Christopher Nolans "Oppenheimer"

Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu bauen

Christopher Nolan hat die Geschichte von J. Robert Oppenheimer, dem Vater der Atombombe, verfilmt. Das ästhetisch ausgefeilte Epos dreht sich um Erkenntnisdrang, Hybris und Gewissensbisse - lässt aber zuweilen eine Seele vermissen

Was ist eigentlich der passende Soundtrack für eine Atomexplosion? Standard dürfte der Superknall und das folgende tieffrequente Grollen sein. Wie wär’s mit endzeitlicher Musik? Dann empfiehlt sich das "Dies irae" aus Benjamin Brittens "War Requiem"; die lauten Stellen aus Verdis Totenmesse tun’s vielleicht auch. In seiner Kalter-Krieg-Farce "Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben" lässt Stanley Kubrick ein britisches Durchhaltelied aus dem Zweiten Weltkrieg ertönen: Vera Lynn singt "We’ll meet again", während reale Atompilze in Serie sprießen. Christopher Nolan spielt dagegen – gar nichts.

In "Oppenheimer" setzt der Ton aus, wenn die erste Atombombe beim Trinity-Test in der Wüste von New Mexico hochgeht, in den frühen Morgenstunden des 16. Juli 1945, dem Tag, als die Sonne zweimal aufging. Während visuell ein apokalyptischer Feuersturm in nachtdunkler Wüste entfacht wird, herrscht absolute Stille. "Few people laughed, few people cried, most people were silent", hat J. Robert Oppenheimer die historische Situation beschrieben. Im filmischen Reenactment ist es also ganz still – bis Atemgeräusche hörbar werden. Die Atmer stammen von Oppenheimer selbst, der von Cillian Murphy gespielten Hauptfigur des dreistündigen Biopics.

Der um ambitionierte Filmprojekte nicht verlegene Nolan hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Backstory des Manhattan Project – mit seinen vielen Beteiligten aus Wissenschaft, Militär und Politik – aufzurollen und zugleich tief in die Psyche seiner Zentralfigur Julius Robert Oppenheimer ("Vater der Atombombe") einzutauchen. Als Vorlage diente ihm Kai Birds und Martin J. Sherwins 2005 erschienenes Buch "American Prometheus: The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppenheimer". So hochkomplex der Stoff, so gigantomanisch die Umsetzung: Statt digital zu drehen, arbeitete der in London geborene Regisseur mit sündhaft teurem analogem 70-Millimeter-Material. Für einige Sequenzen ließ er sogar von Kodak einen Schwarzweißfilm herstellen, den es im hochauflösenden Analogformat vorher gar nicht gab.

Erkenntnisdrang, Hybris und Gewissensbisse

Die Geschichte von Oppenheimer und dem Manhattan Project dreht sich um Erkenntnisdrang, Hybris und Gewissensbisse. Schon von seiner deutsch-jüdischen Abstammung her fühlte sich Oppenheimer (1904-1967) verpflichtet, den Nazis bei ihrer (mutmaßlichen) Entwicklung einer Atombombe zuvorzukommen. Dieses ursprüngliche Ziel des US-Projekts verteidigte der Physiker auch bis zuletzt, allerdings machte er sich nach Hiroshima und Nagasaki für eine Ächtung von Nuklearwaffen stark.

Die Filmhandlung setzt im Zweiten Weltkrieg ein und kulminiert in der Zündung der ersten Testbombe. Nolan macht den Druck spürbar, der auf allen Beteiligten lastete. Wenn man "Oppenheimer" gesehen hat, fällt es weniger leicht, jene Wissenschaftler moralisch zu verurteilen, die die fatale Waffe in die Welt gebracht haben. Wie in seinem Kriegsfilm "Dunkirk" setzt Nolan auf eine Dramaturgie der unausgesetzten Spannung, wobei subjektive Momente aus der Sicht der Zentralfigur sich mit objektiven Mikrosequenzen abwechseln, dazwischen montiert Nolan noch zwei Verhandlungen aus der Nachkriegszeit hinein.

Das Ganze funktioniert wie ein kleinteiliges, unerbittlich tickendes Uhrwerk. Worin dann auch – einmal mehr – die Grenzen des technisch ausgefeilten und immer etwas seelenlosen Christopher-Nolan-Kinos sichtbar werden. Dass Oppenheimer zur Figur aus Fleisch, Blut und Verwundungen wird, verdankt sich vor allem Cillian Murphy, der den Wissenschaftler als zerbrechliche und zugleich willensstarke Figur verkörpert. Eine starke Performance.

Vom Bombenerfinder zum Nuklearskeptiker

Von der filmischen Konzeption her wirkt manche Visualisierung von Zwiespalt und Reue des Protagonisten aufgesetzt. Wo Nolan das Privatleben Oppenheimers (Emily Blunt als Ehefrau Kitty, Florence Pugh als Geliebte Jean Tatlock) mit seinen beruflichen Problemen verschneidet, kann es peinlich werden: Einen für Oppenheimer schamvollen Moment in einer Anhörung inszeniert Nolan als (imaginierten) sexuellen Akt mit Jean, während die restlichen Anwesenden Anzüge tragen.

Was Nolan angesichts der Komplexität der Handlung sehr gut gelingt, ist die Entwicklung der verschiedenen Charaktere und die teilweise Entfremdung voneinander, die nach Abschluss des Manhattan-Projekts zunimmt. Bis in die kleinsten Rollen ist "Oppenheimer" einprägsam besetzt: Tom Conti spielt Albert Einstein, Kenneth Brannagh Niels Bohr, Matthias Schweighöfer ist in kurzen Auftritten als Werner Heisenberg zu sehen. Mehr Raum nehmen Matt Damon als polteriger Offizier Leslie Groves und Benny Safdie in der Rolle des Physikerkollegen Edward Teller ein. Dieser wurde Anfang der 1950er zum "Vater der Wasserstoffbombe" und gilt als eines von mehreren Vorbildern für Kubricks beziehungsweise Peter Sellers’ Titelfigur aus "Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben".

Zum zentralen Gegenspieler Oppenheimers wird der dogmatische Antikommunist Lewis Strauss (großartig: Robert Downey jr.). 1947 wurde dieser Gründungsbeauftragter der Atomenergiekomission und setzte sich für den Bau der (noch mächtigeren) Wasserstoffbombe ein. Oppenheimer, schon zum Nuklearskeptiker geworden, war dagegen.

Nachvollziehbare Gründe für eine problematische Mission

Seine politische Neigung nach links wurde ihm in der McCarthy-Ära zum Verhängnis – in den 1950ern wurde dem zuvor gefeierten Atombomben-Pionier sogar vorgeworfen, er würde die Sicherheitsinteressen der USA hintertreiben. Oppenheimer wird als Kommunist diffamiert, als "politisch bedenklich" eingestuft und erst 1963 (dank John F. Kennedy) öffentlich rehabilitiert. Nolan zeigt einen greisen Wissenschaftler, der schließlich doch eine Auszeichnung der Atomenergiekommission entgegennehmen darf.

Der "Vater der Atombombe" wird bei Nolan am Schluss geadelt. Aus der Antikriegsperspektive ein problematisches Finale. Müsste der Erfinder der ultimativen Massenmordwaffe am Ende nicht als gebrochener Mann dastehen? Man zögert, so zu denken. "Oppenheimer" erscheint in einer historischen Phase, in der Russlands brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine einige Gewissheiten über Krieg und Frieden mächtig erschüttert hat. Es ist nicht leicht, den Stab über einer Person zu brechen, die zu einer problematischen Mission aufbrach – und doch sehr nachvollziehbare Gründe hatte.