Kunstschau in Südindien

Bei der Kochi-Muziris-Biennale trifft global auf lokal

Die Kochi-Muziris-Biennale im südindischen Bundesstaat Kerala setzt auf Dialog und Debatte. Warum die Kunstschau wie eine ausgestreckte Hand wirkt, die einlädt, es noch einmal zusammen zu versuchen

Der Bundesstaat Kerala, am südlichen Zipfel des indischen Subkontinents gelegen, wurde im August vergangenen Jahres von einer Jahrhundertflut getroffen, Hunderte starben, Hunderttausende mussten ihre Häuser verlassen. Und im Januar dieses Jahres bildeten Hunderttausende Frauen in Kerala eine rund 600 Kilometer lange Menschenkette, um gegen ein Frauenverbot in einem Hindutempel und für Gleichberechtigung zu demonstrieren.

In diesen beiden Meldungen steckt bereits sehr viel davon, worum es bei der Kochi-Muziris-Biennale geht: die Herausforderungen des Klimawandels, die Verzweiflung der Landbevölkerung, Feminismus, den Kampf zwischen Emanzipation und populistischem religiösem Backlash. "Möglichkeiten für ein nicht entfremdetes Leben" hat Kuratorin Anita Dube ihre Ausstellung genannt. An den Eröffnungstagen wurde die 1958 in Nordindien geborene Kunsthistorikerin und Künstlerin nicht müde, zu erklären, was sie damit meint: die Suche nach einem Ort, wo man zusammen reden, lieben, tanzen kann, wo Gemeinschaft entsteht statt Gesellschaft sich spaltet. 

Dialog und Debatte sind für Dube ein gleichberechtigter Teil der Ausstellung, und so hat sie auf einem brachliegenden Gelände in der Altstadt von Kochi einen großen Pavillon bauen lassen, in dem während der gesamten Ausstellungszeit immer wieder Panels und Veranstaltungen stattfinden, bei freiem Eintritt. Am Eröffnungswochenende flitzen die kleinen Jungs aus der Nachbarschaft durch die voll besetzten Reihen, während vorn zwei Amerikanerinnen mit Gorilla-Masken über die Benachteiligung von Frauen im Kunstbetrieb reden: die Guerrilla Girls, mit denkbar ungünstigem Outfit angesichts der klimatischen Bedingungen im tropischen Kochi, aber einer Botschaft, die auf fruchtbaren Boden fällt, nicht nur weil just am Eröffnungswochenende Vorwürfe sexueller Belästigung gegen einen der größten indischen Kunststars, Subodh Gupta, öffentlich wurden. In dem idyllischen Garten vor der Tür des Debattenpavillons wird Curry aus einer alten Reissorte serviert - auch dies ein Kunstprojekt. Und an der Außenwand, wo die bunten Autorikschas vorbeifahren, die Schulkinder in ihren Uniformen vorbeischlendern und Frauen mit Saris Einkäufe nach Hause tragen, sind groß Zanele Muholis Porträts von Menschen aus der queeren Szene Johannesburgs plakatiert: in einer Gesellschaft, die sowohl Homosexualität als auch schwarze Haut mit Diskriminierung straft, ein starkes Statement.
Kochis Altstadt, als Insel vom Wachstum des Rests der Metro­pole abgeschirmt, war einer der ersten Handelsstützpunkte der Portugiesen und Engländer in Indien, Keimzelle der Kolonialisierung und Schmelzpunkt der Kulturen. Die Ausstellung breitet sich in alten Warenlagern aus, die zentrale Location Aspinwall House, im 19. Jahrhundert von einer britischen Handelsgesellschaft erbaut, zeigt allein als Ort, dass die Geschichte der Globalisierung älter ist als das 20. Jahrhundert. Wo früher Gewürze lagerten, hat Dube einen Ausstellungsparcours eingerichtet, in dem sich politische Botschaften und eigenwillige ästhetische Ausdrucksweisen auf absolut gelungene Weise die Waage halten. Aus europäischer Perspektive ungewöhnlich ist die Verwurzelung vieler Künstler im Ländlichen, in lokalen Handwerkstechniken: Priya Ravish Mehra (1961-2018) schuf berückend zarte Wandbilder und Skulpturen aus Textilien und Papier, die 1966 geborene Bildhauerin Shambhavi verwandelt Sensen und Wasserschalen in archaisch wirkende Skulpturen. Als Pate fungiert der Dokumentarfotograf Sunil Janah (1918-2012), der in den 40ern und 50ern das Leben von Bauernfamilien im ganzen Land in einem erkennbar kommunistisch beseelten, aber doch sensibel individualisierenden Stil festhielt. Sich wieder auf das Land, die Mutter Erde zu beziehen ist für die Kuratorin keine konservative Rückfallposition, sondern überlebenswichtig in Zeiten von Umweltzerstörung und spiritueller Unbehaustheit.
Dube, deren halb indisch, halb international besetzte Biennale nach eigenen Angaben die erste weltweit ist, auf der mehr Künstlerinnen als Künstler zu sehen sind, bezieht bewusst auch Autodidakten ein. Am erstaunlichsten vielleicht der Autorikschafahrer Bapi Das aus Kalkutta, der in seiner Freizeit mit atemberaubender Präzision Szenen seines Alltags mit Nadel und Faden in Stoff stickt. Schon fast ein internationaler Star ist dagegen die Künstlerin Shilpa Gupta, die in ihrer herausragenden Arbeit Textfragmente von Briefen aus dem Gefängnis von der Antike bis heute in einem dunklen Raum installiert hat, befestigt an zahllosen Mikrofonen, aus denen die vorgelesenen Texte in einer Soundcollage flüstern. Bei Sue Williamson dagegen blinzelt man gegen die Sonne: Die Künstlerin aus Kapstadt hat die vergessene Geschichte des Sklavenhandels zwischen Indien und Südafrika rekonstruiert. Bei einem vom Ausstellungssponsor BMW organisierten Panel am Eröffnungswochenende zum Thema "Art in Difficult Times" berichtet Williamson so eindrücklich von den Versuchen in ihrem Heimatland, nach den Verwüstungen der Apartheit zu irgendeiner Form der Versöhnung zu kommen, dass man im Publikum eine Stecknadel fallen hören könnte. In ihrer Installation in Kochi hat sie Namen von Verschleppten aus dem 17. Jahrhundert auf T-Shirts geschrieben, die jetzt am Meeresufer in der Sonne bleichen. Wo sollte solch ein heilendes Kunstritual gelingen, wenn nicht in Kerala, das sich "God's Own Country" nennt? 

Wie viele Biennale-Kuratoren arbeitet sich auch Dube an den politischen Problemen der Welt ab. Aber ihre Ausstellung ist gleichzeitig wie eine ausgestreckte Hand, die einen einlädt, es noch einmal zusammen zu versuchen.