Filmfest Venedig

Rache, Revolte, Roma

Foto: Netflix/labiennale/dpa
Foto: Netflix/labiennale/dpa
Eine Szene aus dem Film "Roma"

Alfonso Cuaróns episches Meisterwerk "Roma" gewinnt den Goldenen Löwen der 75. Mostra von Venedig. Die Filme von Yorgos Lanthimos ("The Favourite") und der einzigen nominierten Regisseurin Jennifer Kent ("The Nightingale") werden jeweils zweifach ausgezeichnet Ein Journalist rastet aus. "Vergogna!" – "Schande!" brüllt er nach der Pressevorführung von "The Nightingale" und verdreht den Namen der Regisseurin Jennifer Kent aufs Unflätigste. Dem entgleisten Kritiker wurde die Filmfest-Akkreditierung aberkannt, gut so. Frauenhass hier und heute, während die einzige Regisseurin des Wettbewerbs Sexismus und Rassismus im Australien des 19. Jahrhunderts anprangert. Brachial erzählt Kent von einer missbrauchten Frau, der Soldaten auch noch Kind und Mann ermordet haben. Clare folgt als Rächerin der Spur der Mörder durch die australische Wildnis. Innerlich ist sie schon längst wie tot, und als sie ihren Blutdurst an einem jungen Nebenschurken gestillt hat, kann sie nicht mehr. Am Ende "erledigt" Clare den Haupttäter mit ihrem Lied über die Nachtigall. Kent bekam den Spezialpreis der Jury, und Baykali Ganambarr dank der Rolle des gewitzten Aborigine-Scouts Billy, der die Heldin begleitet, den "Mastroianni"-Nachwuchs-Darstellerpreis. 
 
Dass der mickrige Frauenanteil dieses Jahrgangs mit weniger guten Einreichungen von Regisseurinnen zusammenhing, mag man Direktor Alberto Barbera nicht glauben. Näher liegt, dass schwächere Filme wie "Werk ohne Autor" nur wegen großer Namen oder mächtiger Produzenten ins Löwenrennen durften.

An "Roma", dem Gewinner des Goldenen Löwen und für viele schon früh der Favorit, führte letztlich kein Weg vorbei. Nicht verschwiegen sei, dass Jurypräsident Guillermo del Toro Freund und Landsmann des siegreichen Regisseurs ist. Wer findet, dass diese Konstellation ein Geschmäckle hat, liegt nicht ganz falsch. "Roma" ist Spitze, aber nicht einsame Spitze. Alfonso Cuaróns bewegendes Schwarzweiß-Epos aus dem Mexiko der frühen 1970er könnte den Titel "Cleo" tragen – nach der Hausangestellten einer begüterten Familie in Mexiko-Stadt. Yalitza Aparicio, auch im wahren Leben Haushaltshilfe, glänzt neben Schauspielprofis. Wie so viele Filme dieses Festivals erzählt das epische Drama von Umbrüchen und Unsicherheiten. Cleo wird schwanger. Wirft die Arztfrau sie jetzt hinaus? Gehört Cleo nur halb oder ganz zur Familie? Thema ist auch die Macht der Männer, die ihre Frauen – Cleo, die Señora – im Stich lassen, und um die Gewalt auf der Straße. 1971, das ist das Jahr des "Corpus Christi"-Massakers an demonstrierenden Studenten. Meisterhaft verbindet Cuarón Historie mit fiktiven, von seinen Kindheitserinnerungen inspirierten Schicksalen.
 
"The Favourite" des Griechen Yorgos Lanthimos wurde mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet: Um den Rang als "Favoritin" der britischen Regentin Anne (1665-1714) beharken sich die erfahrene Fädenzieherin Lady Sarah (Rachel Weisz) und die unpolitische, doch bauernschlaue Abigail (Emma Stone). In der bösen Palast-Farce blitzen Vorahnungen auf ein Brexit-England regierender Knallchargen auf. Olivia Colman als überforderte Queen schafft den Balanceakt zwischen Verfall und Würde, hat sich den Coppa Volpi als beste Schauspielerin also redlich verdient. Von den männlichen Darstellern kürte die Jury Willem Dafoe. 1955 geboren, ist der Amerikaner eigentlich zu alt für Vincent van Gogh, der mit Mitte 30 starb. Doch "At Eternity’s Gate" um die letzten Jahre des großen Malers in Südfrankreich hütet sich vor übertriebenem Illusionismus. Regisseur und Julian Schnabel kennt sich mit Kunst aus. 
 
Kunstverstand kann man ebenso Mario Martone attestieren, dem Regisseur des interessanten, filmisch jedoch eher faden Beitrags "Capri-Revolution" um den culture clash einer Ziegenhirtin mit einer Künstlerkolonie auf Capri am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Bewusst anachronistisch versetzt Martone etwa Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater – in Form eines misslingenden psychiatrischen Experiments – auf die Insel. Fesselnd auch die Diskussionen des Gurus mit dem Dorfarzt über das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft. Doch "Capri-Revolution" ging bei der Preisverleihung leer aus.
 
Wie bedauerlich, dass das ebenso für Brady Corbets faszinierendes US-Drama "Vox Lux" gilt, das um die Überlebende eines Amoklaufs kreist, die später zur sinistren Popsängerin mutiert. In der Hauptrolle eine herrlich abgewrackten Natalie Portman als Gegentyp zur aalglatt-harmlosen "A Star is Born"-Ikone Lady Gaga. Schade um Corbets höchst eigenwilligen Wettbewerbsfilm, das giftig schillernde Gleichnis einer psychisch und moralisch entgleisenden Gesellschaft.

Dafür wurden gleich beide Western des Wettbewerbs ausgezeichnet – die auf dem indirekten Weg gescheiterter Hoffnungen natürlich auch vom heutigen Amerika erzählen. Jacques Audiard (Bester Regisseur – "The Sister Brothers") und Joel & Ethan Coen (Bestes Drehbuch – "The Ballad of Buster Scruggs") blicken auf die gebrochenen (bei den Coens gewohnt tragikomischen) Helden des Frontier-Mythos.

Dass im Wilden Westen, zumindest in seinen filmischen Repräsentationen, Frauen eine untergeordnete Rolle spielten – damit hat der ganze Schlamassel vielleicht einmal angefangen.