich mit seiner Arbeit verbunden?

Was meinen Sie mit verbunden?

Er ist eindeutig Maler, aber...

Ich würde ihn nicht als Maler im eigentlichen Sinne bezeichnen. Seine Gemälde sind keine Gemälde, seine Gemälde sind Objekte, die als Gemälde performen. 

Sie meinen, die tun so, als wären sie Gemälde?

Sie sind selbstreflexiv, und sie sind Objekte, die die gesamte Geschichte der Malerei und ihren Weg durch die Welt spiegeln. Das ist eine Inszenierung von Kunstgeschichte, Macht, Geld und dem Namen Majerus. Er steht irgendwo zwischen Maler, Installationskünstler und Institutionskritiker. 

In den 2010ern, nach Post-Internet, hat Majerus’ Werk einen Nerv getroffen. Es erinnert an Pop, er interessiert sich für Oberflächen, aber irgendetwas anderes steckt noch darin. 

Es ist unheimlich! Als ich dieses Bild 2014 auf Instagram sah, dachte ich, das wäre ein junger Künstler aus Berlin. Ich dachte, diese Kids werden zu gut für mich. Und wirklich malen konnte er auch.

Wie kam es dann zu der Zusammenarbeit mit  der gemeinnützigen Organisation Rhizome, die sich der Konservierung und dem Ausstellen von Medienkunst widmet, und dem Majerus Estate?

Ich erfuhr, dass er einen Laptop hatte. Ich fragte, was darauf ist, und ob wir ihn wieder zum Laufen bringen könnten. Das habe ich schon ein paar Mal gemacht – mein letztes Projekt dieser Art waren Andy Warhols Amiga-Experimente. Dann braucht ich jemanden, der weiß, wie man so etwas macht. Mein nächster Anruf galt Rhizome und Dragan Espenscheid. Dragan bietet schon lange solche Emulationsdienste an, und das Projekt konnte 2017 losgehen. 

Diese alten Systeme sind erstaunlich fragil, und es ist schwierig, sie wieder zum Laufen zu kriegen, oder?

Sie sind anfällig, erschreckend anfällig. Wir hatten viele technische Bedenken. Aber als wir die Festplatte gespiegelt hatten, wurde klar, dass unsere Chancen ziemlich gut standen. Eigentlich ging es allerdings nicht so sehr um ein Ergebnis, sondern um den Prozess. 

Den Laptop hat in 15 Jahren niemand geöffnet?

Zuletzt wurde er 2002 benutzt. Kurz nach dem Flugzeugabsturz hat jemand von der Familie irgendwie Dateien davon kopiert, aber seitdem wurde er nicht mehr angerührt. 

Viele Ihrer Arbeiten haben eine archivarische Qualität. Ich denke da an die Sammlung von Trance-Schallplatten, die Sie in diese Ausstellung aufgenommen haben: die "AUDMCRS Underground Dance Music Collection of Record Sound". Die Musik und das Design der Hüllen sind sehr zeittypisch, sehr 90er-Jahre. 

Die passt auch perfekt in die Ausstellung, die Sammlung ist archivarisch, es ist Techno. 

Sie scheinen sich auch für gerade erst veraltete Technologien zu interessieren, beispielsweise in "Super Mario Clouds" von 2002 und anderen Arbeiten, die auf modifizierten Konsolen-Cartridges basieren. Oder Ihr Stück "/roʊˈdeɪoʊ/ Let's Play: HOLLYWOOD", in dem eine KI versucht, ein Smartphone-Spiel von Kim Kardashian aus dem Jahr 2014 zu spielen. Es ist in gewisser Weise auch ein "Let's Play". Was fasziniert Sie an der jüngsten Vergangenheit?

Es macht Spaß, Dinge zu verwenden, die gerade ausrangiert worden sind. Als ich mit den Videospiel-Mods anfing, konnte man Nintendo-Cartridges fast umsonst bekommen. Man ist auch nicht so abgelenkt, wenn man nicht gerade mit dem neuesten Trend arbeitet, denn sonst arbeiten so viele Künstler*innen damit. Und manchmal dauert die Arbeit einfach. Wir haben das Kim-Kardashian-Projekt 2017 begonnen und vier Jahre später fertiggestellt. Wir brauchten die Zeit, um die Maschine zu bauen. Vergangenen Monat ist das Spiel "Kim Kardashian: Hollywood" offline gegangen. Die Arbeit wird nie wieder live zu sehen sein. 

Die KI hat in Echtzeit gespielt?

Genau, aber sie wurde nur ein einziges Mal live aufgeführt, in der Galerie Greene Naftali in New York. Es brauchte einen Vollzeittechniker als Babysitter. Immer, wenn es ein Update für das Spiel gab, mussten wir den Code aktualisieren. 

In all dem steckt doch auch eine gewisse Einsamkeit. Bei "Super Mario Clouds" sind keine Spielfiguren zu sehen, und eigentlich ist auch das Kardashian-Spiel menschenleer. Was passiert, wenn Sie alle Spuren menschlicher Spieler beseitigen?

Das Kardashian-Spiel war mein Mount Everest. Es ist das einsamste und dystopischste meiner Werke. Auch die "Clouds" sind traurig. Gleichzeitig liebe ich Computer, und ich liebe das Programmieren. Aber das geht nicht immer zum Nutzen der Technologie. 

Sie meinen, sie arbeiten gegen die Technologie?

