Refik Anadol, Sie haben gerade eben Ihren ersten TED-Talk gehalten in Anwesenheit von Bill Gates, die Ausstellung im Kurhaus in Baden-Baden wird zeitgleich eröffnet. Das hört sich nach Stress in dieser sonderbaren Zeit an?
Es sind merkwürdige Tage und ich bin noch etwas aufgerüttelt vom TED-Talk, obwohl er "nur" virtuell war. Aber ich versuche, mein Bestes zu geben und mit den großartigen Teams ist alles möglich.
Die Veranstalter der Ausstellung im Kurhaus in Baden-Baden, BBE, sind sehr kurzfristig an Sie herangetreten für das Projekt. Wie lange war die Vorbereitungszeit bis zur Eröffnung?
Vorneweg muss ich betonen: Deutsche Perfektion und Arbeitsdisziplin schätze ich immer wieder aufs Neue! Ohne Ulf Klenk, den Agenten und Kurator von art Next Level in Deutschland und das Team von Baden-Baden Events wäre es nicht möglich gewesen, das Projekt so schnell zu realisieren. Die Kunstwerke zu installieren ist nicht so einfach – es sind sehr "abenteuerliche" Konstruktionen, komplexe Technik ist involviert. Insgesamt hatten wir nicht mal ganz einen Monat. Die letzten drei Wochen waren entsprechend aufregend, aber auch mit viel Belastung verbunden.
Die wie genau aussah?
Zwar haben wir die Grund-Ideen bereits in der Vergangenheit umgesetzt, aber die Formatierung musste für Baden-Baden angepasst werden. Es braucht die richtige Balance für die Installationen, weil sie immer sehr individuelle Voraussetzungen haben. Hier mussten wir uns an die Kurhaus-Architektur anpassen, sodass alles nach dem Fluss des Raums designed ist. Solche Sachen ...
Ihre Arbeiten nehmen immer Bezug auf räumliche Bedingungen. Wo arbeiten Sie lieber: in einem Museum oder in alternativen Ausstellungsorten wie dem Kraftwerk in Berlin 2019 oder nun im Kurhaus Baden-Baden?
Was mich inspirierte, als ich sehr jung war, waren nicht Museen oder Galerien. No offense, ich liebe Museen und Galerien. Aber meine Fantasie wird nicht angeregt, wenn ich weiß, was sich hinter der Tür verbirgt. Ich finde keine Inspiration, wenn ich weiß, "da ist ein Kunst hinter der Tür". Oder wenn ich in ein Museum gehe und weiß, zwischen diesen weißen Wänden muss Kunst sein. Dieses Gefühl, diese architekturbedingte Vorstellung, finde ich zu sehr im 20. Jahrhundert verankert. Wir brauchen da etwas anderes. Kunst sollte für jeden sein, unabhängig von Alter oder Hintergrund – da setze ich auf Null Voreingenommenheit gegenüber dem Publikum. Und so etwas zu sagen, setzt einiges voraus: Es bedeutet, dass die künstlerischen Ideen für jeden Menschen greifbar sein müssen! Das ist ein sehr ambitionierter Grundgedanke ...
Und wie gehen Sie dem nach? Kommt das im Museum nicht zum Tragen?
Im Allgemeinen: Für Kunst gibt es ja ein riesiges Spektrum. Manchmal ist sie egozentrisch, es gibt einige sehr persönliche Belange, die verhandelt werden, manchmal eine subjektive Welt. Wenn du aber von einem heterogenen Publikum ausgehst, mit jeder Altersgruppe und jedem denkbaren Hintergrund, sollte die Idee eine kollektive Erfahrung sein, oder? Und bisweilen habe ich das Gefühl, dass diese Ideen manchmal nicht ins Museum oder in eine Galerie gehören. Sie gehören in die Öffentlichkeit, irgendwo Unerwartetes. Wie das Leben! Wie aufregend sind Dinge, wenn sie unerwartet sind, oder? Auf eine gute Weise ... hoffentlich. Und das ist das Gefühl in meiner Vorstellung, wenn ich an einen Raum, ein architektonisches Design oder die Arbeit mit KI denke. Kunst sollte nicht für Museen oder Galerien entstehen, sondern für überall.
Vielleicht auch besonders jetzt? Hat die Corona-Krise Einfluss auf Ihre Kreativität und Produktivität?
Beides. Ja, weil ich irgendwann – so wie alle, glaube ich – anfing, intensiver nachzudenken, inniger. Ich bin sehr vorsichtig und bedächtig, aber ich bin auch unsicher und habe meine Sorgen. Gleichzeitig kann ich mir die Zeit nehmen, um mir länger Gedanken zu machen, mich länger zu fokussieren und mir Dinge vorzustellen. Glücklicherweise bin ich in gesunder Verfassung und kann versuchen, das Beste daraus zu machen. Was sonst sollte ich tun? Es ist auch eine Einstellungsfrage, ein mind-set.
