Phototriennale Hamburg

"Materialität und Performativität von Fotos beschäftigen uns sehr"

Mit ihren großen Plänen für die 8. Triennale der Photographie haben Koyo Kouoh und Rasha Salti alles wie eine "Perlenkette" zusammengehalten: Sie haben elf renommierte Kulturinstitutionen in Hamburg zu je eigenen Beiträgen inspiriert und gleichzeitig die große Ausstellung "Currency" in den Deichtorhallen kuratiert. Im Interview erzählen die beiden, warum sie auf der Triennale keine Außenseiter zeigen wollten, wo die Fotografie heute steht – und wer in Hamburg das größte Wagnis von allen eingeht

Bis vor kurzem wurde die Grundversorgung in Deutschland noch für selbstverständlich gehalten, genauso in den Vereinigten Staaten. Es sei denn, man lebte in der US-Stadt Flint, wo nach 2014 jahrelang das Trinkwasser verseucht war – eine humanitäre Krise, die in der Öffentlichkeit verdrängt, von der Fotografin LaToya Ruby Frazier aber dokumentiert wurde. Was kann die Soziale Dokumentarfotografie in unserer vernetzten Gegenwart noch ausrichten?

Koyo Kouoh: Sie sprechen hier gerade mit zwei Kuratorinnen, deren Herkunftsländer tagtäglich durchdrungen sind von genau diesen Fragen nach Mangel, Versorgung und Aufruhr. Entsprechend bemerkenswert ist es für uns beide, unsere europäischen Kollegen, Freunde und Familienmitglieder jetzt während des Ukraine-Kriegs dabei zu beobachten, wie sie zum allerersten Mal über etwas besorgt sind. Wir beide sind durchgehend besorgt. Mein Heimatland Kamerun ist seit 500 Jahren in einer Krise begriffen. Das heißt, dass jede zusätzliche Krise nur noch eine weitere Schicht an Komplexität obendrauf legt, der wir uns stellen müssen, so, wie die Menschheit sich seit jeher Krisen und Konflikten stellt. Diese europäische Blase aus Wohlfahrt und Wohlstand, dieser Seelenfrieden, das ist etwas, das viele Menschen gar nicht erst kennen.

Rasha Salti: Die Soziale Dokumentarfotografie ist noch mächtiger als andere Formen von Dokumentation. Eine Fotografin wie LaToya Ruby Frazier, die jetzt auf der Triennale gezeigt wird, nimmt sich sehr viel Zeit für ihre Aufnahmen, anstatt einfach die Kamera draufzuhalten. Sie ist politisch engagiert, sie handelt aus Empathie heraus. Entweder ist sie schon Teil der Community oder sie will ihr möglichst nahekommen. Bei der Triennale der Photographie bezeichnen wir unsere Gegenwart als das "retinale Zeitalter". Bevor unsere Handys mit Kameras ausgestattet wurden, existierten die Bilder in der Welt – jetzt hingegen existiert die Welt in den Bildern, wie es die französische Filmkritikerin Nicole Brenez so wunderschön formuliert hat. Das ist exakt, was unser kuratorisches Konzept erforschen soll: wo inmitten dieses Überflusses an Bildern heutzutage noch die Fotografie zu verorten ist, mit all ihren Verbindungen zum neoliberalen Kapitalismus und zum Kolonialismus.

KK: Und zur Macht! Mit ihren Verbindungen zur Macht!

RS: Diese Maschinerie ist ja immer noch die gleiche. Sie verleiht manchen Bildern Wert und anderen nicht, sie macht manches sichtbar und anderes unsichtbar. Denkt man an die Pionierinnen der Sozialen Dokumentarfotografie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, wie etwa an Margaret Bourke-White, findet man in ihren Arbeiten immer diese Kombination aus Ästhetik einerseits und Gerechtigkeitssinn andererseits, also einem politischen Bewusstsein. So auch bei LaToya Ruby Frazier. Sie zwang eine gesamte Kunstszene dazu, plötzlich über die Stadt Flint zu sprechen. Sie hat Flint einfach allen aufgedrängt.

