Dass man einmal Mitleid mit Paris Hilton empfinden kann, weil ihr jemand in einem entscheidenden Moment das Rampenlicht stiehlt, ist einigermaßen überraschend. Im neuen Dokumentarfilm "This Is Paris", der coronabedingt auf Youtube veröffentlicht wurde, gibt es eine Szene von 2019, in der sich die Selbstvermarktungsexpertin aus Los Angeles auf einen DJ-Auftritt auf dem renommierten Tomorrowland Festival bei Antwerpen vorbereitet. Es sind nur noch wenige Minuten, bis sie auf die Bühne muss, und die heute 39-Jährige ist sichtlich nervös. Trotzdem kann ihr damaliger Freund Aleks Novakovic ihr weder Unterstützung noch Raum für ihre Anspannung geben. Vielmehr begegnet er ihrer (verständlichen) Gereiztheit mit einer eigenen großen Inszenierung von Beleidigtsein. Und zieht so in diesem empfindlichen Moment alle Aufmerksamkeit auf sich.
Laut Regisseurin Alexandra Dean wollte Paris Hilton diese Szene aus dem fertigen Film entfernen lassen. Nun ist sie doch drin - und eine der stärksten der ganzen Dokumentation, weil sie auf brutal anschauliche Weise zeigt, dass die Hingabe von 30.000 Tanzenden die Illoyalität einer nahen Person nicht auffangen kann. Und es ist einer der wenigen Momente, in dem man sieht, wie Paris Hilton eine Grenze zieht, um sich selbst zu schützen. Sie nimmt Aleks Novakovic sein Backstage-Armband weg.
Die Produktion "This Is Paris", die ihre Hauptfigur sechs Monate lang begleitet, ist nüchtern betrachtet kein guter Dokumentarfilm. Es gibt keine Widersprüche oder Ambivalenzen, keine Unsicherheiten. Alles soll "aufgehen", und zu jedem Satz, den Paris, ihre Schwester Nicky oder ihre Mutter Cathy Hilton äußern, gibt es eine haargenau passende Szene, um das Gesagte zu untermauern. Das Narrativ ist so einfach wie catchy: Ihr mögt die Marke Paris Hilton, die einst als blondes Luxus-Dummchen in der Serie "The Simple Life" am Landleben scheiterte, für oberflächlich halten. In Wahrheit gibt es jedoch ein dunkles Geheimnis, das alles erklärt und alles verändert. Dazu später mehr.
Ach, die ist gar nicht so?
Trotz der etwas bemühten "Niemand-weiß-wer-ich-wirklich-bin"-Litanei ist der Film aber gleich aus mehreren Perspektiven interessant. Als Blitzlicht- und modeaffine Partygängerin hat Paris Hilton um die Jahrtausendwende herum das Bild vom Star-Dasein verändert. Man konnte plötzlich ohne herausragende Fähigkeiten berühmt dafür sein, berühmt zu sein - und diesen diffusen Status in sehr viel Geld verwandeln. Paris Hilton wird heute oft als Prototyp einer Influencerin beschrieben (sie sieht es laut Film auch selbst so), sodass ihre Prä-Social-Media-Strategie heute prophetisch erscheint. Ihr kompromissloser Glitzer-Trash wird wieder ironisch genossen und ist im Grunde nah an der Performance-Kunst - vielleicht war er schon immer dafür gedacht, ihn retrospektiv zu würdigen. Es gibt erfolgreiche Instagram-Accounts, die Szenen aus "The Simple Life" mit Zitaten der großen Philosophen unterlegen.
Dass die erschaffene Kunstfigur dabei gar nicht "die echte Paris" ist, dass ihre Stimme gar nicht so piepsig klingen muss und sie nicht 24 Stunden am Tag "That's hot" in eine Kamera haucht, ist allerdings die langweiligste Erkenntnis des Films. Wenn uns die Jahrzehnte des Reality-TV etwas gelehrt haben sollten, dann dass die vermeintliche Realität von Marken bewohnt wird - woran Paris Hilton einen maßgeblichen Anteil hat. Ständig sagt Paris, dass sie "normal" reden will, sagt ihr die Regisseurin, dass sie "normal" gehen soll. Ohne je zu hinterfragen, was dieses "normal" eigentlich sein soll.