Angst ist ein wirksamer Faktor in der Wahrnehmung …
Sogar bei Technologie haben Menschen vergleichbare Sorgen: Was passiert, wenn etwas schief geht? Es ist dieselbe Idee: Es ist das Leben, es kann immer etwas schiefgehen. Aber irgendwas müssen wir machen, wenn wir können. Das meine ich mit dem mind-set. Also war diese Zeit trotzdem effektiv, auch wenn viele Projekte verschoben, abgesagt oder aufgehoben wurden. Es ist wie ein Chaos! Erst breitete sich das Virus aus, es folgten die Maßnahmen zur Eindämmung, etwas Lockerung und jetzt kommen die Probleme teilweise wieder. Alles ist absolut non-linear.
Dem aber mit einem reaktionsschnellen Team entgegengewirkt werden kann?
Als Studio arbeiten wird mit mehreren Skalen in mehreren Ländern zu einer gegebenen Zeit, aber in verschiedenen Zeitzonen. Es lässt sich nicht voraussagen, wann was passieren wird. Und diese Unklarheit ist sehr herausfordernd für einen Menschen, der sehr geordnet und organisiert arbeitet. Du musst mit der Zeit surfen. Du weißt als Künstler nicht, ob überhaupt Projekte zustande kommen, ob Dich jetzt jemand einlädt. Umso überraschender kam die Anfrage aus Baden-Baden. So früh habe ich eine Ausstellung nicht erwartet, aber als wir über das Konzept sprachen, war ich sofort überzeugt. Gerade jetzt. Mich erreichen etliche Zuschriften von Menschen, die gerade ihre Horizonte erweitern und raus aus ihren Wohnungen wollen, um etwas zu erkunden.
Inwieweit spiegelt sich das Wechselspiel zwischen Chaos und Kalkulation auch in Ihren Werken wider?
Ich würde sagen, ich benutze Daten als Pigmente in meiner Arbeit. Daten und Dateiformate sind Pigmente und diese Pigmente können verschiedenste Formen annehmen. Daten sind nicht nur Reihen von ein paar Zahlenhaufen, sondern immer Kalkulation. Rechen- und Computersysteme sind immer Kalkulation, das liegt ja irgendwie in der Natur der Sache. Aber es ist eher kontrollierte Zufälligkeit. So komme ich dann beispielsweise zu einzelnen Werken: Du hast dieses Interesse, wie eine Fragestellung in der Wissenschaft, und du weißt nicht, wohin sie dich führt. Diese Ambiguität ist eine Reise für sich. Kunst, Wissenschaft und Technologie haben genau das gemeinsam: den Glücksfall der Entdeckung. Wenn du den Grenzgang der Vorstellungskraft mit dem des technisch Möglichen zusammenführst und diese beiden Welten aufeinanderprallen, dann hast du genau diesen Zufallsfund. Dieser Moment lässt sich nicht so leicht kalkulieren. Aber wenn er passiert: Heureka!
Das Projekt in Baden-Baden trägt den Namen "Digital Dreams" und umfasst bereits realisierte Arbeiten wie "Nature Dreams" oder "Melting Memories". Handelt es sich um eine nostalgische Ausstellung in schweren Zeiten?
Ich glaube schon. Man darf das nicht falsch verstehen: Es handelt sich nicht um alte Werke – die Algorithmen sind vielleicht ein Jahr alt oder gerade mal 2019 entstanden. Aber die Idee, Maschinen Realität simulieren zu lassen, ist eine sehr gängige Vorstellung mit langer Tradition. Und sie führt letztlich zu der Frage: Wenn eine Maschine lernen kann, kann sie auch träumen? In der gegenwärtigen Welt trainiert Künstliche Intelligenz permanent Maschinen. Diese Maschinen lernen wie wir, manchmal sogar besser als wir! Je mehr dieser Prozess voranschreitet, umso mehr drängt sich diese Frage auf. Maschinen können Gedanken und Gefühle simulieren, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Was passiert, wenn Maschinen lernen, die Oberflächenbewegung von Wasser zu simulieren oder wenn sie Landschaften auf der Welt verinnerlicht haben? Maschinen, die in Form von Landschaften träumen ... Oder was passiert, wenn wir KI nutzen, um den Moment des Erinnerns zu visualisieren? Das sind sehr zeitlose Fragen. Und das sind erst die ersten Ausformungen dieser Spekulationen!
Gefühle kalkulieren oder zu simulieren hat aber keinen guten Beigeschmack ...
