Mindestens einen schweren Knacks hat dieser Tage die transatlantische Freundschaft zwischen Europa und den USA erhalten, wenn sie nicht schon gänzlich zerbrochen ist. Doch weiß niemand, welche Haken der derzeitige US-Präsident noch schlagen wird; hüten wir uns also vor Prognosen.
In diesem so unsicheren Moment ist es besonders verdienstvoll, auf die Anfänge und die erste große Blüte dieser Freundschaft zu blicken. Das Dresdner Archiv der Avantgarden kommt da mit seiner Ausstellung "Moderne Zeiten. Der amerikanische Traum und die Avantgarden der 1920er Jahre" genau zur rechten Zeit. Der Titel spielt auf den berühmten Charlie-Chaplin-Film "Modern Times" an, der zwar erst 1936 gedreht wurde, dessen Motto aber für das vorangehende Jahrzehnt noch viel besser passt. Denn die 1920er waren es, die die Modernität feierten - und dies noch ohne den schlechten Nachgeschmack, den die Weltwirtschaftskrise ab Ende 1929 verursachte.
Aus den mit anderthalb Millionen Einzelstücken schier unerschöpflichen Tiefen der Sammlung von Egidio Marzona, die den Kernbestand des "Archivs" bildet, haben die Kuratoren Przemyslaw Strozek und David Wittinghofer drei Themen destilliert, anhand derer die europäische Amerika-Begeisterung beleuchtet werden kann. Oder sagen wir lieber "Fixierung", denn im Laufe der Jahre gewannen kritische Stimmen mehr und mehr die Oberhand.
Unter der Kritik lebte die Faszination
So war der weltweite Protest gegen den Justizmord an den italienischen Immigranten Sacco und Vanzetti, die 1927 für einen nicht begangenen Raubmord auf den elektrischen Stuhl geschickt wurden, ein Höhepunkt des Antagonismus gegen das US-amerikanische System. Doch darunter lebte die Faszination fort. Und die Romane des politisch linksstehenden Upton Sinclair, die in Deutschland der pro-kommunistische Malik-Verlag in hohen Auflagen und mitreißenden Buchumschlägen von John Heartfield verbreitete, fanden ihre Leserschaft doch gerade, weil die USA das Projektionsfeld so vieler Träume bildeten.
Die drei Themen der Ausstellung sind der künstlerische Austausch, die Unterhaltungsindustrie und schließlich die neuen Arbeitsmethoden. Dafür greifen die Kuratoren auf Bücher, Zeitschriften, einige Fotografien, aber mit zwei Ausnahmen nicht auf eigenständige Kunstwerke zurück. Für den Austausch steht die hierzulande wenig bekannte Katherine S. Dreier, die mithilfe der zeitweilig in den USA lebenden Künstler Marcel Duchamp und Man Ray bereits 1920 die Vorform eines Museums der Moderne schuf. Unter dem ironischen Titel Société Anonyme, Inc. stellte sie eine hochkarätige Sammlung der europäischen Avantgarde zusammen, die zwar ausgestellt wurde – bahnbrechend im Brooklyn Museum 1926 –, aber dann doch keine dauerhafte Heimstatt fand und 1950 aufgelöst wurde.
Es waren die Jahre der "kleinen Zeitschriften", der little magazines, wie die überall erscheinenden literarischen und künstlerischen Publikatiönchen genannt wurden. "Broom", also "Besen", wurde unter Ausnutzung des günstigen Dollar-Wechselkurses zeitweilig in Europa gedruckt: mal in Rom, mal in Berlin, wobei die Reichshauptstadt als Drehscheibe für Künstler aus Osteuropa, vor allem der jungen Sowjetunion, diente. Der Einfluss des frühsowjetischen Konstruktivismus auf die US-Avantgarde ist denn auch evident, verbreitet unter anderem von Immigranten wie dem gebürtigen Ukrainer Louis Lozowick.
Charlie Chaplin und die große Freiheit
Größte Faszination übte die amerikanische Unterhaltungsindustrie aus. Der Jazz fand glühende Verehrer, bis hin zur Komposition der 1927 uraufgeführten Jazz-Oper "Jonny spielt auf" des Wieners Ernst Krenek. Und natürlich die Filme mit Charlie Chaplin: Die von Fernand Léger gezeichnete Figur des "Charlot", wie er in Frankreich hieß, fand in zahllosen Publikationen quer durch Europa Verwendung.
Chaplin verkörperte das antiautoritäre Element, die große Freiheit, für die die USA eben auch standen. Zugleich beflügelten die unerhörten Wolkenkratzer New Yorks, wie sie der Architekt Erich Mendelsohn in einem mehrfach aufgelegten Buch mit eigenen Fotografien vorstellte, die Fantasie der Europäer.
Dass dem auch eine andere Arbeitsorganisation zugrunde lag, beleuchtet das dritte Kapitel. Henry Ford wurde zum Propheten einer neuen, wissenschaftlich fundierten Organisation der industriellen Welt – für die freilich auch die Stechuhr steht, die als einziges Großobjekt in der Dresdner Ausstellung zu sehen ist.
Verklärte Vorstellungen eines Riesenlandes
Die Fließbänder der Automobilfabriken von Detroit wurden gleichermaßen Gegenstand der Bewunderung wie der Ablehnung, wobei letztere mehr und mehr politisch ausgerichtet war. Im Übergang zu den depressiven 1930er-Jahren gewannen Zeitschriften wie die 1926 gegründete "New Masses" Einfluss und Bedeutung, herausgegeben von der – kommunistischen – "Arbeiterpartei" der USA. Doch dort schrieben mit Autoren wie William Carlos Williams oder John Dos Passos die bedeutendsten Vertreter der amerikanischen Literatur, ehe die Zeitschrift zunehmend auf eine rigide Parteilinie einschwenkte.
Dass die Dresdner Ausstellung just am 10. April, dem 100. Jahrestag des Erscheinens von "The Great Gatsby" eröffnete, ist purer Zufall; aber ein bezeichnender, denn der Roman von F. Scott Fitzgerald bündelt wie kein zweiter das romantische Bild von den USA als Land der Schönen und Reichen. Und verklärt oder auch verzerrt waren so ziemlich alle Vorstellungen, die man sich in Europa von dem Riesenland jenseits des Atlantiks machte.
Aber wie schöpferisch sich diese Vorstellungen auswirkten, zeigt die so ungemein anregende Ausstellung im Archiv der Avantgarden, der nur eines fehlt: die Projektion der Chaplin-Filme. Die zeigen zu dürfen, kostet schlicht zu viele Gebühren. Wie widersinnig! Amerikas Faszination kam schließlich nicht zuletzt dadurch zustande, dass es seine Errungenschaften freigiebig vorzeigte und die ganze Welt daran teilhaben ließ. Bis auf den heutigen Tag, mit dem Zoll-Diktator im Weißen Haus.