Bemerkenswert ist schon eher, wie die Dokumentation eine Veränderung im Verhältnis von Kunstfiguren zur Öffentlichkeit verdeutlicht. Lange schienen die Rollen in der Beziehung zwischen Stars und der Öffentlichkeit ziemlich klar verteilt zu sein. Die Reichen und Berühmten wahrten stets den perfekten Schein, die Makel und Abgründe gruben die gierigen Reporter aus. Noch bei Sängerin Britney Spears waren es Paparazzi-Fotografen, die ihren Wutanfall mit Regenschirm und das Abrasieren der blonden Schüttelmähne dokumentierten - und damit das sorgfältig vermarktete Popkätzchen-Image zerkratzten. Auch "This is Paris" erzählt vom früheren Paparazzi-Wahnsinn und der Medienhetzjagd nach dem geleakten Sex-Tape mit Rick Salomon. Wie Paris Hilton ganz richtig bemerkt, würde das öffentliche Echo heute anders ausfallen. Damals unterstellte man der Hotelerbin, den Skandal bewusst herbeigeführt und zum Marketing genutzt zu haben. Heute würde man (hoffentlich) anerkennen, dass das Vertrauen einer jungen Frau durch ihren Ex-Freund missbraucht wurde, der private Aufnahmen ohne ihr Einverständnis verkaufte. Immerhin musste er Hilton später an den Einnahmen beteiligen.
Das Wetteifern um Authenzität
Mit dem Social-Media-Gefühl der Nahbarkeit zwischen Stars und Fans hat sich die Dynamik von Public Relations verändert. Nun wetteifert man um Authentizität und die Kontrolle über das eigene Narrativ, teilt die Makel und die persönlichen Kämpfe, weil eine gut inszenierte "Echtheit" wertvoller ist als eine makellose Persona. Und so ist der "Ich-bin-gar-nicht-so-oberflächlich-wie-ihr-denkt"-Film ein eigenes Genre geworden, zuletzt eindrucksvoll zu beobachten bei der Taylor-Swift-Dokumentation "Miss Americana", in der die bisher eher kantenlose Sängerin als politisch Erweckte gezeigt wird und von Selbstzweifeln und Dunkelheit im scheinbar perfekten Leben berichtet.
Auch "This Is Paris" fällt in diese Kategorie. Die sorgsam aufgebaute Marke wird als Bürde umgedeutet, weil Hilton die Geister, die sie rief, nun nicht mehr los wird. Interessanterweise wird dabei eine Strategie benutzt, die Privilegien als Hindernisse interpretiert, die es zu überwinden gilt. Eine reiche weiße Familie mit Einfluss? Die Verbindungen zur gesellschaftlichen Elite? Alles eher Ballast als Karrieretreibstoff für "die echte Paris". Das Narrativ, sich von seinem goldenen Löffel im Mund befreien zu müssen, um für sich selbst sprechen zu können, benutzt übrigens auch die Präsidententochter Ivanka Trump regelmäßig. Doch in der Dokumentation geht es nicht um Politik, und auch einer Debatte über die (durchaus mögliche) feministische Lesart einer Paris Hilton windet sich die Hauptfigur wimpernklimpernd herum.
Die Geschäftsfrau als bedürftiges Mädchen
Im Laufe des Films wird aus der Millionenerbin schließlich ein verletztes Kind herausgeschält, dem in einem Internat mit Drill-Erziehung und Züchtigungsmaßnahmen schwere Misshandlungen widerfahren sind. Die traumatischen Folgen für eine Teenagerseele, die stundenlang eingesperrt und geschlagen wurde, kann man als Außenstehende nur erahnen. Erst ihr gebrochenes Schweigen und ein Wiedersehen mit anderen survivors der Schule scheinen Paris Hilton ein wenig Frieden zu geben.
Öffentlich über Trauma zu sprechen, kann bei der Dämonenbändigung helfen und für andere empowernd sein. Und natürlich kann ein solches Geständnis auch glamourös und wohlinszeniert sein wie bei Paris Hilton. Aber was man dem Film vorwerfen muss, ist, dass er Hiltons ganze Karriere mit diesem Trauma erklärt. Eine beschädigte Seele mit trust issues will eigentlich Liebe, Geborgenheit und Kinder, muss aber rastlos Geld verdienen (am besten eine Milliarde!) und eine Marke werden. Damit wird die Leistung einer ganz offensichtlich smarten Geschäftsfrau (17 Eigenmarken, eine Million Dollar Gage pro DJ-Gig) entwertet. Denn eigentlich ist sie tief im Inneren ja nur ein bedürftiges Mädchen. Aller Erfolg ist unzureichender Ersatz für das fehlende "Echte". Hier lässt sich die feministische Lesart dann gar nicht vermeiden - vor allem, weil das anscheinend gesetztere Familienleben von Schwester Nicky Hilton als unerreichtes Ideal inszeniert wird.
"This Is Paris" ist als intimer Enthüllungsfilm, der er sein will, nicht besonders ergiebig. Aber er sagt eine ganze Menge über unser Verhältnis zum Berühmtsein und den Wunsch nach einfachen Erklärungen. Die Geschichte vom kompensierten Schmerz wird der Figur Paris Hilton nicht gerecht. Dafür schillert sie zu sehr.