Nan-Goldin-Film im Kino

Die Ballade von Gier und Gerechtigkeit

Laura Poitras hat für ihren eindringlichen Dokumentarfilm "All the Beauty and the Bloodshed" zurecht den Goldenen Löwen in Venedig gewonnen. Nun kommt das Meisterwerk über Nan Goldin und ihren Kampf gegen das Artwashing der Familie Sackler ins Kino

"Tempel des Todes. Tempel des Geldes. Tempel der Gier", skandieren die Aktivistinnen und Aktivisten, die sich am 10. März 2018 im "Sackler Wing" des New Yorker Metropolitan Museum vor einem altägyptischen Sandsteintempel versammelt haben. Natürlich richtet sich die Wut der Gruppenmitglieder von P.A.I.N., die noch weiß-orange Pillendosen in das Wasserbecken des Tempels von Dendur schmeißen, nicht auf die alten Ägypter. Es geht um die superreiche Familie Sackler und ihr Unternehmen Purdue Pharma, das mit dem 1996 auf den Markt gedrückten und aggressiv beworbenen Oxycontin eine Suchtepidemie ungekannten Ausmaßes in den USA mit Tausenden Toten auslöste.

Die Hersteller wussten, wie rapide das Zeug süchtig machte, und sie verharmlosten die Gefahr. Zugleich traten die Sacklers als schöngeistige Kulturförderer auf, indem sie in den USA, aber auch in europäischen Ländern Museen beschenkten oder prestigeträchtige Ausstellungen förderten.

Die Künstlerin Nan Goldin, die P.A.I.N. gegründet hat, wünscht die Verantwortlichen der Opioidkrise "bis in alle Ewigkeit ins Gefängnis", wie die Künstlerin einmal in dem Dokumentarfilm "All the Beauty and the Bloodshed" erklärt. Mindestens aber sollten Museen wie das Met sämtliche Beschriftungen mit dem Namen Sackler entfernen. Hinter ihrem Mäzenatentum verbergen sich Habgier und Verbrechen, findet Goldin, die 2014 selbst nach dem Schmerzmittel abhängig wurde, das ihr nach einer Operation verschrieben wurde.

Die Kunst wird notorisch vom Geldadel benutzt

Natürlich schlägt sich Laura Poitras, die für "Citizenfour" über den Whistleblower Edward Snowden 2015 einen Oscar gewann, auf die Seite der Opfer. Über mehrere Jahre hat die Filmemacherin den Kampf von Goldin und P.A.I.N. um öffentliche Wahrnehmung mit der Kamera begleitet. Zugleich wurde Poitras durch die Begegnung mit Goldin zu einem intensiven Filmporträt der Künstlerin motiviert, deren Biografie und künstlerische Laufbahn in die chronologische Schilderung der Gruppenaktivitäten zwischen 2018 und 2021 eingeflochten werden.

In der Person Nan Goldins laufen alle Fäden dieser irrsinnigen Geschichte zusammen, nicht allein deshalb, weil die 1953 in Washington, D.C. geborene Fotografin eine Kennerin des US-Kulturbetriebs ist, einem System, das mangels staatlicher Förderung stark von privater Förderung abhängig ist und sich notorisch vom Geldadel (etwa für Steuerabschreibungen) benutzen lässt – wie in diesem extremen Fall von "Artwashing".

Doch die Causa Sackler ist eben nur die eine Seite eines immer wieder in die Vergangenheit Goldins zurückkehrenden Films. Während man die raue Altstimme der Künstlerin auf der Tonspur hört, sind vor allem Fotografien zu sehen. Kunst und Leben sind eng verzahnt im Schaffen von Nan Goldin. So setzte sie ihre berühmte "Ballade der sexuellen Abhängigkeit" aus Fotos zusammen, die ihre privaten Beziehungen in den späten 1970er- bis 1980er-Jahren zeigen, an Orten wie Provincetown, Boston, New York oder Berlin. Die insgesamt 800 Aufnahmen wurden von Goldin, die selbst eine Figur der "Ballade" ist, in Diaserien und zwischen Buchdeckeln immer wieder unterschiedlich kombiniert.

Zärtlichkeit und Verzweiflung

Die Bilder erzählen von Lebenslust, Zärtlichkeit, Emanzipation – und auch von Rausch, Drogensucht, Verzweiflung, brutalen Übergriffen. Überdies reißt ab den frühen 1980ern eine Virusepidemie schmerzhafte Lücken in den Freundeskreis der Künstlerin. Betroffenheit und Fürsorge innerhalb ihres "Tribe" (Goldin) sind groß, aber die Mehrheitsgesellschaft grenzt die Aidskranken aus.

In der Ära Reagan gilt als Konsens, dass "die Schwulen" an "ihrer Seuche" selbst schuld sind, für Forschung und medizinische Unterstützung stehen kaum Gelder bereit. Das Gesundheitssystem in den USA war und ist eine Katastrophe. Poitras benötigt keine Kommentarzeile und keinen erhobenen Zeigefinger, um die systemische Misere gestern und heute, in der Aids- wie in der Opioidkrise, deutlich zu machen. Sie lässt einfach Goldins Weggefährten und Künstlerkollegen David Wojnarowicz (der 1992 an den Folgen der Immunschwäche zugrunde ging) von seiner prekären Situation in Dokumentaraufnahmen erzählen.