Nein, aber das ist auch nicht meine Denkweise! Ich nutze nicht Emotionen als Variable für Berechnungen, sondern Erinnerungen. Hinzukommt, dass es sich nur um kollektive Erinnerungen handelt, keine individuellen Erinnerungen. Beispielsweise haben wir für "Melting Memories" mit den EEG-Daten von über 700 Menschen gearbeitet. Wir wissen nicht, wem die Daten ursprünglich gehörten, aber wir wissen, dass sich jemand erinnert. Wir sehen, dass sich irgendjemand zu diesem bestimmten Zeitpunkt ihres oder seines Gehirnes bediente, um sich zu erinnern. Und wir nehmen nur diesen Moment des Erinnerns und versuchen dieses spezifische Bild in eine Art Skulptur zu transformieren. Das ist unser Interesse und da gibt es auch keine Datenschutzverletzung. Das ist ein anderes Thema.
Zumindest als Untertitel des Werkes "Bosporus" habe ich den Begriff schon mal gelesen: Datenskulptur. Was impliziert die Idee der Datenskulptur für Sie?
Was ich Skulptur nenne, ist hauptsächlich ein Spiel mit Architektur. Es geht darum dimensionale Erfahrungen zu schaffen, architektonische Erweiterungen, wie man auch im Kurhaus sehen kann. Beides ist je ein Engramm, eine Art Gedächtnisspur und damit eine Datenskulptur. "Melting Memories" beispielsweise ist eine großformatige Multimediawand, die gleichzeitig die tatsächliche, architektonische Skalierung einer Wand in einer Umgebung wiedergibt. Oder in "Bosporus" sieht man eine gigantische Bodenprojektion, die Menschen hoffentlich dazu verleitet, innezuhalten, zu meditieren und eine innere Ruhe zu finden. Es hinterlässt seine (physischen) Spuren im Bewusstsein, formt es mit.
Und die Datenpigmente?
Wenn ich die Vorstellung von Daten als Pigment behandele, dann sind wir eher bei einem Datengemälde. Es ist eine zweidimensionale Erfahrung, wenn die Idee eine screenartige Wand bespielt. Wie eine Leinwand! Dann spreche ich eher von Datengemälden und versuche dieses Medium zu repräsentieren. Nur, dass diese Farbe nie trocknet und immer im Wandel ist. Wie das Leben, haha!
Ihr Werk impliziert Nostalgie und doch gibt es keine Spannung zwischen dem Gefühl und der hochmodernen, technischen Grundlage Ihrer Arbeit. Würden Sie sagen, Ihre Kunst ist konfrontativ?
Ist sie, aber zuallererst erscheint sie als flüchtige Pigmentierung; oder ich habe auch schon die Bezeichnung "Daten-Dramatisierung" gehört. Es gibt ein Narrativ! Wenn man sich ausreichend darauf einlässt, findet man auch ein Narrativ. Zumindest bekomme ich von vielen Menschen das Feedback, dass sie sich den Datenbildern und -skulpturen in einer Weise verbunden fühlen, Anschluss finden. Wenn ich einem Algorithmus oder einer KI dabei zusehe, wie sie Gedächtnismuster konstruiert, dann beobachte ich eigentlich eine Maschine, die etwas aus einem menschlichen Bewusstsein übersetzt. Und diese Beobachtung ist eine Konfrontation mit dem eigenen Mensch-Sein und fordert zur selben Zeit die Vorstellungskraft. Diese Gleichzeitigkeit macht sie vielleicht zugänglich, es ist eine sehr nuancierte Balance. Wir sind alle einzigartig, alle haben eine eigene Herangehensweise an das Leben und ein differentes Verständnis von Realität. Deshalb kann ich nur hoffen, dass jeder seine eigenen Erkenntnisse daraus gewinnt. Aber im Kern stehen immer Daten und automatisierte Rechensysteme.
Apropos Zugänglichkeit: Auf Instagram sind Sie bereits durch die Decke gegangen, Social Media verhalf Ihnen allgemein zu einem riesigen Publikum und macht Ihre Kunst auch leichter erreichbar. Welche Möglichkeiten sehen Sie für Medienkunst im Vergleich zu beispielsweise Malerei im Umgang mit neuen Medien? Speziell auch in dieser besonderen Zeit?
Medienkunst, beziehungsweise die Nutzung von Technologie und Wissenschaft im Kontext von Kunst, ist bald eine fünf bis sechs Jahrzehnte lange Reise. Ich bin nicht der erste, ich bin auch nicht der letzte Medienkünstler. Kunst hat auch immer schon Technologie reflektiert oder wurde inspiriert von ihr. Künstlerinnen und Künstler haben sich immer von der Realität und der Gesellschaft anregen lassen. Aktuell bewegen wir uns in dieser von Maschinen, Rechensystemen und Algorithmen umgebenen Welt, alles wird von allen Seiten kalkuliert und vorhergesagt. Jeder, der sich dessen bewusst ist, versteht sehr genau, dass Medienkunst im Hier und Jetzt repräsentativ ist.