Naja, ich versuche zumindest nicht zu zeigen, dass alles cool ist. Die Arbeiten vermitteln mir immer dieses Gefühl, auf das Sie anspielen, aber ich bin dem auch ein bisschen machtlos gegenüber. 

Und wollen Sie das weiter verfolgen?

Das weiß ich nicht. Das liegt auch nicht ganz in meiner Hand. Es tut mir leid, wenn ich jetzt wie ein Yogalehrer klinge: Es ist wie beim Angeln. Ich weiß nicht, was für Fische ich fangen werde. 

Sie haben einige Male den Begriff dystopisch benutzt, um Ihre Arbeiten zu beschreiben. Was bedeutet das für Sie?

Ich lebe seit einer Weile in Stavanger, Norwegen. Dort wird Öl gefördert, und das hat mir einen anderen Blick auf die Welt gegeben. Seit dem Krieg in der Ukraine ist Norwegen der wichtigste Energielieferant in Europa, glaube ich. Das Leben hier hat mir geholfen, ein bisschen globaler zu denken. Mein norwegischer DJ-Freund hat mir einmal erklärt, warum die Norweger so gut auflegen können. 

Warum denn?

Weil sie so weit weg sind, geografisch und kulturell. Sie können die Welt beobachten, sie können sagen: Nehmen wir eine Platte von hier, eine von dort. Und es gibt so wenige Menschen, dass man nicht einfach nur ein Acid-House-DJ sein kann. Man muss genauso die Rolling Stones spielen, denn die Tanzfläche muss in Bewegung bleiben.

Sie meinen, man muss eklektisch sein?

Ja, und diese Entfernung erlaubt das. Jedenfalls, aus dieser Position kann man beobachten, dass es bei der ganzen Sache nur um Energie geht. Man könnte denken, dass eine Erdbeere wegen der Sonne wächst, aber ohne Erdöl wäre das nicht möglich. Es wird für den Dünger benötigt, und der Traktor wird damit betrieben. Als ich in New York lebte, waren solche Zusammenhänge für mich unsichtbar.

Dinge, die die Welt zusammenhalten, liegen für sie jetzt zutage?

Ich bin nicht auf einem Kreuzzug gegen fossile Brennstoffe, denn so funktioniert die Welt nunmal. Das ist die lange Antwort, warum ich meine Arbeit als dystopisch bezeichnen würde. Ich versuche, ein Gefühl dafür zu bekommen, was vor sich geht. 

Sie haben Musik erwähnt. Weil Sie als Komponist ausgebildet wurden, interessiert mich, wie die Idee der Partitur in Ihre Arbeit eingeflossen ist. 

Das meiste basiert auf Partituren, schließlich ist eine Partitur nur eine Reihe von Anweisungen, die über einen Zeitraum ausgeführt werden. Computercode ist eine Partitur, und so stelle ich mir den Großteil meiner Arbeit vor. Die Techno-Platten sind buchstäblich Instrumente, die von von einem DJ gespielt werden – ein institutionelles Objekt, das als auratische Sammlung herumgereicht wird. Was wenn wir das zu etwas Wichtigem erheben? Die Aluminiumarbeiten sind ein wenig anders, aber letztlich basieren sie auf Vektoren, die ausgefräst werden, also auch eine Art Partitur. Dieses Objekt reist dann wie ein Gemälde durch die Welt. Und die YouTube-Sache – das ist vielleicht meine komplizierteste Arbeit. Ich weiß nicht, was das ist.

Sie steigen in ein anderes Medienumfeld ein. 

Ja, aber ich muss kein erfolgreicher YouTuber sein. Das ist eher eine Recherche. Und das kann ich nicht als Kunstwerk bezeichnen, weil das zu prätentiös wäre. Aber ich habe auf jeden Fall meine Fähigkeiten als Künstler eingesetzt.

Ich habe gelesen, dass Majerus während seines Aufenthalts in Los Angeles weiter Bilder produzierte. Er hat sie am Computer komponiert, dann die Entwürfe nach Berlin geschickt, wo sie ein Assistent ausgeführt hat. Ein bisschen wie eine, ähm, Partitur?

Ja! 

Vielleicht ist es gerade diese Übersetzung vom Virtuellen zum Materiellen, die diesen Laptop so faszinierend macht.

Auf jeden Fall. Er und ich, wir sind aber auch völlig gegensätzliche Künstler. Aber er verblüfft mich immer wieder. An einen richtig guten Majerus komme ich nie heran.

Warum?

Formal ist es einfach erstaunlich. Die Arbeiten sind unverständlich. Sie lassen sich nicht auf einen Algorithmus oder eine Formel reduzieren, und es gibt keine Möglichkeit, das zu reproduzieren. 

Ihre Aluminiumarbeiten sind auch sehr malerisch. 

Ich versuche mein Bestes. 

Und sie sind schon ein bisschen Majerus-esk. 

Das sind sie!

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie diese Serie begannen?

An Majerus habe ich nicht gedacht, als ich anfing, die Logos einzuscannen. Das ist schon 15 Jahre her. Aber als ich anfing, sie in Aluminium zu fräsen, musste ich sofort an ihn denken. 

Haben Sie Ihren Werdegang jemals mit Majerus verglichen?

Ich habe als Medienkünstler angefangen, und mein Ziel war, irgendwann ein zeitgenössischer Künstler zu werden. Majerus fing als Maler an, und irgendwann wurde er eher ein Medienkünstler. Meine Arbeit ist in den vergangene 25 Jahren konservativer geworden. Ich habe das Gefühl, dass seine Arbeit in die entgegengesetzte Richtung ging.