Souverän hat die Filmemacherin die Fülle an Material in eine dramaturgisch komplexe wie schlüssige Form überführt, sodass sich zunehmend der Eindruck eines großen inneren Zusammenhangs einstellt. Durchgängig ist Goldins Biografie von seelischer und körperlicher Gewalterfahrung geprägt, und von der wachsenden Erkenntnis, dass Individuen von Staat und Gesellschaft wenig Unterstützung zu erwarten haben, dass sich Gleichgesinnte zusammentun sollten und mit Hartnäckigkeit politische Veränderungen herbeiführen können.

Ein Sieg, wenn auch nicht auf ganzer Linie

Nach einer Reihe aufsehenerregender Aktionen durch P.A.I.N in Museen wie dem New Yorker Guggenheim, der National Gallery in London oder dem Pariser Louvre steuert der chronologische Erzählstrang um den Kampf gegen die Sackler-Machenschaften auf einen Wendepunkt zu. Mit Tausenden von Entschädigungsklagen konfrontiert, meldet die Sackler-Firma Purdue Pharma Konkurs an und schließt einen Vergleich. Die Familie stimmt damit im September 2021 einer Zahlung von 4,5 Milliarden Dollar Entschädigungsgeldern zu, die unter anderem in Programme zur Suchtprävention und -behandlung fließen sollen.

Allerdings haben die skrupellose Sippe vorher beträchtliche Summen aus dem Unternehmen in andere Konten abgezweigt. Daneben sind die Multimilliardäre aus insolvenzrechtlichen Gründen vor weiteren Opioid-Klagen fortan geschützt. Wahrscheinlich werden sie in Zukunft ihren Reichtum noch mehren können. Vor der Weltöffentlichkeit stehen sie aber am Pranger, dafür haben Goldin und ihre Mitstreiter gesorgt.

Dass zumindest zwei Mitglieder der sonst eher unsichtbaren Familie plötzlich im Film zu sehen sind, hängt damit zusammen, dass das Insolvenzgericht die Sacklers dazu verpflichtet hat, sich während einer Videokonferenz, an der auch Goldin beteiligt ist, schweigend die Schilderungen von Opferfamilien anzuhören. Poitras richtet ihre Kamera auf die versteinerten Mienen von Theresa und David Sackler, zugleich ist Nan Goldin die tiefe Genugtuung anzusehen, dem "Feind" endlich auf Augenhöhe begegnen zu können. Ein Triumph, ein Sieg, wenn auch nicht auf ganzer Linie.

Immer tiefer in die dunkle Familienhölle

Der Filmtitel stammt aus einer Psychiatrieakte ihrer Schwester aus den 1960er-Jahren. "She sees the future and all the beauty and the bloodshed" –  "Sie sieht in die Zukunft mit all der Schönheit und dem Blutvergießen", das liest sich wie eine Weissagung, ein Menetekel sogar. Barbara Holly Goldin ist der Film gewidmet.

Nan Goldin beschreibt sie als lebenslustiges Mädchen und als die Einzige in der Familie, von der sie Zärtlichkeit und Zuwendung erfuhr. Als sich bei Barbara homosexuelle Neigungen zeigen, wird die Heranwachsende in eine Anstalt eingewiesen, mit Einwilligung der von Psychologen beratenen Eltern.

Poitras und Goldin widmen sich dem Familiendrama nicht chronologisch, sondern gleichsam schraubenförmig. Mit Unterbrechungen bohren sich die Filmemacherin und die Künstlerin gemeinsam immer tiefer in das Schicksal Barbaras, das ja zugleich auch Nans Schicksal ist.

Was stirbt zuletzt, die Hoffnung oder die Gier?

Immer tiefer fällt Barbara in die Psychiatriehölle, bis sie sich kurz vor ihrem 19. Geburtstag vor einen Zug wirft. Den Suizid der Schwester verbindet der Film mit dem körperlich-seelischen Tiefpunkt der Künstlerin, Jahre später, als sie den Entzug vom Opioid wagt. Goldin berichtet von einer damit verbundenen "Dunkelheit der Seele", die sich Außenstehende kaum vorstellen können.

Der Film schont sein Publikum nicht, aber er gibt auch Hoffnung. Weil es immer Leute wie die von P.A.I.N. gibt, die den Finger in die Wunde legen, die für eine bessere Zeit kämpfen. Zugleich macht sich Ratlosigkeit und Verstörung breit. Denn an den Rändern ihrer Erzählung zeigt Poitras die hässlichen Umrisse eines fehlerhaften politischen Systems, in dem es bis in die Mittelschicht hinein an staatlicher Unterstützung fehlt. Sie schildert ein Amerika, dessen "unbegrenzten Möglichkeiten" immer nur den Aktionsradius von Superreichen beschreiben, gewieft in Sachen Lobbyarbeit, unterstützt von Behörden, von teuren Anwälten bestens beraten. Was stirbt denn wirklich zuletzt, die Hoffnung oder die Gier?