Und diese Repräsentation geht auch über die Kunstwelt hinaus?
Es ist, was uns auch im Alltag umgibt, was uns Tag für Tag widerfährt. Malerei, eine Bronzeskulptur oder ein anderer traditioneller Installationskontext bedient sich üblicherweise traditioneller Medien, auch wenn die zugrundeliegende Idee gegenwärtig ist. Gegenwärtig sind aber vor allem: Algorithmen und Computersysteme. Und die Repräsentation dieser wird bei mir nur dadurch ausgelöst, dass ich mich der Tools bediene, die ich mit diesen Erfahrungen in Verbindung setze. Beispielsweise ist ein Algorithmus, der dazu designed wurde, meine Gesichtsform zu erkennen oder ob ich eine Brille trage, genauso dazu im Stande, Muster in der Natur zu erkennen. Mit so einem Code kann ich nahezu realistische Alpen re-kreieren oder den Wald bei Baden-Baden. Ich glaube nicht, dass ein Gemälde oder eine realistische Malerei so etwas können.
Ein Plädoyer für die Technik?
Deshalb bin ich hier und spreche mich für ein Empowering des Maschinenbewusstseins aus. Maschinelle und künstliche Intelligenz sind etwas derart Profundes, wenn man sich damit erst einmal auseinandersetzt. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Maschine, die quasi alles lernen kann, was Sie ihr vorsetzen. Das heißt, Sie sind die Bias dieser Maschine oder der Grund für diesen spezifischen (Maschinen-)Traum. Malerei bedient sich Pigmenten und der Vorstellungskraft des menschlichen Bewusstseins. Als Medienkünstler sage ich, ich verwende Daten als Pigmente. Dann ist meine Malerei der "Denkpinsel", den ich in das maschinelle Bewusstsein tunke und damit dann male. Diese Analogie ist der signifikante Unterschied zwischen dem menschlichen Bewusstsein und seinem Hang zu Pigmentierung versus kollektive Erinnerung, maschineller Intelligenz und der Kollaboration von beidem.
Eine letzte Frage mit einem möglicherweise optimistischen Ausblick für die Krise. Speziell in dieser Zeit digitalisieren Museen ihre Sammlungen oder bieten virtuelle Rundgänge an. Welche Chancen sehen Sie darin, Kunst durch Formate oder Medien zugänglicher zu machen?
Ich glaube, die Baden-Badener Ausstellung ist dafür ein perfektes Beispiel. Im Kurhaus findet man Struktur, man findet Halt, man findet Sicherheit und kann der Umgebung bewusst Zeit widmen. Man kann sich um die Reaktion anderer Menschen sorgen, ihnen aber auch den nötigen Raum bieten. Und ich glaube, wir müssen lernen, mit der Situation und auch mit folgenden umzugehen. Wir können weder das Leben noch die Realität ignorieren. Mit dem Virus müssen wir lernen umzugehen, zumindest bis ein Impf- oder Heilmittel dafür gefunden ist. Deshalb bin ich von dem Model des Baden-Badener Erlebnisses so angetan. Ich hoffe auch, dem Geiste des Kurhauses entsprechend, dass die Kunst ihren Beitrag zum Heilungsprozess leistet – ich bin überzeugt, dass Kunst heilende Wirkung hat. Und deshalb brauchen wir sie mehr denn je. Aktuell sind wir diese einsamen Entitäten in unserer eigenen Realität. Dinge, die uns wichtig sind, werden klar: Meine innere Stimme schreit: "Ich will rausgehen!" Aber in einem Kontext, mit einem Sinn – nicht nur ziellos umherziehen. Und diese einzigartige, positiv verbindende und inspirierende Erfahrung lässt sich in Baden-Baden sehr gut nachvollziehen. Wir haben hier diese poetische Kollaboration zwischen Maschine und Künstler, deren Zeuge man in einer sicheren und weiträumigen Umgebung werden kann. Sehr treffend kuratiert und zielsicher organisiert. Und ich glaube, es sind genau diese Dinge, die wir in der Kunstwelt brauchen: dieses Level an Präzision, Vertrauen und Erfahrung. Wenn all das im richtigen Verhältnis zusammenkommt, dann überlebt die Kunstwelt jede Krise. Dann kommt sie sogar gestärkt aus dieser Krise hervor und eröffnet Menschen die absurdesten Inspirationsquellen zur Erkundung des Rests der Welt.