KK: Oder mal anders betrachtet, wenn wir zurückgehen, wo hat die Soziale Dokumentarfotografie eigentlich ihren Ursprung genommen? Einen Ausgangspunkt kann man auch in der gesamten ethnografischen Fotografie sehen, der es darum ging, über fremde Gesellschaften Macht auszuüben und einen gaze auf sie zu formen, also einen ganz bestimmten Blick. Es hängt immer von der Perspektive und dem Ziel der jeweiligen Fotos ab. Es ist nicht immer ein Eintreten für jemand anderen. Nicht alle Fotografen arbeiten notwendigerweise mit Empathie oder widmen sich der Enthüllung von Missständen. In meiner Heimat wurden wir hauptsächlich durch einen fremden gaze auf uns afrikanische Menschen definiert.

Die Macht, von der Sie sprechen, lässt sich laut der Theoretikerin Tina Campt zurückerobern. Das nennt sie in Umkehrung dann einen "Black Gaze", also den Schwarzen Blick. Für Campt sind der Gehörsinn und der Tastsinn in der visuellen Kunst ganz entscheidend, um soziale Codes abzubilden. Berührung ist beispielsweise sehr wichtig im Werk des Fotografen Clifford Prince King. Musik und Klang spielen beim Künstler Raed Yassin eine große Rolle.

KK: Ja, die Idee der Materialität und Performativität von Fotos hat uns sehr beschäftigt. Wie intervenieren die Fotografen selbst in ihren Arbeiten? Manche machen das Bild zu diesem Zweck weniger sichtbar wie etwa Raed Yassin, andere offenbaren seine Nicht-Existenz wie Alfredo Jaar.

RS: Wir interessierten uns bei dieser Triennale für Porträtfotografen, die sich selbst eben nicht als Außenseiter oder als Porträtisten verstehen, sondern die aus dem Inneren einer Community kommen. Man denke nur an Claudia Andujar, die schweizerisch-brasilianische Fotografin. Sie fing in den 1960er-Jahren mit einer Reportage über einen indigenen Stamm im Amazonas-Regenwald an. Langsam aber sicher veränderte sich ihre Position, je mehr Zeit sie mit ihnen verbrachte: weg von der anfänglichen Empathie hin zu einer Identifikation mit den Indigenen. Nur zehn Jahre später war Andujar bei ihren experimentellen Montagen angelangt, die die Welt durch die Augen dieses Stammes und mit deren Interpretationen sehen wollen. Oder eben Clifford Prince King, der sich seiner ethnischen und sexuellen Minderheit und deren langer Unterdrückungsgeschichte in den USA sehr bewusst ist. Er kann seine eigene Community durch Porträts unter umgekehrten Vorzeichen zeigen, denn er kann das mit einem starken Sinn für Familie, Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit tun. Derweil brechen Landschaftsfotografen wie die Französin Anne-Marie Filaire, der Isländer Ragnar Axelsson oder der Kenianer Fazal Sheikh mit den Codes, wie Orte repräsentiert werden.

KK: Der "Black Gaze" nach Tina Campt ist vor allem ein Korrektiv, das den Blick umkehrt und den Kanon der Bilder bezwingt.

Auch Sie legen als Kuratorinnen Wert darauf, unkanonisch und unsystematisch vorzugehen. Wie setzen Sie diesen hohen Anspruch in die Tat um?

RS: Soll ich diese Frage übernehmen?

KK: Aber natürlich. Der Reichtum unseres kuratorischen Teams besteht in der großen Anzahl an Köpfen, die über solche Fragen nachdenken.

RS: Es gibt bei der Triennale ja nicht nur unsere Schau "Currency", die wir für die Halle für aktuelle Kunst der Deichtorhallen kuratiert haben, sondern noch elf weitere Ausstellungen. Dabei sollte es aber auf keinen Fall eine Hierarchie geben, also keine Hauptausstellung und keine Satelliten – trotz der großen Unterschiede in der DNA dieser ganz verschiedenen Häuser. Deshalb sprechen wir auch immer von einem "Parcours". Es geht uns hierbei nicht nur um die Museumsmeile, es geht uns nicht ausschließlich um die Sammlung der Kunsthalle mit ihren brillanten, etablierten Positionen. Was diese Triennale unkanonisch macht, ist, dass jede Schau letztlich nur eine einzelne Perle ist, aufgefädelt auf eine Kette von zwölf.

KK: Wir standen vor der schwierigen Aufgabe, wie wir unser Thema "Currency"“ an elf andere beteiligte Kulturinstitutionen kommunizieren können, die es in ihre je eigene Sprache übersetzen mussten. Noch dazu während der Pandemie, wo keine organischen, realen Konversationen stattfinden konnten. Wir waren alle auf Zoom angewiesen. Dieses Kommunikationsmedium fügt allem noch mal weitere Schichten an Komplexität hinzu. Ich bin ja eine Anhängerin direkter Kommunikation, und selbst die ist manchmal belastet. Bei uns trafen zum Glück vier kuratorische Perspektiven und Persönlichkeiten sehr schön und organisch aufeinander.

Sie beide hatten früher schon einmal zusammengearbeitet, oder?

KK: Ja, als Künstlerische Leiterin hatte ich natürlich mit jeder Person einzeln schon mal berufliche Erfahrungen gesammelt. Aber es war das erste Mal, dass wir zwei und dazu noch Gabriella Beckhurst Feijoo und Oluremi C. Onabanjo als Team zusammenkamen.

Was ist die antikapitalistische Bedeutung des Jahresthemas "Currency", bei dem die meisten Leute zuerst an Geld denken?

RS: Naja, nur gegen den Kanon zu kämpfen, ist noch nicht antikapitalistisch genug. Aber es geht schon einmal in die richtige Richtung. Fotografie ist nunmal kein Prinzip, sondern ein Werkzeug, das immer innerhalb eines Systems existiert, in diesem Fall innerhalb des kapitalistischen Systems. Dieses System schöpft Wert, es erniedrigt Menschen, schafft Verachtung, macht Subjekte zu Waren und errichtet soziale Hierarchien. In unserer Ausstellung kann man hingegen Künstlerinnen und Künstler sehen, die mithilfe des Instruments der Fotografie all diese gerade genannten Beziehungen umkehren.

Da alle Institutionen der Triennale gleich wichtig seien, wie die Perlen auf einer Kette, müssen Sie jetzt eine der elf Ausstellungen empfehlen, die nicht von Ihnen selbst kuratiert wurden.

KK: Das ist eine verzwickte Frage. (lacht) Ich denke gern, dass ich im Herzen eine Kommunistin bin. Deshalb will ich auch allen Ausstellungen und allen gezeigten Arbeiten die gleiche Aufmerksamkeit schenken. Natürlich kenne ich meine persönlichen Favoriten, es gibt sie, wirklich, aber Rasha Salti soll ihre zuerst sagen. Ich hadere im Moment noch damit.

RS: Was so spannend an dieser Triennale ist: Sie unterstreicht die Bedeutung der Fotografie für den Alltag und für sämtliche Lebensbereiche. Ärzte nutzen die Fotografie für ihre Diagnosen. Die Polizei nutzt Fotos zur Kriminalisierung, die Presse zur Berichterstattung. Mehrere Museen werden sich der Fotografie als Kunstform widmen, wie es das Bucerius Kunst Forum macht, außerdem der Kunstverein, das Kunsthaus, die Kunsthalle, die Deichtorhallen. Aber gleichzeitig – und da wird es doch aufregend – hat man dann plötzlich das Museum der Arbeit, das Museum für Hamburgische Geschichte oder das MARKK, die sich aus ganz anderen Blickwinkeln mit Fotografie beschäftigen. Wie diese Institutionen auf unser Konzept "Currency" geantwortet haben, war am spannendsten. In Nordamerika, in Deutschland und generell in Europa sind Museen ja gerade mit der Frage konfrontiert, wie sie ihre Sammlungen dekolonisieren wollen und was das überhaupt bedeuten könnte. Das MARKK und das Museum für Hamburgische Geschichte stellen sich diese Frage auf ganz besondere Weise.

Ich hatte befürchtet, diese Museen könnten hinten runterfallen.

RS: Dabei sind gerade sie die mutigsten! Sie gehen mit ihren Proposals tatsächlich das größte Wagnis von allen ein. Diese Institutionen treten komplett aus ihren bisherigen Programmen heraus, auch aus ihren bisherigen Vorstellungen davon, was eine Ausstellung überhaupt ist und wie ihr Beitrag zu solch einer Triennale aussehen könnte.

KK: Dem schließe ich mich an.